Ein Virus und die Grundrechte
In der Pandemie sind viele Bürger bereit, ihre Freiheiten zu opfern. Doch die Gefahr ist groß, dass Notverordnungen zu Dauerlösungen werden. Jetzt sind die Parlamente gefordert, Allmachtsfantasien der Regierenden zu bremsen.
Auf den Punkt gebracht
- Nimm dir in der Not. In Krisenzeiten ist es für Regierungen einfacher, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen – vor allem bei der Informations- und Meinungsfreiheit.
- Dann hast du in der Zeit. Doch die Verlockung ist groß, manch praktisches Gesetz auch nach Ende der jeweiligen Krise aufrecht zu erhalten.
- Alles, was Recht ist. Während des Corona-Lockdowns akzeptieren viele Bevölkerungen Maßnahmen, die (verfassungs-)juristisch problematisch sind.
- Schlechtes Vorbild China. Zu Beginn wollte China Corona vor der Welt verheimlichen. Jetzt will es beweisen, dass das Problem nur mit Disziplin zu lösen ist.
Im Jahr 1947 veröffentlichte Albert Camus seinen Roman Die Pest. Darin behandelt ein Arzt in der algerischen Stadt Oran das erste Opfer der Krankheit und erkennt schnell das Ausmaß der Bedrohung. Er warnt die lethargische Obrigkeit und fordert sie zu raschem Handeln auf. Die Zivilbehörden verhängen daraufhin das Kriegsrecht, verordnen Ausgangssperren und schränken die Menschenrechte ein – und untergraben so die Moral der Bevölkerung. Zwischen dem Roman und den aktuellen Ereignissen gibt es unbequeme Parallelen.
Im Jahr 2020 mutete die Coronavirus-Pandemie surreal und dystopisch an, bizarrer als jede Fiktion. Jeden Tag starben tausende Menschen und öffentliche Gebäude wurden zu Krankenhäusern umfunktioniert. Angesehene Wissenschaftler stritten sich über die Anzahl der zu erwartenden Todesfälle und die Frage, ob die Wirtschaft heruntergefahren und Lockdowns verhängt werden sollen. Währenddessen fragen wir uns, wann das alles enden wird – und welche langfristigen Auswirkungen uns erwarten.
Zahlen & Fakten
Verlust der Freiheiten
Camus' Roman wirft auch andere ernsthafte Fragen auf. Was bedeutet es, Mensch zu sein? Und wie schnell können wir demokratische, soziale, gemeinschaftliche und persönliche Errungenschaften wieder verlieren? Oder, im übertragenen Sinne: Wie werden wir mit den Folgen der brüchig gewordenen Bindungen in Institutionen wie der Europäischen Union umgehen – oder der Enthüllung eklatanter Ungleichheit in der Gesellschaft?
Wir müssen darauf bestehen, dass die Regierungen die Befugnisse zügig an die Parlamente und die Menschen zurückgeben.
Wenn wir „die Lampen, die in ganz Europa ausgegangen sind“ – wie Sir Edward Grey es zu Beginn des Ersten Weltkriegs formulierte – wieder anzünden, werden wir vor einer so hohen Anzahl von Arbeitslosen und Insolvenzen stehen, wie seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr. Wir werden außerdem mit der Versuchung konfrontiert sein, die Notstandsgesetze in Kraft zu lassen. Allzu leicht können uns unsere Freiheiten und Rechte entgleiten. Wir müssen darauf bestehen, dass die Regierungen die Befugnisse, die sie übernommen haben, zügig an die Parlamente und die Menschen zurückgeben. Die Machthaber gewöhnen sich viel zu schnell an jene Rechte, die sie in Zeiten der Gefahr „vorübergehend“ erhalten haben.
Historisches Warnsignal
Dafür gibt es historische Vorbilder. Im Jahr 1911 erließ das britische Parlament vor dem Hintergrund von Spionage und der zweiten Marokko-Krise den „Official Secrets Act“. Nach weniger als 30 Minuten war das Gesetz, das weitreichende Straftatbestände etablierte, im Parlament beschlossen. Absatz 1 des neuen Gesetzes war auf jeden anwendbar, der „zu jedwedem Nachteil für die Sicherheit oder die Interessen des Staates“ handelte – und im Jahr 1962 urteilten die Obersten Richter des Vereinigten Königreichs, dass derselbe Absatz auch auf jeden anwendbar sei, der sich an Sabotage oder anderen physischen Eingriffen beteiligte.
Der Weltkrieg und die nachfolgenden schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten hatten der Regierung die Gelegenheit geboten, sich Befugnisse zu beschaffen, die ihr in normalen Zeiten verweigert worden wären. Tatsächlich blieben die Gesetze zum Schutz von Staatsgeheimnissen jahrzehntelang bestehen; Teile des „Official Secrets Act“ sind noch heute in Kraft.
In Stein gemeißelt
Zwei Weltkriege inklusive Masseninternierungen und Umsiedlungsaktionen fanden in einer Welt statt, in der im Namen der nationalen Sicherheit Zeitungen zensiert wurden und Verschwiegenheit das Gebot der Stunde war. Die im Jahr 1912 eingeführten „Defence and Security Media Advisory Notices“ – mit denen Herausgeber von Zeitungen dazu aufgefordert wurden, Nachrichten, die die nationale Sicherheit bedrohen könnten, nicht zu veröffentlichen – werden im Vereinigten Königreich noch heute verwendet.
