Das wirtschaftliche Erbe Angela Merkels

Die Bilanz nach 16 Jahren Kanzlerschaft zeigt, dass die Erfolge der deutschen Wirtschaft selten Merkels Verdienst sind. Viele Herausforderungen sind nicht bewältigt.

Baukran der Container stapelt
Deutschland ist der wirtschaftliche Motor Europas. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Erfolg. Die deutsche Wirtschaft steht solide da. Allerdings ist dies noch kein Ausweis einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik.
  • Reformen. Merkel profitierte von den Wirtschaftsreformen unter Gerhard Schröder. Ihr sozialdemokratischer Vorgänger wurde dafür abgewählt.
  • Haushalt. Der Anstieg bei der Beschäftigung brachte höhere Steuereinnahmen. Die öffentliche Verschuldung ging zurück. Die Niedrigzinspolitik der EZB erledigte den Rest.
  • Zukunft. Herausforderungen gibt es noch zur Genüge. Hohe Steuerlast, Digitalisierung, EU-Schuldenaufnahme und Energiepolitik sind nur einige.

Am 26. September 2021, wenn in Deutschland ein neues Parlament gewählt wird, ist Angela Dorothea Merkel seit genau 16 Jahren und 16 Tagen Bundeskanzlerin. Und sie wird wohl noch einige Wochen, vielleicht sogar Monate, Regierungschefin bleiben, denn die Bildung einer neuen Regierung (wahrscheinlich auf der Grundlage einer Koalition aus drei Fraktionen) wird sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen.

Wie gut war die lange Regierungszeit von Angela Merkel für die deutsche Wirtschaft? Wie hoch ist die Wertschöpfung, die die Unternehmen der europäischen Industrie unter der Politik der Bundeskanzlerin erwirtschaften konnten? Wie ist es um die Arbeitskräfte bestellt? War ihr Umgang mit den Staatsfinanzen verantwortungsvoll? Die Bilanz zeigt Erfolge, aber auch unbewältigte strukturelle Herausforderungen.

Es liegt auf der Hand, die deutsche Wachstumsleistung seit 2005, als Frau Merkel das Kanzleramt betrat, zu betrachten und mit dem Rest der Welt (gemessen am OECD- oder EU-Durchschnitt) und den Hauptkonkurrenten zu vergleichen: China und die Vereinigten Staaten.

Die deutsche Wirtschaft ist in den ersten drei Jahren der Ära Merkel recht beachtlich gewachsen. Nachdem sie von der tiefen Rezession im Jahr 2009 vergleichsweise hart getroffen worden war, konnte sich die Ökonomie danach außerordentlich stark erholen. Ab 2011 wuchs die Wirtschaft fast 10 Jahre lang bescheiden, aber stetig, bevor sie durch die Coronavirus-Krise einen zweiten Rückschlag erlitt.

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Zahlen & Fakten

Natürlich sind die BIP-Zahlen nicht das direkte Ergebnis der Leistung einer Führungsperson. Es sind die Unternehmer und Arbeitnehmer, die einen Mehrwert schaffen. Aber ein Regierungschef kann diese Impulse hemmen oder fördern. Als Angela Merkel ihr Amt antrat, galt Deutschland gemeinhin als „der kranke Mann Europas“.

Das Wirtschaftswachstum des Landes betrug von 1998 bis 2005 durchschnittlich nur 1,2 Prozent pro Jahr, während die Arbeitslosenquote 2005 auf alarmierende 11,1 Prozent anstieg. Dieses Debakel veranlasste Frau Merkels Vorgänger, den Sozialdemokraten Gerhard Schröder (1998-2005), eine Reihe von Reformen einzuleiten, die darauf abzielten, die Verkrustung des deutschen Arbeitsmarktes und die Leistungen der Sozialsysteme zu verringern. Das übergeordnete Ziel war die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft (insbesondere des Exportsektors); das Programm umfasste auch Steuererleichterungen für Unternehmen.

Die bemerkenswerteste Leistung der Wirtschaft während Angela Merkels Kanzlerschaft war auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Hatte Deutschland bis 2007 noch die höchsten Arbeitslosenquoten im Vergleich zum EU- oder OECD-Durchschnitt und zu den USA oder China, so weist es heute die niedrigsten Werte auf.

