Briten in Europa: Der verdrängte Brexit

Großbritannien hat eine der höchsten Auswanderungsraten der Welt – Teil der Diskussion über Brexit und Migration war das aber nicht. Die Folge ist ein verzerrtes Bild davon, was es bedeutet, „britisch“ zu sein.

Grafische Darstellung von Brexit-Migranten auf dem Weg nach Europa
In Europa lebten bereits vor dem Brexit 1,2 Millionen Briten - und nicht alle sind im Rentenalter. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Feindliches Umfeld. Schon vor dem Brexit spielte das Thema Immigration in Großbritannien eine Rolle. Die eigene Emigrationsgeschichte wird gerne ignoriert.
  • Risiko Klischee. Briten in Europa – das sind nicht nur Rentner. Tatsächlich sind 79 Prozent der Briten in der EU im erwerbsfähigen Alter oder jünger.
  • Zerrbild Migration. In der Einwanderungsdebatte wurde der Anschein erweckt, als beträfe der Brexit die Briten selbst kaum.
  • Schwierige Rechtslage. Die rechtliche Lage vieler Briten in der EU bleibt vorerst ambivalent – ebenso wie ihr Selbstverständnis infolge des Brexit.    

Großbritannien gehört zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Auswanderungsraten. Doch das wird gewöhnlich übersehen bei der Diskussion der britischen Migrationsthematik, die sich fast ausschließlich auf die Einwanderung fokussiert. Geht es einmal aber doch um die britischen Auswanderer, werden diese gewöhnlich klischeehaft oder in karikierender Weise dargestellt. Dabei werden besonders gern die Rentner erwähnt, die ihren Lebensabend am Meer unter spanischer Sonne verbringen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den tatsächlichen Gegebenheiten, denn aufgrund des Ausmaßes dieser Migrationsbewegung – in der Vergangenheit wie der Gegenwart – wüssten wohl die meisten Briten von einem Freund, einem Verwandten oder Bekannten zu berichten, der heute irgendwo anders auf der Welt lebt.

Passagiere bei der Ankunft am Flughafen Dublin
Britische Staatsbürger müssen bei der Einreise in EU-Länder nun längere Wartezeiten in Kauf nehmen - und umgekehrt. © Getty Images

Die Briten verfügen also über persönliche Erfahrungen, die diese Stereotypen ins Wanken bringen. Im Zusammenhang mit dem Brexit allerdings erschweren es die bestehenden Klischeevorstellungen, in der Öffentlichkeit Verständnis für die 1,2 Millionen britischen Staatsbürger zu wecken, die in EU-Ländern leben. Um aufzuzeigen, was der Brexit für Briten in der EU konkret bedeutet, muss man sich zuerst mit diesen Stereotypen auseinandersetzen – und jenen Fakten zuwenden, die eine andere Geschichte der Briten in Europa erzählen können.

Auf der Weltbühne

Großbritannien hat eine sehr spezielle Migrationsgeschichte. Die britischen Emigrantenströme verteilten sich in alle Regionen der Welt. Die Auswanderungsrate blieb über einen langen Zeitraum relativ stabil und war nie mit einem bestimmten historischen Ereignis verknüpft, wie etwa dem EU-Beitritt Polens oder der Großen Hungersnot in Irland. Mittlerweile aber betrachten auch die Briten selbst ihre Migrationsgeschichte zunehmend einseitiger. Mit dem Abtritt des britischen Empire von der Weltbühne geriet auch die Bedeutung der Emigration für die Herausbildung Großbritanniens und der Britishness, der britischen Wesensart, in Vergessenheit.

Mit dem Abtritt des britischen Empire von der Weltbühne geriet auch die Bedeutung der Emigration für Großbritannien in Vergessenheit.

