Mehr Europa heißt nicht mehr EU

Die EU hat im Ukrainekrieg nicht viel mitzureden, weil sie verteidigungspolitisch kein Gewicht hat. Die Musik spielt in Washington und Moskau.

Demonstration in Brüssel vor der EEAS der EU.
Der Krieg in der Ukraine konfrontiert die EU mit ihren eigenen Grenzen. © Anastasiia Krutota/Unsplash

Wenn angesichts der russischen Invasion in der Ukraine über ein Zusammenrücken der EU, gar über die Vereinigten Staaten von Europa debattiert wird, sorgt das für Jubel bei den Integrationsbefürwortern und Sorge bei den Skeptikern. Ein Zusammenrücken der EU-Mitgliedsstaaten mag politisch das Gebot der Stunde sein, doch über das Diktat einer Zentralregierung sollte man sich vor einer Vertiefung der Union Gedanken machen, nicht erst danach.

Willkürliche Grenzen in Europa

Eines muss dabei außer Diskussion stehen: Kritik an Zentralisierung und der mit ihr verbundenen Überbürokratisierung muss erlaubt sein, auch wenn sich die Medien gerade mit Schlagzeilen über die Zeitenwende und den damit verbundenen Fortschritt überbieten. Denn die EU ist nicht Europa, und was Europa ist, das hängt von der Definition ab.

Geografisch ist Europa kein Kontinent. Willkürlich wurde über Uralgebirge, Ural, das Kaspische Meer im Osten, Kaukasus, Schwarzes Meer und das Mittelmeer im Süden eine theoretische Grenze gezogen. Aber in Wirklichkeit ist Europa eine Halbinsel am westlichen Ende der Eurasischen Landmasse. Europa hat also keine natürlichen Grenzen, dafür aber die gemeinsame Basis einer Kultur und Tradition, die auf dem Christentum beruht. Europa war nie ein Staat und auch kein Imperium. Es beinhaltete immer verschiedene Staaten und war Ausgangspunkt für Imperien.

Kopernikus, Kepler und andere navigierten erst portugiesische und dann spanische Seeleute in die Welt. Franzosen, Engländer und Niederländer folgten bald mit ihren Erkundungsfahrten. Diese Forschung gepaart mit militärischer Überlegenheit ermöglichte es Europa über die nächsten Jahrhunderte, die Welt zu dominieren. Die spanischen, portugiesischen, britischen und französischen Weltreiche entstanden. Gleichzeitig setzte Russland seine Expansion nach Osten auf den Landwegen fort.

Binnenmarkt und Frieden als Erfolge der EU

Der Erste Weltkrieg, der eigentlich ein europäischer Bürgerkrieg war, beendete die Vorherrschaft Europas. Einige Imperien verschwanden nach dem Krieg beziehungsweise über die 40 folgenden Jahre, wie etwa das französische und britische Kolonialreich. Der Zweite Weltkrieg zerstörte Europa und Mittel- und Osteuropa kam unter das sowjetische Joch. 

Westeuropa war bedroht und stand glücklicherweise unter einem amerikanischen Schutzschild. Voraussehende Staatsmänner sahen die Notwendigkeit einer europäischen Integration, im Kern eine deutsch-französische Annäherung als Grundlage. Aus der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl entwickelte sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, dann die Europäische Gemeinschaft und schlussendlich die Europäische Union.

Die Europäische Union ist kein Nationalstaat und soll es auch nicht sein.

Der große Erfolg dieser Bemühungen war, dass Friede zwischen den europäischen Völkern hergestellt wurde und ein einheitlicher Binnenmarkt entstand. Als 1989 die Sowjetunion implodierte, konnten in der Folge auch die mitteleuropäischen Länder ihre Freiheit erhalten und der Union beitreten. Die EU war als eine Gemeinschaft souveräner Staaten konzipiert, die das Recht auf Subsidiarität anerkennt und gemeinsame Zwecke verfolgt. Was heute kaum mehr Beachtung findet, aber bemerkenswert ist: Die Zusammenschlüsse erfolgten freiwillig und friedlich.

