Brisante Fragen von Leben und Tod
Fakten, Diskussion, Empfehlung: Wie die Österreichische Bioethikkommission zu lebensentscheidenden Empfehlungen kommt.
Auf den Punkt gebracht
- Blick nach vorn. Durch den medizinischen Fortschritt verschieben sich die Grenzen des Machbaren – oft mit potenziell gravierenden Folgen für die Gesellschaft.
- Drängende Fragen. Die Bioethikkommission ist ein Gremium mit beratender Funktion, das bei ethischen Dilemmata das Für und Wider von Argumenten abwägt.
- Daten und Fakten. Expertenmeinungen müssen sich wissenschaftlich belegen lassen. Findet man keinen Konsens, wird der Dissens transparent dargestellt.
- Demokratischer Prozess. Um bei gesellschaftsverändernden Fragen Entscheidungen zu treffen, ist ein breiter Diskurs auch zu komplexen Problemen wünschenswert.
Es gibt mehr Fortschritt, als es die meisten vermuten würden, vor allem in der Medizin. Jeder Mensch könnte eines Tages davon betroffen sein. Immer dann, wenn neue Erkenntnisse in der Wissenschaft starke Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben, können wir als Bioethikkommission, also als Beratungsgremium für den Bundeskanzler, involviert werden. Wir sind 25 Mitglieder und beschäftigen uns mit bioethischen Fragen, die uns vor allem vom Bundeskanzleramt, aber auch vom Verfassungsgerichtshof vorgetragen werden.
Ethischer Rückhalt
Den allermeisten vielleicht noch im Gedächtnis ist die kritische Situation im März 2020, als sich die Intensivstationen in ganz Österreich mit schwer Covid-19-Kranken füllten. Damals kam die Frage auf: Nach welchen Kriterien sollen Ärzte und Ärztinnen entscheiden, wer, wenn die Kapazitäten ausgeschöpft sind, behandelt – also zum Beispiel beatmet – wird und wer nicht? „Triage“ ist der Fachbegriff für so eine Notsituation. Derartige Entscheidungen über Leben und Tod, die im Extremfall ein Dilemma darstellen, sollten nach objektiven Leitlinien getroffen werden. Anders gesagt: Die Bioethikkommission sorgt dafür, dass die verantwortlichen Ärzte und Ärztinnen einen ethischen Rückhalt für ihre Verantwortung bei Fragen des Überlebens erhalten.
Bei Empfehlungen der Bioethikkommission geht es immer um das Gesamtwohl einer Gesellschaft.
Wie wir das machen? Streng nach wissenschaftlichen Richtlinien. Jedes der 25 Mitglieder beantwortet die zur Diskussion gestellte Frage. Vertreter von verschiedenen Berufen wie Juristen, Philosophen, Mediziner, Genetiker oder Public Health-Experten sind an Bord. Sie alle äußern keineswegs ihre subjektiven Meinungen. Im Gegenteil: Die Antworten sämtlicher Mitglieder in der Kommission sind durch Daten, Zahlen, Erfahrungs- oder Vergleichswerte belegt. Es ist ein wissenschaftlicher Diskurs. Statistik und Studien spielen dabei als Grundfeste wissenschaftlicher Forschung eine zentrale Rolle, schließlich geht es bei Empfehlungen der Bioethikkommission immer um das Gesamtwohl einer Gesellschaft. Nie primär um Einzelschicksale.
Meinungen diskutieren
Konkret geben alle Kommissionsmitglieder ihre Stellungnahmen ab. Diese werden zusammengefasst und dann in Sitzungen auf Basis der ethischen Prinzipien diskutiert. Seit Corona machen wir das online. Im Optimalfall ergibt sich aus diesen Diskussionen eine gemeinsame, einstimmige Stellungnahme. So war in der kritischen Phase der Corona-Pandemie klar, dass so viele Menschen wie möglich gerettet werden müssen und nur diejenigen Patienten und Patientinnen, die von der körperlich sehr belastenden Intensivtherapie profitieren, diese auch erhalten sollen. Die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit ist das maßgebliche Ziel.
Es gibt aber auch Fragestellungen, bei denen wir zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen. Etwa in Angelegenheiten rund um die humane embryonale Stammzellforschung. Umstritten ist auch, ob die Wissenschaft mit befruchteten Eizellen forschen darf oder die gesetzliche Regelung, ob, und wenn wie, homosexuelle Paare durch Reproduktionsmedizin eine Familie haben dürfen. Das ist mit vielen rechtlichen Fragen verbunden, etwa was die künstliche Befruchtung betrifft.
