„Ich habe auch in der Pandemie umarmt“

Miranda Suchomel forscht seit Jahren zum Thema Händehygiene und warnt vor den langfristigen Folgen einer sterilen Welt. Ihr Appell zur ausklingenden Pandemie: Hände weg von Desinfektion.

Miranda Suchomel, Hygieneexpertin an der MedUni Wien
Miranda Suchomel, Hygieneexpertin an der MedUni Wien. © Philip Horak
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Auf den Punkt gebracht

  • Sterile Welt. Vielleicht sogar zu steril? Gerade bei kleinen Kindern könnte das Immunsystem durch zu viel Desinfektion nicht genug stimuliert werden.
  • Gute Bakterien. Zudem sind nicht alle Bakterien böse: Viele von ihnen sind sogar überlebenswichtig und helfen uns beispielsweise bei der Verdauung.
  • Nicht desinfizieren. Eine Flächendesinfektion ist in einem normalen Privathaushalt meist nicht nötig – Hände waschen reicht völlig aus.
  • Richtig waschen. Falsches Händewaschen bringt dabei aber nichts. Richtiges Händewaschen ist eine Frage des Wann und Wie.

Frau Suchomel, seit eineinhalb Jahren leben wir auf Distanz. Sind wir dadurch weniger oft krank?

Miranda Suchomel: Ja, aber das liegt vor allem am Social Distancing und den Masken. Wir kennen das aus den Grippewellen. Der erste Tipp ist immer: Meiden Sie Menschenansammlungen. Ist ja auch logisch, die meisten Erkältungskrankheiten sind Tröpfcheninfektionen. Mich persönlich stört auch die Maske nicht, wenn ich mit der U-Bahn fahre, und ich könnte mir gut vorstellen, dass viele Menschen die Masken in künftigen Grippesaisonen weiter tragen werden. Das Desinfizieren würde ich sehr weit hinten sehen. Ich bin eine absolute Gegnerin dieser Desinfektionsexzesse. Warum sollte ich beispielsweise mein Handy desinfizieren? Das habe ich in der Hand, und das habe ich am Ohr. Wovor habe ich da Angst?

Wie würden Sie einen Weg zurück in die Normalität skizzieren?

Mein Forschungsthema ist Händehygiene, und das kommt mir in der ganzen Pandemie viel zu kurz. Es ist Tatsache, dass rund 80 Prozent der übertragbaren Krankheiten über die Hände übertragen werden. Wenn wir uns richtig die Hände waschen, tun wir schon sehr viel zur Infektionsprävention. Ich bin ein Fan des Händeschüttelns, des Umarmens und des Busselns. Ich habe auch in der Pandemie meine Lieben umarmt. Und ich glaube nicht, dass ich Sie mit Corona anstecke, wenn ich Sie kurz umarme. Es ist in erster Linie eine Tröpfcheninfektion. Ich habe mich nach einem Jahr Pandemie nun daran gewöhnt, dass wir uns nicht mehr die Hände schütteln. Wir haben uns vorhin nur mit einem Kopfnicken begrüßt, das ist aber eigentlich nicht, wie ich leben möchte. Mein Ziel ist nicht, dass wir in eine Welt mit permanentem Social Distancing und Masken zurückfinden.

Bei kleinen Kindern stelle ich mir schon die Frage, was diese sterile Welt mit ihnen anrichtet.

Sie arbeiten am Institut für Hygiene und Angewandte Immunologie an der MedUni Wien, da stellt sich die Frage: Stört Sie das Desinfizieren?

Dieses sterile, keimfreie Leben, das wir derzeit leben, könnte ein Problem werden. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, wie viel besser das Immunsystem von Menschen ist, die am Bauernhof leben und täglich den „Kuhdreck“ in den Fingern haben, verglichen mit denen, die in einer superhygienischen Umgebung in der Stadt aufwachsen. Dieses Triggern des Immunsystems mit Krankheitserregern aller Art fehlt derzeit bei vielen. Wir beide sind alt genug, wir haben bereits viele Infektionskrankheiten durchgemacht, unser Immunsystem hat brav gelernt – wir werden eher keine Probleme bekommen. Aber bei kleinen Kindern stelle ich mir schon die Frage, was diese sterile Welt mit ihnen anrichtet, wenn sie keinen Schnupfenviren ausgesetzt sind, die das Immunsystem abhärten.

Sie sagen: Händewaschen ist super, Händedesinfizieren aber problematisch. Was ist der Unterschied? 

Händewaschen will die Hände sauber machen, wenn ich mich etwa mit Eis bekleckert oder in der Erde gebuddelt habe. Man wäscht damit auch Mikroorganismen weg – aber man bringt sie nicht um. Eine Händedesinfektion hat immer den Auftrag, Mikroorganismen so schnell als möglich abzutöten. 

