War der Holodomor ein Völkermord?

Das europäische Parlament hat die von Stalin in den 1930er Jahren herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine als Völkermord verurteilt. Österreichs Parlament hat diesen Begriff vermieden. Wer hat Recht?

Foto der Bronzeskulptur eine Mädchens mit langen Zöpfen zu deren Füßen auf dem Sockel viele Kerzen und Weizenbüschel, Äpfel, Fahnen und Blumen liegen. Das Bild zeigt das Gedenken an den Holodomor, der international nicht als Völkermord gilt.
Gedenken an den Holodomor („Mord durch Hunger“) am 28. November 2020 in Kiew. Die Gedenkstätte mit der Mädchenfigur und einem Museum gibt es seit 2006. © Getty Images

Die Frage, ob Wladimir Putin in der Ukraine einen „genozidalen“ Krieg gegen das ukrainische Volk – und nicht „nur“ den ukrainischen Staat – führt, spaltet die juristischen Gemüter.

Dabei werden auch historische Parallelen bemüht: Schließlich starben zwischen 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Millionen Menschen an einer gezielt herbeigeführten Hungersnot – der Holodomor. Ein Verbrechen, für das es bis heute keine allgemein akzeptierte Einstufung gibt: Völkermord ja oder nein?

Was ist Völkermord?

Der historische Ursprung dieses Begriffs ist wohlbekannt. Der polnische Jurist Raphael Lemkin gelangte während des Zweiten Weltkriegs zur bitteren Erkenntnis, dass die Gräuel des Nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Mithelfer einen neuen (juristischen) Tatbestand brauchen. Das Resultat war das Konzept des „Genozids“: eine Mischung aus dem griechischen Wort für Volk – genos – und dem lateinischen für Töten – caedere (im Deutschen spricht man auch von Völkermord).

In Schriftform finden wir diesen Neologismus erstmals 1944, also knapp vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in Lemkins Buch Axis Rule in Occupied Europe. Darin beschrieb er anhand von Original-Dokumenten minutiös, wie das Vorgehen der Achsenmächte in den von ihnen besetzten Gebieten gegen damals geltendes Völkerrecht verstieß.

Schwarzweiß Foto des Leichnams einer jungen Frau, die mit einer Decke bedeckt auf der Seite liegt. Die junge Frau ist das Opfer einer Hungersnot. Das Bild gehört zu einem Beitrag über den Holodomor in der Ukraine, dessen Anerkennung als Völkermord oder Genozid noch strittig ist.
Die junge Frau wurde im Januar 1934 in der Nähe von Poltavar gefunden. Wieviele Menschen durch die Hungersnot starben, ist nicht bekannt. Schätzungen sprechen von drei bis sieben Millionen Opfern. © Getty Images

Bei den daran anschließenden Nürnberger Prozessen spielte der Begriff des Völkermords allerdings noch keine entscheidende Rolle: Er sollte sich erst 1948 mit einer entsprechenden und bis heute geltenden Konvention durchsetzen. Sie definiert den Genozid als fünf Verbrechen, etwa Mord oder die Herbeiführung von desaströsen Lebensbedingungen, die mit der Absicht begangen werden, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Dieser gezielte Vorsatz, juristisch spricht man von dolus directus, ist das Wesensmerkmal eines Völkermords. Er unterscheidet den Völkermord von den anderen „großen“ (im negativen Sinne) völkerrechtlichen Straftatbeständen, allen voran den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Statut des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg ausdrücklich genannt wurden (in Artikel 6). Hier braucht es keinen gezielten Vorsatz. Vielmehr kommt es darauf an, ob einzelne Verbrechen wie die vorsätzliche Tötung, Versklavung, Ausrottung, Folter, Vertreibung oder Vergewaltigung im Rahmen eines „ausgedehnten“ oder „systematischen“ Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden. Dadurch werden die einzelnen Straftatbestände zusätzlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Damit sind wir bei einem weit verbreiteten Missverständnis: Völkermord ist, auch wenn das Wort anderes vermitteln mag, keine Frage von (Todes-)Zahlen. Staatlich organisierter Massenmord kann ein Indikator sein, reicht für sich genommen aber noch nicht aus, um von Völkermord zu sprechen.

Genau das macht die rechtliche Beurteilung des Holodomors so umstritten: Manche leiten schon alleine aus der überproportional hohen Anzahl ukrainischer Todesopfer einen genozidalen Vorsatz ab. Andere sind vorsichtiger und betonen, dass Stalin einen „Klassenfeind“, nicht aber das Volk der Ukraine als solches teilweise auslöschen wollte.

Im Gegensatz zu eindeutigen Fällen von Genozid, vom Holocaust bis hin zu Ruanda und Srebrenica, wurde der Holodomor völkerstrafrechtlich nie abschließend geklärt. Damit bleibt die Beurteilung den Nicht-(Osteuropa-)Historikern überlassen, die sich jedoch uneins sind. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Lemkin selbst – zögerlich, aber doch – den Holodomor als Völkermord eingestuft hat. Umgekehrt hatte die Sowjetunion versucht, die Definition des Genozids so zu formulieren, dass die gezielte Hungersnot in der Ukraine eben nicht darunter fallen sollte.

Hunger als Methode des Genozid?

Das Europäische Parlament hat dieses Verbrechen nun dennoch als Völkermord bezeichnet. Der österreichische Nationalrat geht weniger weit und verurteilt die gegenwärtige russische Strategie, „Hunger als Kriegswaffe“ einzusetzen zu verurteilen und erkennt „das schreckliche Verbrechen des Holodomor“ an, ohne dabei jedoch von einem Völkermord zu sprechen. Damit ändert sich nicht viel, im Grund genommen deckt es sich mit einer ähnlichen Formulierung des Europäischen Parlament von 2008, die von diesem Begriff noch ausdrücklich Abstand gehalten hatte.

Schwarzweiß Foto von zwei Jungen mit Stoffsäcken die in einer Grube stehen und Kartoffeln von Erde reinigen. Das Bild zeigt die Folgen des Holodomor, der international aber nicht als Völkermord gilt.
Zwei Jungen haben 1934 das Kartoffel-Versteck einer Frau entdeckt, die wegen des „Hortens von Lebensmitteln“ verhaftet und nach Sibirien deportiert worden war. Die Polizisten der Geheimpolizei GPU hatten das Versteck übersehen. © Getty Images

Jetzt kann man die zustimmenden Abgeordneten für typisch österreichische Zaghaftigkeit kritisieren. Oder den Sonderstatus des Völkermords hinterfragen: Manche meinen ja, dass es für viele Betroffene von Mord und ähnlichen Handlungen letztlich nicht allzu wichtig sein dürfte, ob sie einem Genozid oder „nur“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Opfer gefallen sind.

Andere betonen wiederum, dass die Verfolgung aufgrund angeborener Merkmale etwas fundamental anderes – und schlimmeres – ist als ausgedehnte oder systematische Angriffe gegen Zivilisten, bei denen Nation, Ethnie oder Religion keine Rolle spielen. Eine Grundsatzfrage, für die es keine allgemeine und zufrieden stellende Antwort geben kann. Ich belasse sie damit bei Ihnen.

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