Die Neuerfindung Großbritanniens nach der Dekolonisation (1945-1997) war damit verbunden, dass das Land auf seine nationalen Grenzen schrumpfte. Das beeinflusste die britische Migrationsdebatte in zweierlei Weise: Zum einen rückte die Sicherung der Grenzen Großbritanniens in den Mittelpunkt. Zum anderen stellte sich die Frage, wie man bestimmte Bevölkerungsgruppen daran hindern könne, diese Grenzen zu überschreiten. Die Einwanderungsgesetze der 1960er- und 1970er-Jahre und spätere Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts durch den 1981 in Kraft getretenen British Nationality Act zielten in erster Linie darauf ab, Menschen aus anderen Teilen des ehemaligen britischen Empire das automatische Recht zu verwehren, sich im Vereinigten Königreich niederzulassen.

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Zahlen & Fakten

Diese Politisierung der Migration schlägt sich auch in der aktuellen britischen Diskussion über nationale Identität und Zugehörigkeit nieder. Das konnte auch das internationale Publikum vor dem Brexit-Referendum miterleben. Damals versuchten die Austrittsbefürworter in ihrer Kampagne Ressentiments gegen Zuwanderer zu schüren. Diese Rhetorik fiel auf fruchtbaren Boden, nachdem Theresa May in ihrer Zeit als Innenministerin jahrelang eine so genannte Hostile Environment-Politik betrieben hatte, die darauf abzielte, illegalen Einwanderern durch unterschiedliche Maßnahmen das Leben zu erschweren.

Mit ihrer harten Haltung zur Einwanderung signalisierte diese Politik, dass künftig ein rigiderer Kurs in Fragen der Staatsangehörigkeit und des Bleiberechts eingeschlagen werden würde. Da für Bürger anderer EU-Staaten das Recht auf Personenfreizügigkeit galt, waren sie augenscheinlich nicht unmittelbar von dieser restriktiven Politik betroffen. Weniger bekannt ist jedoch, dass in dieser Zeit auch eine wachsende Zahl von EU-Bürgern in Haft genommen oder ihnen der Zugang zum britischen Sozialsystem verwehrt wurde.

Die Kampagne der Austrittsbefürworter machte sich den Gegensatz zunutze, der sich zwischen Großbritanniens zunehmend restriktiverem Einwanderungsregime und seiner liberalen Haltung zur Bewegungsfreiheit als Kern der Freizügigkeit entwickelte. Das Augenmerk wurde auf jene 3 Millionen EU-Bürger gelenkt, die zum Zeitpunkt des Referendums in Großbritannien lebten. Zudem betonten die Brexit-Anhänger immer wieder, dass Großbritannien nicht die Kontrolle über seine Grenzen erlangen könne, so lange es Mitglied der Europäischen Union sei.

Die Personenfreizügigkeit und die Briten in Europa

Die schätzungsweise 1,2 Millionen britischen Staatsangehörigen, die in anderen EU-Ländern leben, repräsentieren eine der Erfolgsgeschichten des in der EU verwirklichten Konzepts der Personenfreizügigkeit. Britische Staatsangehörige, die in anderen EU-Mitgliedsstaaten lebten, wurden faktisch wie Staatsbürger behandelt und waren von Einreisekontrollen befreit. Rechtlich gesehen waren sie eher mobile Bürger als Migranten. Die wichtigsten EU-Zielländer für britische Staatsangehörige waren die nächstgelegenen Nachbarstaaten Irland (293.000 britische Zuzügler) und Frankreich (177.000). Darauf folgten Spanien (302.000), Deutschland (99.000) und Italien (66.000). Zur Veranschaulichung der Größenverhältnisse sei erwähnt, dass die Briten in Irland bis 2015, als sie von polnischen Zuwanderern überflügelt wurden, die größte Immigrantengruppe darstellten.

Die britischen Staatsbürger, die aus einer Vielzahl von Gründen in andere EU-Länder zogen – sei es, um zu arbeiten, zu heiraten oder zu studieren – sind an ihren Wohnorten häufig sozial und wirtschaftlich sehr gut integriert. Die Vielfalt der britischen Bevölkerung im Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit, soziale Schichtung oder Geschlecht spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Briten wider, die in EU-Ländern leben.

