Illustration von Europa, die mit Schwert in der Hand auf den Kontinent schaut

5 Ideen für Europa

Reports

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Auf den Punkt gebracht

  • Blick zurück. Offiziell gegründet wurde die EU am 1. November 1993. Erste Schritte in Richtung Union wurden aber bereits in den 1950er-Jahren unternommen.
  • Gunst der Stunde. Das kollektive Trauma des Zweiten Weltkriegs ebnete den Weg für eine Staatengemeinschaft, die Frieden und Kooperation zu ihrer Leitlinie machte.
  • (Un-)Einigkeit. Über die Jahrzehnte wuchsen die Zuständigkeitsbereiche des Staatenbundes – zum Wohlgefallen einiger und Missfallen anderer Mitgliedsstaaten.
  • Blick voraus. Schon vor Russlands Angriff auf die Ukraine schien die Zukunft der EU ungewiss. Nun ist es umso dringender, dass sich der Kontinent neu erfindet.

Ihre Kritiker und Verfechter sind sich einig: Die Europäische Union ist historisch einzigartig. Langjährige Erzfeinde, die mehrere blutige Kriege ausgefochten haben, teilen ihre Ressourcen, öffnen ihre Grenzen, verschmelzen ihre Märkte und treten Souveränität an einen Staatenbund ab. Jean Monnet, einer der französischen Gründerväter der Union, sagte 1952: „Wir vereinigen keine Staaten, sondern wir bringen Menschen zusammen.“ Das Friedensprojekt hat sich bewährt. Seit damals hat in Europa kein Staat einen anderen angegriffen – bis heute.

Mit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 kam es in Europa zu einer „Zeitenwende“, wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte. Und die Europäische Union steht vor der Entscheidung, in welche Richtung sie sich nun entwickeln soll.

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Die 5 größten Erfolge der EU

  • über 75 Jahre Frieden zwischen Mitgliedsstaaten seit Ende des 2. Weltkriegs
  • Freizügigkeit: offene Grenzbalken seit 1995 – ohne Visumpflicht oder Kontrollen
  • Erasmusprogramm: 10 Millionen Austauschstudenten
  • Binnenmarkt: zollfrei handeln und überall arbeiten, freier Waren- und Kapitalverkehr
  • Euro: wertstabil, global etabliert und identitätsstiftend

Die 5 größten Flops der EU

  • gemeinsame Außenpolitik: ewiges Embryostadium
  • Kommission Santer tritt 1999 wegen Korruption zurück
  • EU-Verfassung scheitert 2005 an Referenden
  • Flüchtlingskrise 2015: Dublin-Abkommen versagt
  • Brexit 2020: Zweitgrößte Volkswirtschaft springt ab

Gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik, bisher stiefmütterlich behandelt, steht nun weit oben auf der Agenda. Dazu gehören auch der Grenzschutz und die Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Liste der Herausforderungen ist damit jedoch nicht erschöpft. EU-Mitglieder haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von ihrer gemeinsamen Zukunft. Deutlich wird das dieser Tage, wenn die Franzosen und Ungarn ihre Staatsspitzen (wieder-)wählen.

Frankreichs amtierender Präsident Emmanuel Macron spricht etwa von „strategischer Autonomie“ für Europa. Das würde bedeuten, dass die EU in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen eigene Strukturen aufbaut, um die Abhängigkeit vom NATO-Partner USA zu reduzieren.

Viele Länder, viele Meinungsverschiedenheiten

Im Osten Europas will man die Amerikaner eher in die Pflicht nehmen, statt sich loszulösen. Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation deutlich gemacht, was er von einer gemeinsamen Außenpolitik hält: „In den vergangenen Jahren habe auch ich eingesehen, dass wir die außenpolitische Marschroute der Europäischen Union nicht ändern können, und so haben wir anstatt überflüssiger Diskussionen lieber ein ungarisches Modell ausgearbeitet und es genutzt.“ Ungarn setzt auf die NATO und gute Kanäle nach Moskau, aber nicht auf Brüssel.

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Zahlen & Fakten

EU-Flaggen
Seit dem Austritt Großbritanniens besteht die EU nurmehr aus 27 Staaten. © Guillaume Périgois/Unsplash
  • 46 Staaten liegen ganz oder teilweise auf dem europäischen Kontinent. Fast die Hälfte ist also nicht Teil der Europäischen Union.
  • 41 Prozent beträgt der Anteil der EU an der Gesamtfläche Europas.
  • 750 Millionen Menschen leben in Europa, rund 60 Prozent davon sind EU-Bürger.
  • 4 EU-Länder können eine Entscheidung, die keine Einstimmigkeit ­erfordert, blockieren, sofern sie 35 Prozent der Be­völkerung vertreten, zum Beispiel ­Österreich, Deutschland, ­Italien und die Niederlande.
  • 64 Millionen Tote forderten Kriege in ­Europa seit 1800, seit der ­Gründung der EWG 1957 gab es rund 100.000 Kampftote auf dem Kontinent.
  • 250 Milliarden Euro beträgt der Wert aller Güter, die im Jahr 2020 zwischen EU-Ländern gehandelt ­wurden.