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Zahlen & Fakten

Der größte Erfolg in den 16 Jahren der Amtszeit von Bundeskanzlerin Merkel ist jedoch auch auf andere Faktoren zurückzuführen: die mutigen Reformen ihres sozialdemokratischen Vorgängers (der infolgedessen die Wahlen 2005 verlor) und das bewährte deutsche System der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das zu entpolitisierten, pragmatischen Verträgen und Vereinbarungen führt und dem Schutz der Beschäftigung Vorrang vor „Klassenkampf“-Ritualen einräumt.

Es ist derzeit weniger das Problem Arbeit zu finden, vielmehr fehlt es an qualifizierten Arbeitssuchenden.

Andere Faktoren wie die Unterbewertung des Euro, die gestiegene Nachfrage aus China nach deutschem Maschinenbau und der demographische Wandel spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. In jedem Fall befindet sich der deutsche Arbeitsmarkt derzeit in einer Phase, in der es weniger ein Problem ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Vielmehr fehlt es an qualifizierten und willigen Arbeitssuchenden.

Mehr noch als der hauptsächlich exportbedingte Anstieg des BIP hat der allgemeine Beschäftigungsanstieg dazu beigetragen, dass die öffentlichen Finanzen gesünder geworden sind. Da mehr Menschen als Nettosteuerzahler und Beitragszahler in die deutsche Wirtschaft integriert wurden, schrumpfte die öffentliche Verschuldung ab 2010 – auch ohne ernsthafte Bemühungen um eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben.

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Zahlen & Fakten

Doch auch der Rückgang der öffentlichen Verschuldung im Verhältnis zum BIP um 22 Prozentpunkte zwischen 2010 und 2019: Er war nicht unbedingt Merkels Verdienst. Vielmehr waren es die deutschen Steuerzahler und die Europäische Zentralbank (EZB), die dazu beigetragen haben, dass die öffentlichen Ausgaben mit der BIP-Rate wuchsen (bei geringeren Zinskosten für die Staatsverschuldung) und somit eine sehr hohe Quote der öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum BIP von rund 42 Prozent aufrechterhalten wurde.

Dennoch sollte man die deutsche Haushaltslage mit ähnlichen Ländern wie Frankreich vergleichen, das bei Merkels Amtsantritt im Jahr 2005 fast die gleiche Schuldenquote (67 Prozent) aufwies, aber im Jahr 2021 bei rund 100 Prozent liegt. Im Gegensatz dazu könnte die deutsche Staatsverschuldung bald wieder auf das Niveau von Merkels Amtsantritt zurückgehen.

Angela Merkel geht, Ansicht von hinten
Nach 16 Jahren im Kanzleramt verlässt Angela Merkel die politische Bühne. © Getty Images

Insgesamt haben drei Faktoren dazu beigetragen, dass die Kanzlerin und ihre vier Regierungen (drei mit den Sozialdemokraten, eine mit den wirtschaftsliberalen Freien Demokraten) mit großzügigen, aber relativ stabilen Haushalten arbeiten konnten:

  • Die extreme Zinssenkung: 2005 betrugen die Kosten für die öffentliche Verschuldung 2,8 Prozent des deutschen BIP. 2019 sind es 0,8 Prozent, und sie sinken weiter, da die öffentliche Neuverschuldung sogar mit Negativzinsen finanziert werden kann.

  • Die Schuldenbremse: Diese 2009 beschlossene und seit 2011 wirksame Verfassungsänderung hat zweifellos dazu beigetragen, die übliche Neigung der Politiker zu zügeln, alles Geld auszugeben, das sie in die Finger bekommen. Wolfgang Schäuble, Merkels treuer und dienstältester Finanzminister, hielt mehr als die Kanzlerin an diesem Grundsatz eines ausgeglichenen Haushalts fest. Er hatte sicherlich ein Auge auf die anderen Mitglieder der Eurozone, die zwar 2012 den „Fiskalpakt“ (eine Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Haushalt) unterschrieben haben, aber viele von ihnen halten sich kaum daran… bis heute.