Die EU verwechselt sich mit Europa

Die Europäische Union ist schon aus dieser Definition heraus kein Nationalstaat und soll es auch nicht sein. Sie ist ein erfolgreiches Zweckbündnis, das wie alle Staatsformen weit davon entfernt ist, perfekt zu sein. Die Feststellung ist nicht selbstverständlich, maßen sich doch EU-Repräsentanten an, Europa zu vertreten. Beim Brexit war zu hören, das Vereinigte Königreich verlasse Europa, die britischen Inseln sind aber nicht über den Atlantik geschwommen. Gelegentlich wird auch dargelegt, dass die Schweiz nicht Teil Europas sei, obwohl die Eidgenossenschaft in ihrer Substanz und ihrem Denken wahrscheinlich wesentlich europäischer ist als manche Vertreter der EU-Kommission.

Diese Erzählung ist damit nicht beendet. Vielfach wird kritisches Denken über die Politik der Kommission als anti-europäisch gebrandmarkt. Ein durchsichtiges Manöver: Jeder Patriot kann und soll seine Regierung kritisieren, wenn Probleme anders und besser gelöst werden können. Wenn ein Tiroler über die Landesregierung in Innsbruck schimpft, ist er deswegen noch lange kein Antitiroler. Und wenn ein Österreicher gegen die Bundesregierung schimpft, ist er deswegen auch kein Antiösterreicher. In Brüssel wird diese Logik gerne verdreht, werden Kritiker der EU schnell als Anti-Europäer abgetan.

Versagen der EU bei der Außenpolitik

Diese Strategie darf nicht aufgehen, denn es gibt gute Gründe für Kritik. Man denke nur an die unüberschaubaren Harmonisierungsbestrebungen. Dabei liegt Europas Stärke in der Vielfalt der Bevölkerung, die von der Zentralorganisation zu wenig anerkannt wird. Das sorgt für unnötige Widerstände gegen die EU. Essenziell für den Erfolg der europäischen Integration und auch einer starken Stellung der EU im globalen Wettbewerb ist eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Diese Kooperation kann nur Früchte tragen, wenn die Subsidiarität kein Lippenbekenntnis ist, sondern aus tiefster Überzeugung respektiert wird.

Der Krieg in der Ukraine wäre eine gute Gelegenheit, die Krise als Chance zu begreifen.

Die Europäische Union ist eine sehr erfolgreiche Institution, stellt jedoch nicht Europa dar. Der Binnenmarkt ist ein großer Erfolg. Das bedeutet aber nicht, dass jegliche Zusammenarbeit innerhalb Europas im Rahmen der EU erfolgen muss. Es sollen auch die einzelnen Regionen im Staat in einem erfolgreichen Wettbewerb gefördert werden. Denn Wettbewerb bringt Spitzenleistungen, während Harmonisierung zu Mittelmäßigkeit führt.


Wir sehen trotz der Anstrengungen der EU in der Ukraine-Krise, dass Europa nur marginal involviert ist. Die Musik spielt in Washington und Moskau. Das müsste und sollte nicht so sein, zumal die Ukraine zutiefst europäisch ist. Europa würde eine starke Kooperation in der Außenpolitik und Verteidigung benötigen. Hier hat die EU kläglich versagt.

Es wäre wahrscheinlich einfacher, wenn im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine wirklich europäische Lösung williger Staaten außerhalb der Institution der Europäischen Union gefunden wird. Wichtig wäre die Teilnahme der großen Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Das Vereinigte Königreich hat außen- und sicherheitspolitisch am meisten Gewicht, weshalb eine Einbindung wichtig wäre. Auch Italien, Spanien und vor allem Polen sollten an einer Verteidigungsallianz mitwirken. Der Krieg in der Ukraine wäre eine gute Gelegenheit, die Krise als Chance zu begreifen.