Es erweist sich als sehr viel schwieriger, staatliche Befugnisse wieder aufzuheben, als sie einzuführen.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb der Minister des Kabinetts und „Lord President of the Council“ Herbert Morrison: „Wir haben während des Krieges viel dazugelernt und sollten nicht zur alten Zaghaftigkeit und Zurückhaltung zurückkehren“. Er drängte auf eine Aufhebung der Beschränkungen der freien Rede, da diese in Friedenszeiten dazu missbraucht würde, eine freie und demokratische Gesellschaft zu untergraben. Doch es erweist sich als sehr viel schwieriger, staatliche Befugnisse wieder aufzuheben, als sie einzuführen.
Warnrufe
Der ausgeschiedene Richter des Obersten Gerichtshofs Lord Jonathan Sumption warnte im März 2020 davor, dass die neuen Befugnisse der britischen Regierung „offen gesagt eine Schande [seien]. So sieht ein Polizeistaat aus.“ Er akzeptierte zwar, dass es Befugnisse brauche, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Doch er stellte infrage, ob wir das Recht hätten, „unsere Bevölkerung unter Hausarrest zu stellen“. Es darf aber daran gezweifelt werden, dass dies die Absicht von Boris Johnson war, der sich selbst von einer schweren Corona-Erkrankung erholte.
In Schottland versuchte die Regierung unter Nicola Sturgeon, Schwurgerichtsverhandlungen für die Dauer von 18 Monaten auszusetzen – unter dem Vorwand, Bürger vor Covid-19 schützen zu wollen. Erfahrene Anwälte warnten, dass die Verhandlungen nicht wieder eingeführt werden würden, wenn sie einmal beendet sind. Das Recht auf eine Verhandlung vor einem Geschworenengericht, das in Artikel 39 der Magna Carta festgelegt wurde, ist aber ein Eckpfeiler des britischen Rechtssystems. Im Jahr 1798 sagte Thomas Jefferson zu Thomas Paine: „Ich halte das Geschworenengericht für den einzigen Anker, den der Mensch je erdacht hat, durch den eine Regierung an die Prinzipien ihrer Verfassung gebunden werden kann“.
Chinas langer Arm
Natürlich leben wir weder im Dritten Reich noch im kommunistischen China. Aber in der Corona-Krise hat die chinesische Regierung gezeigt, welche Macht und Kontrolle sie über ihr Volk ausübt. Der Augenarzt Li Wenliang, der die Welt vor der bevorstehenden Katastrophe warnte, war gezwungen, seine Aussagen im Januar 2020 zu widerrufen. Er starb kurz darauf mit drei weiteren Ärzten in seinem Hospital in Wuhan an Covid-19. Inzwischen müssen Bürger eine App auf ihren Smartphones haben, um reisen zu dürfen. Die App zeigt farbcodiert den Gesundheitszustand an; mit der falschen Farbe dürfen Bürger keine U-Bahnen benutzen und viele öffentliche Gebäude nicht betreten. Bei Verstoß drohen drakonische Strafen.
Dem Staat die Erlaubnis zu erteilen, Standorte zu verfolgen und diese Daten anderen Organisationen zur Verfügung zu stellen, ist eine klare Verletzung der Bürgerrechte und der Datenschutzgesetze. Noch haben wir die Orwellsche Überwachungstechnologie der Chinesen nicht eingeführt – aber viele Bürger scheinen sich der Gefahren nicht bewusst zu sein. Laut Umfrage einer britischen Zeitung waren 86 Prozent der Briten bereit, für die Bekämpfung des Coronavirus Bürgerrechte aufzugeben. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man aus altruistischen Motiven zeitweise Rechte an den Staat abgibt, die das Volk ihm unter großen Opfern im Lauf von Jahrhunderten abgerungen hat, oder ob man diese Rechte dauerhaft aufgibt.
Reale Fiktion
In Die Pest beschreibt Albert Camus die Auswirkungen von Lockdown und Kriegsrecht auf eine leidende und demoralisierte Bevölkerung. Das war Fiktion. Doch heute erleben wir die ersten Anzeichen von Mutlosigkeit, psychischen Erkrankungen und Zuwiderhandlungen. Familien mit Kindern waren oder sind in Wohnblocks ohne Gärten eingesperrt, während für isolierte Senioren die Sozialen Medien zum einzigen menschlichen Kontakt wurden. Diese Menschen brauchen Hilfe, keine Androhungen von Geld- oder Gefängnisstrafen – und schon gar nicht den Verlust wertvoller Menschen- und Bürgerrechte.
Die Parlamente müssen darauf achten, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht der Epidemie zum Opfer fallen.
Gute Regierungen könnten veranlasst sein, sich im öffentlichen Interesse schlechte Befugnisse anzueignen. Die Zukunft birgt die Gefahr, dass schlechte Regierungen diese Befugnisse behalten. Die Parlamente während der Corona-Krise müssen darauf achten, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht der Epidemie zum Opfer fallen.
Conclusio
Während der Corona-Krise geben Bürger vielerorts Grundrechte an ihre Regierungen ab. Historische Beispiele warnen davor, dass Sonderrechte nach Krisen auch dauerhaft in Kraft bleiben können. Krisen geben Regierungen die Gelegenheit, sich Befugnisse zu beschaffen, die ihnen in normalen Zeiten verweigert würden. Diese Befugnisse wieder abzuschaffen ist aber schwieriger, als sie einzuführen. Die Regierungen müssen den Menschen nach der Krise alle Rechte zurückgeben, für die diese oft jahrhundertelang gekämpft haben. Vor allem die Parlamente müssen sich dafür einsetzen.