Europas Werte – mehr als eine Phrase

Griechische Philosophie, römisches Recht und christliche Tugenden sind die Fundamente der europäischen Zivilisation. Wer sie hochhält, strebt nach Frieden, Weisheit und gleichen Rechten für alle Menschen.

Illustration zu europäischen Werten mit Akropolis, Golgotha und Justizia
Europas Werte fußen auf jahrtausendealten Kulturtraditionen – und sind die Basis unserer Zivilisation. © Collage: Eva Vasari; Fotos: Getty Images, Pixabay

Werte, Tugenden und Manieren prägen das Leben jedes Einzelnen. Sie sind gleichzeitig die Basis und das Verbindende von Kulturen und Zivilisationen. Kurz: Werte sind das Fundament einer Gesellschaft. Ohne Sinn für ihre grundlegenden Werte und deren geschichtliche Herkunft verliert eine Gesellschaft ihren Zusammenhalt und ist kaum mehr imstande, ihr Gesellschaftssystem zu schützen und zu erhalten. Nur eine Gesellschaft, die sich ihrer Werte bewusst ist, kann vertrauensvoll in die Zukunft blicken.

Auf welchen Werten basiert die europäische Zivilisation? Zu dieser Frage möchte ich Theodor Heuss, den ersten deutschen Bundespräsidenten, zitieren: „Die europäische Zivilisation ruht auf drei Hügeln: auf der Akropolis, auf dem Kapitol und auf Golgatha. Griechische Philosophie, römisches Recht und christlicher Glaube sind die Säulen der europäischen Kultur.“

Die europäische Zivilisation ruht auf drei Hügeln: der Akropolis, dem Kapitol und Golgatha.

Theodor Heuss (Erster Bundespräsident Deutschlands)

Darauf aufbauend heißt es in Artikel 2 des revidierten Vertrages über die Europäische Union: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.“ 

Der Wertebegriff „Würde des Menschen“ steht nach den politischen und moralischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Zentrum moderner Verfassungen und Rechtsvorstellungen in Europa. Ideengeschichtlich speist er sich aus Quellen der Bibel und der griechischen Philosophie. Nach christlicher Auffassung steht allen Menschen die gleiche Würde zu. Paulus formulierte das im Brief an die Galater (Gal 3,28): „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚Einer‘ in Christus Jesus.“ Die christliche Religion betont damit als erste die Gleichheit aller Menschen, im Gegensatz zu Rom und Athen, wo Sklaven ganz selbstverständlich zum Alltag gehören.

Antiker römischer Hofsaal, Holzstich aus 1862
Im alten Rom gehört die Gerichtsbarkeit zur Normalität – mit all ihren Besonderheiten. Amtsdiener tragen den Amtsinhabern Bündel (fasces) mit Ruten und ­Äxten voraus, wobei Letztere die Todesstrafe symbolisieren. © Getty Images

Die Würde des Einzelnen

Die christliche Überzeugung, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, traf auf das philosophische Konzept der „dignitas“, der Würde, das vor allem von der griechisch-römischen Philosophenschule der Stoa ausgebildet worden war. Die Stoiker sahen „dignitas“ unabhängig von einem Amt, das jemandem übertragen wurde, oder einem Rang, den man im öffentlichen Leben einnahm, oder überhaupt des Ansehens, das man bei anderen erworben hat. Jeder Mensch ist nach dieser Philosophie ein Abkömmling der Götter und besitzt Würde aufgrund seiner Fähigkeit zu Vernunft und freiem Willen. Der zentrale Punkt, um den es geht, ist der Respekt vor der Person jedes Einzelnen. Die Würde des Menschen ist ein universaler Wert. 

Besonders schön spiegelt sich dieser Respekt vor dem anderen, die grundsätzliche Würde, die man ihm zuschreibt, meiner Meinung nach in der indischen Tradition – und zwar bereits in der einfachen Geste, wenn ein frommer Hindu sein Gegenüber mit „Namasté“ begrüßt. Einer Überlieferung nach soll Mahatma Gandhi auf die Frage Albert Einsteins, was er denn mit dem Gruß ausdrücken wolle, dem Wissenschaftler geantwortet haben: „Ich ehre den Platz in dir, in dem das gesamte Universum residiert. Ich ehre den Platz des Lichts, der Liebe, der Wahrheit, des Friedens und der Weisheit in dir. Ich ehre den Platz in dir, wo, wenn du dort bist und auch ich dort bin, wir beide nur noch eins sind.“

