Deutschland, das kannst du besser

Die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe der neuen Bundesregierung Deutschlands wird sein, die Digitalisierung von Staat und Verwaltung voranzutreiben und ins 21. Jahrhundert zu führen. Das ist möglich, wenn alle an einem Strang ziehen.

Kabel ohne Anschluss
Es gibt viele lose Enden bei der Digitalisierung und keine treibende Kraft in Deutschlands Ämtern. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Zu analog. Amtswege in Deutschland sind weit davon entfernt, digitalisiert zu sein. Das hat die Corona-Pandemie gezeigt.
  • Wenig Transformation. Kompliziertes Prozessdenken verhindert eine Orientierung an den Bedürfnissen der Bürger. Die Folge ist bürokratisches Dickicht.
  • Fehlende Ambition. Behörden können der Digitalisierung wenig abgewinnen. Es gibt keine klaren Zuständigkeiten für Reformen.
  • Neues Mindset. Das Verwaltungshandeln ist darauf ausgerichtet, das Risiko des Scheiterns zu minimieren. Notwendig wären Freiräume, in denen auch Fehler zugelassen sind.

Der norddeutsche Unternehmer Marco Scheel hatte ein Anliegen an das zuständige Amt, das eigentlich ganz bescheiden war. Er wollte ein paar alte Ställe modernisieren, um Schafwolle für sein nachhaltiges Textillabel zu produzieren. Doch er machte die Rechnung ohne die deutsche Bürokratie: „Das Ding ist: Ich muss hier eine Umnutzung machen, denn das ist hier landwirtschaftlich genutzt. Die Umnutzung findet auf dem Formular des Bauantrags statt. Ein Bauantrag im Außenbereich wird aber erst einmal abgelehnt. Jetzt soll das Amt den Flächennutzungsplan ändern, dann soll die Gemeinde einen Bebauungsplan machen, und dann kann ich einen Bauantrag stellen.“

Der Wutausbruch des Unternehmers Marco Scheel aus Mecklenburg-Vorpommern ging im Februar 2021 viral. Er echauffierte sich über die deutsche Bürokratie. Offenbar hatte er damit einen Nerv getroffen, denn dieses Problem gärt schon lange.

Alle Jahre wieder misst der „E-Government-Monitor“, wie es um die Digitalisierung des deutschen Staates steht. Die Schlagzeilen der letzten fünf Jahre lauten im unverfälschten Original:

  • 2015: „E-Government kommt nicht voran in Deutschland“
  • 2016: „E-Government kommt nicht voran“
  • 2017: „Öffentliche Verwaltung kommt nur schlecht voran“
  • 2018: „Potenziale bleiben ungenutzt“
  • 2019: „Deutschland weiterhin mit Aufholbedarf“
  • 2020: „Keine Digitalisierung durch Corona“
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Zahlen & Fakten

Kennen Sie noch den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray? Da steckt der Protagonist in einer Zeitschleife fest. Wenn er morgens aufwacht, wiederholt sich derselbe Tag immer wieder aufs Neue. So geht es mir, wenn ich an die Digitalisierung in Deutschland denke. Wir kommen nicht vom Fleck.

Unfit für digital

Viele Experten behaupten heute allerdings, jetzt seien wir endlich aufgewacht: Die Behörden hätten in der Covid-19-Krise verstanden, dass Digitalisierung lebenswichtig ist. Die Realität 2021: Die Gesundheitsämter erhielten die Meldungen der Infektionszahlen per Fax. Für die Corona-Warn-App machte man Millionen locker, nur um am Ende für viel Geld eine weitere App des privaten Startups „Luca“ zu kaufen, deren IT-Sicherheit freilich eine Katastrophe war.

Das digitale Schulsystem brach in weiten Teilen zusammen, Online-Unterricht gab es nur für sechs Prozent der Schüler, und die Länder riefen nicht einmal die Bundesmittel für den digitalen Bildungspakt ab, weil das Antragswesen selbst für die staatlichen Behörden zu verworren war.

Zahllose Beispiele belegen die digitale Trägheit des deutschen Staates. Auf Twitter etwa berichtete eine Frau, sie habe nach einem positiven Covid-19-Schnelltest das Gesundheitsamt informiert. Dort sagte man ihr: Sie möge bitte mit der Bahn (!) zum Arzt fahren und einen PCR-Test machen, denn Schnelltests seien nicht so ernst zu nehmen. Später sandte sie eine Liste mit engen Kontakten per Mail an das Gesundheitsamt, um bei der Nachverfolgung zu unterstützen. Das Amt aber rief sie an und bat, die Liste nochmal per Post (!) zu schicken, weil man die Datei nicht öffnen könne. Zugleich musste ihr Freund, der hohes Fieber hatte, seinen PCR-Test selbst bezahlen, weil es laut Arzt keinen Grund für einen Test gab.