  • Die anhaltend hohe Besteuerung: Während der 16-jährigen Amtszeit von Bundeskanzlerin Merkel gab es nur ein einziges Mal eine effektive Steuersenkung für Unternehmen: 2008 wurde die durchschnittliche Unternehmenssteuer von 38 auf 30 Prozent gesenkt. Seitdem ist Deutschland indes wieder zu einem der am stärksten belastenden Steuersysteme weltweit geworden – nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Selbstständige und Arbeitnehmer. Auch dieser letzte Aspekt der fiskalischen Solidität belastet Angela Merkels Wirtschaftsbilanz nachhaltig.

Das eigentliche Wirtschaftswunder ist, dass Deutschland trotz hoher Steuerbelastung seine Produktivität verbessern konnte.

Deutschlands Position als „wirtschaftliches Kraftzentrum“ in Europa mag sich zumindest im Vergleich zu seiner früheren Position als „kranker Mann Europas“ zu Beginn des Jahrhunderts verbessert haben. Als globaler Akteur ist das Land jedoch nach 16 Jahren Amtszeit von Frau Merkel nicht einmal in der Nähe der Pole-Position. Ein Blick auf die globalen Wettbewerbsindizes zeigt, dass es noch viel zu tun gibt. Im letzten IMD World Competitiveness Report rangiert Deutschland auf Platz 15 von 64 untersuchten Ländern. Als die Bundeskanzlerin ihr Amt im Jahr 2005 antrat, lag Deutschland noch auf Platz 23 von 60 Ländern. Dies ist nur ein leichter Fortschritt, der größtenteils auf günstige Umstände zurückzuführen ist, auf die die Regierung keinen Einfluss hat (siehe oben).

Am besorgniserregendsten ist vielleicht, dass von dem gestiegenen Pro-Kopf-BIP nicht viel bei denjenigen geblieben ist, die hart dafür gearbeitet haben. OECD-Zahlen zeigen, dass von einem Euro Arbeitskosten eines durchschnittlichen Arbeitnehmers (Alleinverdiener ohne Kinder) nach Abzug der Einkommensteuer sowie der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung kaum mehr als 50 Cent als Nettoeinkommen übrig bleiben.

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Zahlen & Fakten

Das eigentliche Wirtschaftswunder besteht darin, dass Deutschland in den letzten 16 Jahren der Regierung Merkel unter dem Regime dieser extremen Besteuerung des Faktors Arbeit die Beschäftigung noch um rund fünf Millionen Menschen steigern konnte. Ein Teil der Erklärung liegt darin, dass die deutschen Unternehmer an hohe Arbeitskosten gewöhnt sind und seit Jahrzehnten Wege gefunden haben, die Produktivität zu verbessern, in wichtigen Bereichen innovativ zu sein und in die ganze Welt zu exportieren. Auch der billige Euro hat geholfen.

Ob diese Bedingungen bestehen bleiben, ist heute höchst fraglich. Das Erbe von Angela Merkel und ihren verschiedenen Kabinetten ist in mehrfacher Hinsicht nicht vielversprechend.

  • Digitalisierung: In Bezug auf die Fähigkeit und Bereitschaft, digitale Technologien als Treiber für Produktivität und Innovation in Wirtschaft und Verwaltung zu nutzen und zu erforschen, hinkt Deutschland ständig hinterher. Im Jahr 2015 wurden einige Schritte in Richtung E-Government unternommen – mit dem Ziel, diese bis 2032 abzuschließen! Und als das Coronavirus die Schulen zur Digitalisierung zwang, hatten viele Schwierigkeiten, zuverlässige Datenverbindungen herzustellen, Datenschutzbestimmungen einzuhalten oder sogar E-Mail-Konten für Lehrer einzurichten.