Mit dem Händewaschen spüle ich das Virus ab, aber ich töte es nicht.

Doch, aber das ist eine Ausnahme. Da hatten wir einfach „Glück“: Es gibt unbehüllte und behüllte Viren – das Coronavirus fällt in die zweite Kategorie, Influenzaviren auch. Auch wenn es unlogisch klingt, diese Fetthülle bietet einen Angriffspunkt für Chemie beziehungsweise wird durch Chemie zerstört – weshalb diese Viren durch Seifen und Spülmittel tatsächlich auch abgetötet werden. Bakterien und viele andere unbehüllte Viren hingegen kann eine Seife nicht töten.

Hygiene-Expertin Miranda Suchomel wäscht sich die Hände
Händewaschen ist meist besser als Hände desinfizieren. © Philip Horak

Aber was spricht dagegen, diese Bakterien und Viren einfach abzutöten?

Wir können mit übermäßigen Desinfektionsprozessen auch Resistenzen züchten, und wir zerstören unser Mikrobiom, also alle Mikroorganismen, die auf und in uns leben, und auch das der Umwelt. Das Problem daran ist: Diese Dinge passieren eher längerfristig. Das ist nichts, was wir heute oder morgen sehen, sondern erst in ein paar Jahren. Und deshalb steht es nicht so im Fokus.

Unser Mikrobiom besteht hauptsächlich aus Bakterien, sie gelten als etwas Böses.

Ja, das ist schade. Denn wir leben mit Bakterien. Gut eineinhalb Kilo unseres Körpergewichts sind fremde Organismen. Das sind in erster Linie Bakterien, aber auch Pilze und Viren. Wir sind dichtest besiedelt. E. coli zum Beispiel kennen wir als Erreger von Harnwegsinfekten, aber E.-coli-Bakterien sind auch für viele Stoffwechselprozesse in unserem Darm verantwortlich und wichtig für die Funktion unseres Immunsystems. Ohne E. coli könnten wir gar nicht existieren. Wir brauchen Mikroorganismen, um zu überleben. 

Wir können mit übermäßigen Desinfektionsprozessen auch Resistenzen züchten, und wir zerstören unser Mikrobiom.

Das heißt, jeder hat sein eigenes Mikrobiom?

Ja, auch Familien oder ganze Städte haben ihr eigenes. Wenn jemand in ein Hotelzimmer kommt, hat das in drei Tagen das Mikrobiom dieser Person angenommen. Wenn wir die Gesamtheit der uns umgebenden Mikroorganismen betrachten, sind die allermeisten nützlich oder eben sogar lebensnotwendig. Ohne Schimmelpilz kein Antibiotikum. Ohne Hefepilz kein Brot und kein Bier. 

Aber welche Funktion haben sie auf der Haut?

Sie sind nicht nur ein Bestandteil unseres Körpers – wie etwa auch Haare –, sie sind auch sogenannte Platzhalter. Potenziell gefährlichere Bakterien können dort dann nicht hin. Das ist wie bei dem Spiel „Reise nach Jerusalem“: Wenn der Sessel besetzt ist, kann sich dort sonst niemand hinsetzen. Wenn ich mein Mikrobiom zerstöre, entstehen also freie Plätze. Und wenn wir Pech haben, setzt sich auf den Platz irgendein Viecherl, das wir dort nicht haben wollen. Auf der Haut sehe ich das vielleicht, weil ich eventuell Entzündungen oder Ekzeme bekomme. Wenn das Mikrobiom des Darms zerstört wird, bekomme ich Durchfälle, Blähungen, Bauchzwicken.

Wann soll ich also Hände und Oberflächen desinfizieren?

Grundsätzlich eigentlich gar nicht. Mit ein paar Ausnahmen: im Gesundheitswesen, in Alten- und Pflegeheimen zum Beispiel. Vielleicht auch im Kindergarten. Noroviren etwa sind für hochansteckende Durchfallerkrankungen verantwortlich – da braucht es tatsächlich nur ein paar Viren-Partikel für eine Ansteckung. Da wäre es vielleicht angebracht, die Klobrille zu desinfizieren, wenn plötzlich mehrere Kinder Durchfall haben. Auch in lebensmittelverarbeitenden Betrieben muss desinfiziert werden: no na. Aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob es sich um eine Großküche handelt oder eine kleine Küche daheim. In privaten Wohnungen bringt Desinfizieren wenig, auch weil kaum jemand die richtige Chemie verwendet oder die Desinfektion korrekt durchführt. Meines Erachtens ist zu Hause, mit sehr wenigen Ausnahmen, keine Desinfektion erforderlich. 