Der Krieg beeinflusst auch andere wichtige Baustellen in Europa, für die es noch keine gemeinsame Vision gibt: Die infolge des Konflikts weiter gestiegenen Energiepreise werfen die Frage auf, ob zusätzliche CO2-Steuern den Bogen nicht überspannen. Die Abhängigkeit von russischem Erdgas befeuert außerdem die Debatte, ob sich die EU nicht ganz schnell von diesem Energieträger emanzipieren soll. Das wäre teuer, birgt aber auch die Chance, den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu beschleunigen und dem Klima zu dienen.

Neu ist, dass die Verteilung von EU-Mitteln an das rechtsstaatliche Verhalten der Mitgliedsländer geknüpft werden kann, was wiederum Ungarn, aber auch Polen unter Druck setzt. Ein interessanter Aspekt daran: Verstöße gegen gemeinsame Regeln – etwa wegen Verletzung der Schuldengrenze durch Deutschland – hatten bisher nie ernste Konsequenzen. Wie werden Ungarn und Polen reagieren, sollte ihnen nun EU-Geld gestrichen werden?

Bruchlinie Geldpolitik

Auch in der europäischen Geldpolitik kam es zu großen Umbrüchen, ohne dass der weitere Weg klar abgesteckt wäre. Infolge der Euro-Krise und der Pandemie hat die Europäische Zentralbank (EZB) ordentlich auf den Putz gehauen. Mit einer Politik der Nullzinsen und massiven Ankäufen von Staatsanleihen steht die Notenbank als oberste Krisenbekämpferin da – alles unter dem Deckmantel ihres eigentlichen Mandats, für stabile Preise zu sorgen. Seit die Inflationsraten in die Höhe geschnellt sind, wächst der Druck der Bevölkerung und der Sparer.

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Zahlen & Fakten

Made with Flourish

Auch in der Geldpolitik gibt es eine Bruchlinie: Hoch verschuldete Länder sind stärker auf Nullzinsen angewiesen als solche mit solideren Staatsfinanzen. Die Zentralbank steht vor einer Zerreißprobe. Wie ernst die Lage ist, zeigt der Brexit: Wie immer man zum Entscheid der Briten stehen mag, er war jedenfalls ein Schuss vor den Bug. Zentralistische Regulierung, noch dazu bis in kleinste Details, ist in vielen Staaten verpönt. Die Rolle der Briten im Ukraine-Konflikt macht zudem klarer denn je, dass die EU nicht Europa ist.

Fünf Visionen für Europa

Illustration von Europa, die vor fünf Torbögen steht und sich entscheiden muss
Die Qual der Wahl? Europa muss sich für einen Weg in die Zukunft entscheiden. © Bernd Ertl

All diese Herausforderungen, von Sicherheit über Klima bis zur Wirtschaft, haben eines gemeinsam: Sie verlangen nach Entscheidungen der EU-Länder, ob man sie an Brüssel delegiert oder national angeht. Darum hat Der Pragmaticus fünf Experten mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln gebeten, ihre Vision für die EU darzulegen:

  1. Die Schweizer Philosophin Katja Gentinetta sieht in der gegenwärtigen Krise zumindest die Chance, dass die EU ihre Werte und Rechte gegen innere wie äußere Feinde durchsetzt. Dazu müsse sie zu einer echten Föderation werden, wie es die USA sind: die Vereinigten Staaten von Europa.
  2. Michael Leigh stellt sich die Zukunft Europas anders vor. Der Professor für Internationale Beziehungen und ehemalige hohe EU-Beamte verortet die Stärke Brüssels im regulatorischen und wirtschaftlichen Bereich. Dagegen mache Brüssel auf der geopolitischen Bühne keine gute Figur. Daher sollte die EU die Finger von Sicherheits- und Außenpolitik lassen.
  3. Sich zu einem Staatenbund zusammenzuschließen oder den Binnenmarkt wesentlich zu vertiefen geht nur einstimmig. Darin sieht Christoph Leitl, der ehemalige Präsident der europäischen sowie der österreichischen Wirtschaftskammer, das Kernproblem der EU. Die 27 Staaten seien zu unterschiedlich, um noch handlungsfähig zu sein. Ein Kerneuropa rund um Frankreich und Deutschland müsse vorpreschen und der EU eine glaubhafte Stimme auf der Weltbühne verleihen.
  4. Bei all den Streitigkeiten gehe manchen der Blick auf die Erfolge der EU verloren, argumentiert Rainer Münz, langjähriger Berater des damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Europa sei so weit gekommen, weil es spontan, aber effektiv auf Krisen reagierte. Die aktuelle Situation erfordere zwar neue Lösungen, man verfüge aber über bewährte Lösungswege.
  5. Was selbst EU-Kritiker eher selten aufs Tapet bringen, ist die Idee, die Union gleich ganz aufzulösen. Doch genau das befürwortet der libertäre Philosoph Hans-Hermann Hoppe. Der Zentralismus, für den Brüssel stehe, führe geradewegs ins Verderben, meint Hoppe. Denn für ihn ist jeder Staat ein Bandit – je kleiner und schwächer, desto besser.

Fünf unterschiedliche Wege führen in eine ungewisse Zukunft, doch eines hat Europa bewiesen: Stehengeblieben ist es noch nie.