  • Energiepolitik: Die Merkel-Regierungen hatten nie eine klare und konsistente Meinung zur Energiepolitik. Moderne Kohlekraftwerke wurden erst subventioniert und dann zur vorzeitigen Stilllegung gezwungen. Die Atomkraftnutzung wurde erst verlängert und nach dem Fukushima-Unfall 2011 überstürzt zum vorzeitigen Ausstieg gezwungen. Erneuerbare Energien werden mit enormen Kosten subventioniert – auch dort, wo sie wenig sinnvoll sind. Bürokratische Hürden und Bürgerproteste haben den Ausbau der Energienetze verhindert. Das hat Deutschland zu einem der teuersten Standorte für den Energieverbrauch in Privathaushalten und Industrie gemacht. Das Land ist gleichwohl kein Vorbild für eine effektive CO2-Reduzierung oder eine wirksame Koordinierung seiner Entscheidungen mit den europäischen Nachbarländern geworden.

  • Europa: In vielen Berichten über das Vermächtnis von Bundeskanzlerin Merkel als „europäische Führungspersönlichkeit“ wird darauf verwiesen, wie sie viele Krisen auf der europäischen Bühne gemeistert hat. Während der mehrjährigen Euro-Krise, die 2009 begann, verbrachte sie viele Nächte mit Verhandlungen und schaffte es, die Euro-Zone zusammenzuhalten – auf eine Art und Weise, die gegen die prinzipielle Meinung ihres eigenen Finanzministers und den Rat vieler, wenn nicht sogar der meisten deutschen Wirtschaftswissenschaftler verstieß. Mit der letztjährigen Einigung auf ein 750-Milliarden-Euro-Paket „NextGenerationEU“ zur Aufnahme von Krediten und Zuschüssen auf den Kapitalmärkten, das die ausstehende Verschuldung der Union um ein Vielfaches – um einen Faktor von etwa 15 – erhöht und die bisher größte auf Euro lautende Emission von Schuldtiteln auf supranationaler Ebene darstellt, ermöglichte die Regierung Merkel eine dramatische Veränderung der finanzpolitischen Steuerung der EU. Das alte Bild der Kanzlerin als sparsame „schwäbische Hausfrau“, die auf ausgeglichene Haushalte pocht, trifft wohl oder übel nicht mehr zu.

Zukünftige deutsche Regierungen und Wähler werden harte Enscheidungen treffen müssen.

  • Strukturreformen: Dieses Schlagwort war früher die Hauptforderung, die nicht nur Deutschland, sondern auch die „Troika“ aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und EZB an Länder richtete, die EU- (und deutsche) Währungshilfe benötigten. Viele der Reformen, die notwendig wären, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Tragfähigkeit der staatlich organisierten sozialen Sicherungssysteme zu erhöhen, wurden jedoch in Deutschland selbst nicht durchgeführt – auch nicht in den 16 Jahren unter Angela Merkel. Wie an dieser Stelle bereits analysiert, sind die deutschen sozialen Sicherungssysteme dringend reformbedürftig. Da die Alterung der Bevölkerung unaufhaltsam ihren Tribut fordert, sind private und öffentliche Renten, die fast ausschließlich auf einem Umlageverfahren beruhen, dazu verdammt, an ihren alten Versprechen zu scheitern. Künftige deutsche Regierungen und Wähler werden harte Entscheidungen treffen müssen.

Bundeskanzlerin Merkel wird diese schwierigen Entscheidungen ihren Nachfolgern überlassen. Sie hat es immer vorgezogen, unmittelbare Probleme auf pragmatische Weise zu lösen, anstatt langwierige Probleme mit einem visionären Plan anzugehen. Harald Martenstein, ein Berliner Kolumnist, witzelte einmal über Frau Merkel: „Was sie wollte, ist schwer zu sagen. Aber sie hat vieles davon erreicht.“

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Conclusio

Angela Merkel konnte auf die Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder aufbauen und nach der Krise 2009 wuchs die Wirtschaft auf stetigem Niveau. Die Niedrigzinspolitik der EZB, die hohen Steuereinnahmen und die Schuldenbremse waren ausschlaggebend für einen ausgeglichen Haushalt. Deutschland ist nach wie vor das wirtschaftliche Kraftzentrum Europas und profitiert von seiner Produktivität und Innovationskraft. Die deutsche Wirtschaft steht nach Angela Merkel solide da, was aber nicht am Reformeifer der Kanzlerin lag. Herausforderungen gab und gibt es für die deutsche Wirtschaft genug. Unpopuläre Entscheidungen werden die nachfolgenden Bundesregierungen treffen müssen.