Ohne gemeinsame Mission

Wenn wir den Anspruch haben, gut zu funktionieren, wenn wir modern sein wollen, dann dürfen wir nicht erst auf globale Krisen warten, um uns zu rühren. Ganz unabhängig von der Covid-19-Krise merken wir, dass die Abläufe in den Verwaltungen online selten funktionieren: unzugänglich, kompliziert, oder gar nicht vorhanden. Jeder, ob er nun schulpflichtige Kinder hat oder den aktuellen Stand der Covid-19-Auflagen in Erfahrung bringen will, hat das längst bemerkt.

Woran hakt es? Der öffentliche Sektor ist nicht technologieaffin. Die digitale Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist äußerst heterogen verteilt. Die staatliche Verwaltung ist zudem nach dem Ressortprinzip organisiert, was sie nicht gerade flexibler oder kohärenter macht. Da geht es nicht um den Willen zu einer gemeinsamen Mission, wo man alles daransetzt, die Mission zum Erfolg zu führen. Sondern im Mittelpunkt steht vielmehr die Verteilung der Aufgaben und Mittel, wodurch ein Konglomerat an Zuständigkeiten entsteht und jeder seinen kleinen Teil verwaltet.

Allein das Diagramm mit den Zuständigkeiten für Cybersicherheit ist in der IT- Szene legendär: Wer das auswendig lernt, ist entweder ein Genie oder wird verrückt.

Prozess killt Ergebnis

Das größte Hemmnis freilich ist die kulturelle Maxime, auf die das gesamte Handeln der deutschen Verwaltung organisatorisch und psychologisch ausgerichtet ist. Diese zielt darauf ab, das Risiko des Scheiterns zu minimieren, führt aber paradoxerweise dazu, das Risiko des Scheiterns zu erhöhen. Denn solange die Prozesse eingehalten werden, sind die Ergebnisse zweitrangig. Alle Beteiligten sichern sich dabei so ab, dass sie bei einem Scheitern nicht als Schuldige dastehen, beispielsweise durch lange Mitzeichnungsverfahren. Jeder schreibt dann auf, was das neue Produkt alles können muss, jeder muss mit allem einverstanden sein. Am Ende wird die Auftragsvergabe so zäh und mühsam, dass das Produkt längst veraltet oder an den Bedürfnissen vorbei entwickelt ist. Verantwortlich ist trotzdem niemand, denn die Verantwortung ist so stark fragmentiert, dass keiner mehr verantwortlich ist.

Selbst die Bestellung eines Caterings für eine Veranstaltung mit 20 Personen kann so schon einmal fünf hochbezahlte Angestellte involvieren und sich über Wochen hinziehen. Bei Flughäfen wie dem BER in Berlin oder anderen Großprojekten dauert es dann eben noch einmal etwas länger. Das Projekt ist dann häufig bei der Fertigstellung bereits veraltet und kostet mehr als gedacht.

Dieser „Deutsche Digitale Rückstand“ ist nicht einfach nur unbequem. Sondern er macht Millionen Menschen das Leben schwer und untergräbt am Ende das Vertrauen in den deutschen Staat. Wenn alle wie selbstverständlich von ihrer demokratischen Regierung als „failed state“ reden – in Berlin ein längst gängiger Terminus für das Unvermögen der Hauptstadtverwaltung  –, dann wird es eng.

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Zahlen & Fakten

Startschuss für Aufholjagd

Wir brauchen deshalb, und das muss eine primäre Aufgabe der nächsten Regierung sein, eine digitale Aufholjagd. Keinen Neustart, sondern einen Neu-Staat, jedenfalls in der digitalen Welt.

Denn: Der Staat muss funktionieren und handlungsfähig sein. Das muss der Bürger, das muss die Bürgerin spüren und erleben – anstatt dass die Bürokratie sich bereits damit zufriedengibt, dass man aus der rosaroten Brille der Innenlogik der Verwaltung heraus annimmt, dass sich die Dinge ja längst zum Besseren verändert hätten.

Deutschland braucht in der digitalen Welt keinen Neustart, sondern einen Neu-Staat.

Dabei geht es um weit mehr als nur um die digitale Verwaltung. Wir – also nicht nur, aber auch die Regierung – müssen zugleich die Grundlagen dafür schaffen, dass Durchbruchtechnologien und Sprunginnovationen auch hierzulande entstehen und blühen können: Innovationen wie GPS und Internet, wie neue Batterien und Elektromotor, wie Hyperloop und Laborfleisch.