Illustration Mikrobiom
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Zahlen & Fakten

  • Das Mikrobiom ist die Gesamtheit aller Bakterien, Viren und Pilze, die einen Menschen besiedeln.
  • Es spielt eine wichtige Rolle beim Stoffwechsel, im Immunsystem und bei den Hormonen.
  • Insgesamt besteht das Mikrobiom aus zehn bis 100 Billionen Organismen. Allein ein Milliliter Darminhalt enthält eine Billion Bakterien.
  • Das Mikrobiom wurde erst in den späten 1990er-Jahren entdeckt und verbindet Organe, wie etwa Darm und Gehirn.
  • Der Mix von Mikroorganismen ist auch für die Reifung des Immunsystems und die Nerven verantwortlich.
  • Zudem ist das Mikrobiom wandelbar: Bei einem einzigen Kuss werden 80 Millionen Bakterienzellen übertragen.

Gerade am Anfang der Pandemie gab es große Verunsicherung, viele Menschen haben sogar ihre Einkäufe desinfiziert.

Mein Eindruck ist, dass immer noch wahnsinnig viele Leute Desinfektionsmittel mit sich herumtragen. Aber nachdem das nicht mehr so stark propagiert wird, hoffe ich, dass es auch wieder aufhört. Wenn am Eingang beim Supermarkt kein Desinfektionsspender mehr mit nicht näher definierter Chemie herumsteht, wird es besser. Aber da muss noch viel von „oben“ kommen beziehungsweise massiv aufgeklärt werden. Ich habe zwei schulpflichtige Kinder, und der Hygieneplan in den Schulen sieht vor, dass zum Beispiel die Tische stündlich desinfiziert werden sollen – obwohl die Kinder dreimal pro Woche getestet werden und nur sie selbst mit FFP2-Maske und Abstand an ihrem Platz sitzen. Wie sollen da bitte Viren auf den Tisch draufgekommen sein? Aber die Schulen halten sich striktest daran, weil es so im Hygieneplan steht und sie noch dazu hektoliterweise Desinfektionsmittel im Keller stehen haben, das aufgebraucht werden muss. Das ist eine echte Katastrophe. 

Warum befinden wir uns Ihrer Ansicht nach in dieser Situation?

Am Anfang der Pandemie waren Desinfektionsmittel wirklich knapp, plötzlich hat jeder alles desinfiziert. Die Hersteller kamen mit der Produktion nicht mehr nach. Das hat einen Boom an neuen Produkten ausgelöst. Darunter auch viele, die nicht ausreichend wirken. Bei der Desinfektion in der Handtasche ist mir das relativ egal, weil man die sowieso nicht braucht, aber diese unwirksamen Mittel landeten auch im Gesundheitswesen, und das war und ist ein Riesenproblem.

Sie forschen seit vielen Jahren zum Thema Händehygiene: Wie oft soll ich mir die Hände also wirklich waschen?

Vor allem sollen Sie sich die Hände richtig waschen. Seife ordentlich aufschäumen und auch wieder ordentlich abspülen, die gehört runtergewaschen. Seifenreste auf der Haut sind schädlich. Und Hände ordentlich abtrocknen. Wenn ich mir die Hände mit heißem Wasser wasche, gehen die Poren auf und bieten Eintrittspforten für Mikroorganismen. Also sollte ich, wie beim Eiabschrecken, noch einmal eine kalte Schlussspülung machen. Die Hände waschen sollte man sich zum Beispiel nach dem Klo oder nachdem man in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war. Vor dem Essen ist es eine weniger eindeutige Frage: wenn ich im Büro esse und davor auf meiner grauslichen Tastatur getippt habe, wahrscheinlich schon. Wenn ich zu Hause esse und davor in einem Buch gelesen habe, ist es wahrscheinlich nicht notwendig. Es ist auch nicht jede Händewaschung gleich: Manchmal genügt sicher auch nur das Abspülen mit Wasser, man muss nicht jedes Mal Seife aufschäumen und zweimal „Happy Birthday“ singen.

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Conclusio

Die Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, hat viele Menschen animiert, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Es reduziert nachweislich die Infektionsgefahr, weil es Viren wegspült. Allerdings: Händewaschen und Händedesinfizieren sind zwei unterschiedliche Dinge. Beim Desinfinzieren werden auch viele nützliche Keime abgetötet, was die Immunabwehr auf lange Sicht beeinträchtigen kann. Allgemein betrachtet ist eine gewisse Dosis Dreck also tatsächlich gesund, weil sie das Abwehrsystem des Menschen auf der Haut und im Darm trainiert. Viren, Bakterien und Pilze sind nämlich keineswegs ausschließlich Krankmacher, sondern im Gegenteil mehrheitlich nützlich, weil sie das Immunsystem anregen. Die vielen Kleinstorganismen verbinden Mensch und Umwelt und sind die Grundlage für einen Austausch. Zu viel Hygiene, Antibiotika oder unausgewogene Ernährung stören dieses Gleichgewicht. Kippt diese Balance, können Erkrankungen entstehen.