Wie Erdoğan zum Autokraten wurde
Recep Tayyip Erdoğan bestimmt seit mehr als 20 Jahren den Kurs der Türkei. Seine Laufbahn macht ihn zu einem der kontroversesten Politiker der jüngeren Geschichte: Ein Überblick in sieben Etappen.
1: Das Nachwuchstalent
Recep Tayyip Erdoğan wird 1954 im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa als Sohn eines armen Seemanns geboren und wächst im rauen Klima des Hafenviertels auf. Er besucht die İmam-Hatip-Schule, ein religiöses Lyzeum, das damals unter strenger Überwachung kemalistischer Gesinnungswächter steht.
Die 1970er-Jahre sind auch in der Türkei ein Jahrzehnt des politischen Umbruchs: 1971 putschen die Generäle gegen den liberalkonservativen Premierminister Süleyman Demirel. Es folgt eine chaotische Phase mit Terror von links und von rechts. Bürgerliche Parteien erodieren, aus konservativen Kreisen entsteht die islamische Millî-Görüş-Bewegung, zu Deutsch „Nationale Sicht“, die vom Universitätsprofessor Necmettin Erbakan angeführt wird.
Erdoğan kommt früh mit der Bewegung in Kontakt, wird Jugend-Bezirksleiter und 1976 Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbandes der „Nationalen Heilspartei“, des politischen Arms der Bewegung. Der Nachwuchspolitiker überzeugt als Redner bei Massenveranstaltungen, die eine Rückkehr der Türkei zu ihren islamischen Wurzeln und zur Scharia fordern. Doch nach dem Militärputsch von 1980 unter General Kenan Evren wird die Nationale Heilspartei – wie alle anderen – verboten und ihre Führung inhaftiert.
2: Der Bürgermeister
Während ihr Anführer Necmettin Erbakan in Haft sitzt, gründen Gefolgsleute die Wohlfahrtspartei. Stellvertretender Parteivorsitzender wird Erbakans rechte Hand, Recep Tayyip Erdoğan. Bei den Parlamentswahlen 1991 erreicht das Bündnis fast 17 Prozent. Bereits drei Jahre später gewinnt Erdoğan überraschend die Wahl für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul – vor allem dank eines aufgedeckten Korruptionsskandals bei den Istanbuler Wasserwerken.
Als Oberbürgermeister versucht Erdoğan, den Islam in der europäisch geprägten Metropole wieder sichtbarer zu machen. Er forciert die Renovierung osmanischen Kulturerbes und öffnet die Paläste der Sultane für die Öffentlichkeit. Schon in dieser Zeit gilt er als Gesicht des politischen Islam in der Türkei. Als Erbakan 1996 durch eine Koalition Premierminister wird, scheint auch die politische Zukunft Erdoğans sicher. Doch die Generäle sehen in der neuen islamischen Regierung eine Gefahr für das Erbe Atatürks und organisieren einen Putsch.
3: Der Verurteilte
Necmettin Erbakan wird zum Rücktritt gezwungen, die Wohlfahrtspartei verboten. Recep Tayyip Erdoğan engagiert sich nunmehr als parteiloser Oberbürgermeister von Istanbul auch über die Stadtgrenzen hinaus und tritt bei Massenkundgebungen der Millî-Görüş-Bewegung auf. „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“, rezitiert er 1997 aus einem religiösen Gedicht, „die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Dieser Auftritt beendet vorerst seine politische Karriere. Erdoğan wird wegen Volksverhetzung zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt und als Oberbürgermeister abgesetzt.
4: Der Premierminister
Nach seiner vorzeitigen Entlassung gründet Erdoğan die „Partei der Gerechtigkeit und des Aufschwungs“, kurz AKP. Er wendet sich von den ultrareligiösen Positionen seines politischen Mentors Erbakan ab und verspricht, den säkularen Charakter des Staates nicht anzutasten und Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und Minderheiten zu üben.
2002 gewinnt die AKP aus dem Stand die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Wegen eines bei seiner Verurteilung ausgesprochenen Politikverbots kann Erdoğan selbst zunächst nicht ins Parlament einziehen. Premierminister wird sein Parteifreund Abdullah Gül, der Erdoğan mittels Verfassungsänderung und Wiederholungswahl in einem Wahlkreis bald doch noch den Einzug ins Parlament ermöglicht. Im Jahr 2003 wird Erdoğan als Premierminister der Republik Türkei vereidigt.