Zahlen & Fakten
In-vitro-Fertilisation (IVF)
Die Befruchtung findet nicht im Körper einer Frau statt, sondern im Labor. Meistens werden mehrere Eizellen befruchtet. Gelingt die Verschmelzung mit den Samenzellen, werden meistens drei Embryonen in die Gebärmutter übertragen. Durch iVF sind neue Arten von Familien entstanden. Ältere Eltern können Kinder haben. Homosexuelle Paare können Eltern mit Ei- bzw. Samenzellspenden Eltern werden.
Stammzellen
Blutstammzellen sind für die Bildung der Blutzellen – zum Beispiel weiße und rote Blutkörperchen – zuständig. Sie befinden sich in geringem Ausmaß im Blut, hauptsächlich aber im Knochenmark von Rippen, Brustbein und Beckenknochen. Die Blutstammzellen vermehren sich (wie andere Zellen) durch Zellteilung.
- Humane embryonale Stammzellen (ES-Zellen) sind pluripotente Zellen. Das heißt, aus ihnen kann jede beliebige Zelle im Körper hervorgehen. Sie entstehen aus Zellen, die im menschlichen Embryo in einem sehr frühen Stadium vorkommen: der Blastozyste.
- Adulte Stammzellen sind auf einen bestimmten Gewebetyp festgelegt. Sie sind in der Lage, Tochterzellen zu generieren, die selbst wiederum Stammzelleigenschaften besitzen.
Immer wieder beschäftigen uns auch die Möglichkeiten von medizinischen Entscheidungen am Lebensende. Diese sind in der Schweiz vollständig anders geregelt, als in Österreich oder in Deutschland.
Mehr Teilhabe der Bevölkerung
Wenn die Bioethikkommission zu keiner einheitlichen Stellungnahme kommt, also Dissens das Ergebnis ist, stehen weniger wissenschaftliche als meist weltanschauliche oder bisweilen auch religiöse Gründe einem Konsens im Weg. Und das ist okay, solange dieser Umstand transparent gemacht wird und die „dissenting opinion“ auch schriftlich niedergelegt und veröffentlicht wird. Denn die Kommission will in dem Sinne gar keine Wahrheit verkünden, sondern versteht sich als Beratungsgremium für die Politik. Wenn die 25 Mitglieder in der Bioethikkommission keinen Konsens finden, liegt es am Gesetzgeber, diese Fragen in einem breiteren Rahmen weiter zu diskutieren – und zu entscheiden.
Was ich mir wünschen würde, wäre eine Aufwertung der Bioethikkommission auf einen Status wie etwa in Deutschland. Dort gibt es den Ethikrat, ein eigenes Institut mit wissenschaftlichen Mitarbeitern und finanziellen Mitteln, um die Bevölkerung in größerem Ausmaß an diesen so wichtigen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen. Oft sind die Fragestellungen ziemlich komplex. Es wäre für die gesellschaftliche Entwicklung sehr wichtig, dass die Bürger und Bürgerinnen unsere Entscheidungen nachvollziehen, verstehen und somit auch leichter mittragen können. Alle Mitglieder der österreichischen Bioethikkommission arbeiten ehrenamtlich.
Zahlen & Fakten
Sorge für Schwache
Was das heiß umstrittene Thema der Impfungen betrifft, so herrscht ethisch und wissenschaftlich betrachtet tatsächlich Konsens. Wir beziehen uns in unserer Empfehlung auf Studienergebnisse, Erfahrungswerte, belegbare Daten und Fakten. Der Nutzen einer Impfung ist zweifelsfrei belegbar; der Schaden, der für den Einzelnen und in der Bevölkerung entsteht, wenn man darauf verzichtet, liegt ebenfalls auf der Hand. Wir, die mit unserer Empfehlung Verantwortung übernehmen, können gar nicht anders, als uns dafür aussprechen.
Es ist eine Empfehlung, die auf den Prinzipien der Fürsorge für andere Menschen und der Solidarität mit allen vulnerablen Gruppen begründet ist. Immerhin gibt es viele, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können – darunter auch Kinder, die noch nicht geschützt werden können.
Conclusio
Geht es um ethische Dilemmata in der Medizin, die Bewertung neuer medizinischer Erkenntnisse oder um die Zulassung neuer wissenschaftlicher Methoden, so hat die Politik die Möglichkeit, die Bioethikkommission hinzu zu ziehen. Die Mitglieder der Kommission stammen aus verschiedenen Fachbereichen und bringen ihre wissenschaftlich abgesicherte Expertise ein. Die Bioethikkommission strebt Konsens an, Dissens wird transparent gemacht. Schlussendlich liegt es an den politischen Entscheidungsträgern, Fragen in einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren und Entscheidungen nach demokratischen Kriterien zu treffen.