Alexander der Große als Jugendlicher, der seinem Lehrmeister Aristoteles zuhört, Illustration circa 1875
Alexander der Große und sein Lehrer Aristoteles. Die Erziehung des makedonischen Herrschers basierte auf Verstand und Logik, weil sie entscheidend für ein glückliches Leben sind. © Getty Images

Die Achtung der Würde aller Menschen ist ein schönes Ideal. Doch ihre praktische Umsetzung fällt nicht vom Himmel. Der Respekt vor anderen Menschen ist, wie wir im Alltag immer wieder feststellen müssen, nicht naturgegeben, sondern abhängig von den Werten, die Menschen in einer Gemeinschaft verinnerlicht haben. In der westlichen Welt wird man bis heute zumeist auf den Wertmaßstab des Christentums verwiesen, wenn man fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verurteilen ist, doch viele können mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion nichts mehr anfangen.

Kompass fürs Leben

Viele Menschen orientieren sich heute auch bei weltanschaulichen Fragen an den Naturwissenschaften. Der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg schreibt in seiner Autobiografie „Der Teil und das Ganze“: „Die Frage nach den Werten – das ist doch die Frage nach dem, was wir anstreben, wie wir uns verhalten sollen. Die Frage ist also vom Menschen und relativ zum Menschen gestellt; es ist die Frage nach dem Kompass, nach dem wir uns richten sollen, wenn wir unseren Weg durchs Leben suchen. Dieser Kompass hat in den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sehr verschiedene Namen erhalten: das Glück, der Wille Gottes, der Sinn, um nur einige zu nennen.

Die Verschiedenheit der Namen weist auf tiefgehende Unterschiede in der Struktur des Bewusstseins der Menschengruppen hin, die ihren Kompass so genannt haben. Ich will diese Unterschiede sicher nicht verkleinern. Aber ich habe doch den Eindruck, dass es sich in allen Formulierungen um die Beziehungen des Menschen zur zentralen Ordnung der Welt handelt.“

Heisenberg gehörte in den 1920er-Jahren zu den Pionieren der modernen Physik, der sogenannten Quantenphysik. Sie löste eine technologische Revolution aus, die das moderne Leben heute prägt, vom Computer bis zur Atombombe. Heisenberg betonte jedoch immer, dass er die weltanschaulichen Konsequenzen, die sich aus der modernen Physik ergeben, noch für weit revolutionärer hält als all die technologischen Neuerungen.

Wenn Damönen regieren

Unter den Menschen und den Völkern kann es große Verwirrung geben. Nach Heisenberg „können sozusagen die Dämonen regieren und ihr Unwesen treiben, oder, um es mehr naturwissenschaftlich auszudrücken, es können Teilordnungen wirksam werden, die mit der zentralen Ordnung nicht zusammenpassen, die von ihr abgetrennt sind. Aber letzten Endes setzt sich doch wohl immer die zentrale Ordnung durch, das ‚Eine‘, um in der antiken Terminologie zu bleiben, zu dem wir in der Sprache der Religion in Beziehung treten. Wenn nach den Werten gefragt wird, so scheint also die Forderung zu lauten, dass wir im Sinne dieser zentralen Ordnung handeln sollen“, meint Heisenberg.

Wer Welt und Menschen als abgespaltene Teilchen oder als Maschinen betrachtet, verliert seine Werte.

Während das naturwissenschaftliche Weltbild der vergangenen 400 Jahre das Trennende in den Fokus stellte, hat die moderne Physik das Verbindende wiederentdeckt: „Ein Teil hat für sich allein keine Bedeutung, sondern nur in Verbindung mit dem Ganzen“, erkannten Physiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sie versuchten, Materie in ihre kleinsten Bestandteile zu spalten. Ihre Erkenntnis: „Die Welt ist im Grunde ein unteilbares Ganzes, das sich uns als Vielheit offenbart.“ Die Kernspaltung ist, so gesehen, der materielle Ausdruck der Abspaltung von unserem Wesenskern. Wer Welt und Menschen als abgespaltene Teilchen oder als Maschinen betrachtet, verliert seine Werte. Denn Maschinen haben kein Gewissen. Sie tun alles.

Wenn wir die Welt nun wieder als Einheit begreifen, dann gewinnen auch mitunter vernachlässigte Werte wie Mitgefühl, Empathie und die Würde des Menschen neue Bedeutung. In Auseinandersetzungen – wie etwa beim gegenwärtigen Krieg in der Ukraine – kann es dann kein Ziel mehr sein, den Feind zu vernichten. Es kann nur noch darum gehen, die Feindschaft zu besiegen.