5: Der Reformer
Eine Haushaltssanierung und Wirtschaftsreformen prägen die erste Amtszeit (2003–2007) des neuen Premiers, der sich damals noch mit säkularen Verfassungsrichtern und Militärs arrangieren muss. Erdoğans Ruf als Reformer geht letztlich auf seine Zeit als Premier zurück: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei steigt von 3.500 auf fast 12.000 Dollar pro Jahr. Erdoğan macht sich für die Rechte von Minderheiten wie den Kurden, Lasen und Pontusgriechen stark.
Nachdrücklich wirbt er in den europäischen Hauptstädten um Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, die bereits 1987 ihr Gesuch eingereicht und 1999 den Status eines Beitrittskandidaten erhalten hat. Doch die Hoffnungen auf einen raschen Beitritt zerschlagen sich. Ist das der Zeitpunkt, an dem aus dem Reformer Erdoğan wieder der Agitator für den politischen Islam wird, der er in seiner Jugend war? Oder diente die gesamte Reformagenda letztlich bloß dem Machterhalt?
6: Der Machtmensch
Ende Mai 2013 kommt es, ausgehend vom Istanbuler Gezi-Park, zu landesweiten Protesten gegen die als zunehmend autoritär empfundene Politik der AKP. Erdoğan lässt die Demonstrationen mit massiver Polizeigewalt unterbinden. Ein Jahr später wechselt der Regierungschef ins Präsidentenamt.
Im Sommer 2016 unternehmen das einflussreiche islamische Netzwerk um den Prediger Fethullah Gülen sowie Teile des Militärs einen Putschversuch – und scheitern. Präsident Erdoğan macht seinen alten Feind Gülen persönlich dafür verantwortlich und verordnet landesweite Verhaftungen: Mehr als 80.000 Beamte und Armeeangehörige werden suspendiert, Tausende kommen in Untersuchungshaft. Bald darauf lässt Erdoğan mittels Referendum die Verfassung ändern und seine Befugnisse als Präsident erweitern.
Die EU und die USA sehen durch die Machterweiterung des türkischen Präsidenten die Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr und drohen mit weitreichenden Sanktionen, doch Ankara kann sich unter Androhung, den Flüchtlingsdeal mit dem Westen zu beenden oder sich Russland zuzuwenden, den Sanktionen entziehen. Den NATO-Beitritt Schwedens etwa verzögert Erdoğan mit dem Vorwurf, das Land zeige zu wenig Einsatz im Kampf gegen Terrororganisationen wie die kurdische PKK. Den Sanktionen gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine will sich die Türkei lange nicht anschließen. Erst seit kurzem beginnt Erdoğan einzulenken. Der Grund: Nach dem schweren Erdbeben ist Ankara auf finanzielle Unterstützung durch die EU und die USA angewiesen.
Dabei will Präsident Erdoğan die Türkei unter die zehn führenden Staaten der Welt bringen. Von Afghanistan über Syrien bis Libyen und Aserbaidschan versucht der türkische Staatschef Macht zu demonstrieren. Er beruft sich dabei auf die früheren Territorien des Osmanischen Reiches. Außerdem verdeutlicht die Rolle Präsident Erdoğans als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine bei der Ausfuhr von Getreide über das Schwarze Meer seine außenpolitischen Ambitionen.
7: Der Polit-Pensionist?
Nach mehr als zwanzig Jahren der Ära Erdoğan scheint sich bei der anstehenden Wahl für die Opposition eine einmalige Chance zu eröffnen. Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, führt in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Präsident Erdoğan. Sollte er gewinnen, bleibt es fraglich, ob sein fragiles Koalitionsbündnis aus sechs Parteien Bestand haben wird. Für den 69-jährigen Erdoğan steht diesmal die eigene politische Zukunft auf dem Spiel.
Türkei: Die Wahl nach dem Beben
Das Erdbeben hat der Türkei gezeigt, dass Korruption tödlich sein kann. Doch kann das System Erdoğan eine mögliche Niederlage akzeptieren? Ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Cengiz Günay.