Manches wird sogar in deutschen Universitäten, Instituten und Unternehmen erfunden – aber die Geschäfte machen andere, weil wir es nicht hinbekommen, daraus funktionierende Geschäftsmodelle zu bauen und die „kreative Zerstörung“ – um mit dem großen österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter zu sprechen – des Status Quo schnell genug zu organisieren.

Schlüsselkompetenzen bewahren

MP3 zum Beispiel – also das legendäre Musikdateiformat, das dem iPod und damit dem Comeback von Apple den Weg bahnte: in Deutschland entwickelt, woanders zum Nutzen gebracht. Wir müssen es schaffen, genügend junge Menschen in den MINT-Fächern auszubilden, sie zu Mathematikern, Informatikern, Naturwissenschaftlern und Technikern zu machen. Und: wichtige Spezialisten und Fachleute müssen wir in Deutschland halten – und erreichen, dass sie auch für deutsche Unternehmen arbeiten und eben nicht nur für die Niederlassungen von Facebook, Google oder Amazon. Denn die großen Tech-Konzerne geben den besten Leuten heute wesentlich mehr Freiheit, mehr Geld, und mehr Prestige als viele deutsche Wettbewerber und erst recht mehr von all dem als sie bei der öffentlichen Hand bekommen würden. Den „War For Talents“ führen wir gegen diese Unternehmen – oder sollten wir führen.

In den USA hat Amazon jüngst den General und Ex-NSA-Chef Keith Alexander engagiert. Eigentlich müsste es genau andersrum sein: dass die besten Leute von der Wirtschaft zum Staat gehen. Es mag utopisch klingen, aber genau das müssen wir schaffen.

Dazu müssen wir die staatlichen Institutionen selbst auf ein agiles Mindset trimmen, aber zugleich neue Räume zum Ausprobieren schaffen: also Orte, wo man Dinge einmal anders machen kann, anders machen darf, als sie sind. Nicht weil das zwangsläufig immer und überall besser ist, sondern weil es zum Sinn und Zweck passt: nämlich außerhalb der tradierten Prozesse neue Dinge zu testen und Scheitern bewusst zu erlauben.

Mut statt Angst

Erste Schritte gibt es bereits, immerhin: Die neue Bundesagentur für Sprunginnovation (SprinD) setzt etwa darauf, mit Wettbewerben die besten Projekte auszuwählen und diese dann zu fördern. Mit diesem Ansatz erfanden die USA das Internet, das autonome Fahren, dazu kommen die jüngsten Fortschritte in der Robotik.

Es mag utopisch klingen, aber wir müssen schaffen, dass die besten Leute von der Wirtschaft zum Staat gehen.

Doch deren Chef Rafael Laguna de la Vera verzweifelt schon jetzt am prozessorientierten Verwaltungshandeln: „Wenn wir mit unserem Auswahlprozess fertig sind, dann haben wir die Projekte ein Jahr gegrillt und würden ihnen gerne das Geld geben. Aber dazu brauchen wir eigentlich erst mal eine öffentliche Ausschreibung. Das geht aber nicht immer, denn manchmal bekommen wir geheime Projekte vorgeschlagen, die wir wirklich nicht ans Rathaus hängen wollen. Wir gründen daher für unsere Projekte hundertprozentige Tochtergesellschaften. Aber wenn wir das tun, haben wir wieder das Besserstellungsverbot, müssen nach Tarifen des öffentlichen Dienstes bezahlen und können die Mitarbeiter nicht von Anfang an am Unternehmenserfolg beteiligen.“ Und so weiter und so fort.

Übrigens: Im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ hat die Zeitschleife irgendwann ein Ende, als der Protagonist Bill Murray sein Leben ändert und sie damit durchbrechen kann. Auf einmal wiederholt sich sein Leben nicht mehr jeden Tag, sondern es geht weiter.

Sicher ist: Wir können es besser als heute. Und wir müssen es ganz dringend besser machen. Damit die Schlagzeile im nächsten Jahr nicht schon wieder heißt: „Es ist mal wieder sehr wenig passiert“, sondern: „Deutschland ist führend in Digitalisierung.“

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Conclusio

Deutschland hinkt bei der Digitalisierung hinterher. Selbst der durch die Corona-Krise ausgelöste Schub bei Apps, Arbeitskultur und Technologisierung ging an der Verwaltung weitgehend vorbei. Der öffentliche Dienst ist geprägt von einer prozessorientierten Binnenlogik statt vom Fokus auf die Bürgerinnen und Bürger. Es geht darum, vorgegebene Prozesse einzuhalten anstatt Ergebnisse zu erzielen. Die Verwaltung muss Spielräume schaffen, in denen eigenverantwortliches Handeln möglich wird. Dazu bedarf es auch einer Fehlerkultur, die ein Scheitern erlaubt. Ein intensiver Personalaustausch mit Wirtschaft und Forschung wäre ratsam.