In Deutschland beispielsweise verfügen die zugezogenen Briten durchschnittlich über eine bessere Ausbildung als ihre einheimischen Arbeitskollegen und verdienen auch mehr. Zudem wissen wir, dass entgegen landläufigen Vorstellungen 79 Prozent der Briten, die in den (gegenwärtig) 27 Mitgliedsstaaten der EU ihren Wohnsitz haben, im erwerbsfähigen Alter oder jünger sind. Die Chancen, in anderen europäischen Ländern leben und arbeiten zu können, sind in vielen Fällen auch an das Vorhandensein sozialer Mobilität geknüpft. Wenn sich die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Großbritannien verschlechterten – etwa aufgrund einer konjunkturellen Abschwächung oder zunehmender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt –, bot der Umzug in ein anderes EU-Land einen Ausweg.

Die Vielfalt der britischen Bevölkerung spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Briten wider, die in EU-Ländern leben.

Und wo sind nun all die Rentner? Statistiken zeigen, dass der höchste Prozentsatz britischer Bürger im Pensionsalter in der EU tatsächlich in Spanien zu verzeichnen ist. Dort machen sie 30 Prozent der britischen Immigranten aus. In den anderen EU-Ländern ist dieser Anteil niedriger. Das hohe Maß an Integration der britischen Staatsangehörigen aber erweist sich als zweischneidiges Schwert. Spricht man über binationale Lebensgemeinschaften, Familien oder den lokalen Arbeitsmarkt kommen Briten meist nicht vor. Dass sich Politiker, Wissenschaftler und die Medien so häufig mit britischen Pensionisten beschäftigen, hat daher nicht damit zu tun, dass diese die Mehrheit bilden. Sie sind schlichtweg besser sichtbar.

Schwieriger Ausblick

Der Brexit hat diese Unsichtbarkeit in gewisser Hinsicht vermindert. Im Zuge des Brexit verlieren diese ausgewanderten Briten wie auch die Briten insgesamt ihre europäische Unionsbürgerschaft. In der Phase der Brexit-Verhandlungen, in der es um Bürgerrechte ging, versuchte man die Auswirkungen des Brexit für diesen Personenkreis sowie für die geschätzt 3 Millionen EU-Bürger, die in anderen Staaten der Europäischen Union leben, zu thematisieren und Lösungsmöglichkeiten zu finden.

Was die Briten betrifft, die in der EU leben, gefährdet dieser Statusverlust ex lege die rechtliche Grundlage ihres Aufenthalts, ihren Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Gesundheitsversorgung und sozialen Sicherungssystemen wie auch ihre politischen Rechte in Europa. Im Austrittsabkommen werden die meisten dieser Fragen geregelt, mit Ausnahme des Rechts, an Wahlen zum EU-Parlament teilzunehmen und sich an der Europäischen Bürgerinitiative zu beteiligen. Doch damit die Regelungen des Austrittsabkommens auf diese Personen Anwendung finden, müssen sie am Ende des Brexit-Übergangszeitraums auch rechtmäßig in der EU ansässig sein.

Diese Bestimmung stellt die EU vor gewisse Probleme. In Großbritannien gab es kein Registrierungssystem für EU-Bürger, und auch einige andere EU-Mitgliedsstaaten verlangten keine Registrierung von EU-Bürgern, die sich auf ihrem Territorium aufhielten. Dies galt insbesondere für Frankreich, wo EU-Bürger seit Beginn der 2000er-Jahre keinen formellen Nachweis ihres rechtmäßigen Aufenthalts mehr benötigten. Das Fehlen einer einheitlichen, für sämtliche EU-Länder geltenden Regelung führte nicht nur zu einem hohen Maß an Verwirrung und Unsicherheit, es erzeugte auch Misstrauen gegen die behördlichen Verfahrensweisen allgemein. In den kommenden Jahren werden sich die Staaten bemühen müssen, dieses Vertrauen in die staatlichen Instanzen wiederherzustellen.

Britische Staatsangehörige müssen nicht nur den Entzug von politischen Rechten und wirtschaftlichen Privilegien durch Großbritanniens Austritt aus der EU hinnehmen, sondern auch mit dem Verlust einer Identität zurechtkommen, die sie bislang für selbstverständlich gehalten haben.

Andererseits aber waren viele britische Staatsangehörige, die dauerhaft in dem von ihnen gewählten europäischen Gastland bleiben möchten, nicht bereit, noch einen Schritt weiterzugehen und die britische Staatsbürgerschaft aufzugeben – was beispielsweise in Österreich erforderlich ist, wo die Möglichkeit einer doppelten Staatsangehörigkeit nicht besteht. Dies verweist auf das langfristige Problem, das für britische Staatsangehörige im Ausland durch den Brexit entsteht: Sie müssen nicht nur den Entzug von politischen Rechten und wirtschaftlichen Privilegien durch Großbritanniens Austritt aus der EU hinnehmen, sondern auch mit dem Verlust einer Identität zurechtkommen, die sie bislang für selbstverständlich gehalten haben.

Die eigene Identität hinterfragen

Die Rechte britischer Staatsangehöriger, die am Ende des Übergangszeitraums einen rechtmäßigen Wohnsitz in der Europäischen Union haben, werden durch das Austrittsabkommen geschützt. Doch diese Neuregelungen, durch die sie zu ehemaligen EU-Bürgern werden, sind nur ein teilweiser Ersatz für den rechtlichen Status, den sie vorher genossen haben. Zudem bleibt abzuwarten, wie die konkrete Umsetzung der Schutzbestimmungen des Austrittsabkommens in der Praxis aussehen wird. Die gesamten Auswirkungen des Brexit und dieses ambivalenten Rechtsstatus werden wohl erst in einigen Jahren erkennbar sein.

Seit Ende des Übergangszeitraums haben Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs keinen Anspruch mehr auf die Rechte, die sich aus einer EU-Bürgerschaft ergeben. Für britische Staatsbürger ist es nun schwieriger, in EU-Mitgliedsländer umzuziehen und sich dort niederzulassen, zumal sich viele dieser Länder dazu gezwungen sahen, allgemein restriktivere Regelungen für die Aufnahme von Immigranten aus Drittländern einzuführen. Für die britische Migration nach Europa bedeutet das wahrscheinlich, dass höher qualifizierte und besser ausgebildete Personen sowie Leute, die mehr Kapital mitbringen, bessere Aussichten haben werden.

Für Großbritannien kann dies aber vielleicht eine Chance darstellen, die im Land geführte Debatte über Migration und Identität wieder etwas mehr ins Gleichgewicht zu bringen. Wie sich der Brexit langfristig auf die britischen Emigrationszahlen auswirken wird, lässt sich noch nicht absehen, doch er wird für viele Briten sicherlich ein Augenblick der Rechenschaftslegung und der Selbstvergewisserung sein – und er zeigt vielleicht auch manchen EU-Bürgern auf, was es bedeutet, Europäer zu sein. Als sich die Briten gezwungen sahen, ihre Britishness und ihr Selbstverständnis als Briten zu hinterfragen, hatte dies zur Folge, dass viele von ihnen zu Briten in einem speziellen Sinn wurden – in einem britisch-europäischen Sinn.

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Conclusio

Wiederholt standen bei der Brexit-Kampagne die 3 Millionen EU-Bürger im Mittelpunkt, die zum Zeitpunkt des Referendums in Großbritannien lebten. Die 1,2 Millionen britischen Staatsbürger in EU-Ländern hingegen erhielten wenig Aufmerksamkeit. Die Vorstellung, dass es sich bei Briten im Ausland überwiegend um Pensionisten handelt, ist falsch. Trotz vieler Kontakte zu Auswanderern mangelt es in Großbritannien vielerorts an einem Bewusstsein für die wahre Vielfalt der britischen Migrationsbewegung. Statt die einseitige Wahrnehmung der Brexit-Jahre weiter bestehen zu lassen, sollten die Briten den Austritt aus der EU zum Anlass für eine breitere öffentliche Diskussion über das Thema Migration nehmen – und in diesem Zuge hinterfragen, was Britishness heute bedeutet.