
Bosnien: Schatten der Vergangenheit
Essay
Und ewig lockt die Nation
Am 19. Mai 2023 starb Dževad Karahasan in Graz. In diesem Beitrag schrieb er über die Wirkung von Nationalismus: „Die Zugehörigkeit zu einem großen Kollektiv ohne klare Grenzen macht die Dinge einfach und äußerst bequem.“
Reports & Podcast
Bosniens löchriger Frieden
Bosnien in der Populismus-Falle
Türkei: Konkurrenz am Balkan
Balkan, ein ewiger Brennpunkt?
Auf den Punkt gebracht
- Bürgerkrieg. Vor 30 Jahren begann der Krieg in Bosnien und Herzegowina, der insgesamt drei Jahre dauern und rund 100.000 Menschenleben kosten sollte.
- Trennlinien. Serben, Kroaten und Bosniaken kämpften für ihre Unabhängigkeit – in einer Region, in der sich die Volksgruppen jahrhundertelang vermischt hatten.
- Menschenrechtsverletzungen. Im Juli 1995 kam es zum größten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des 2. Weltkriegs: dem Völkermord von Srebrenica.
- Neuordnung. Kurz darauf folgte der Frieden von Dayton. Ein gemeinsames Narrativ hat Bosnien aber bis heute nicht gefunden – und die Nationalismen kehren zurück.
Es gibt Jubiläen, die Tragödien in Erinnerung rufen. Es war im Frühjahr 1992, als sich Gewitterwolken über Bosnien und Herzegowina zusammenbrauten. Im zerfallenden Vielvölkerstaat Ex-Jugoslawien ging es um eine Neuordnung zwischen den Volksgruppen. Die bosnischen Serben wollten einen Anschluss an Serbien, die bosnischen Kroaten einen an Kroatien, die überwiegend muslimischen Bosniaken strebten einen unabhängigen Staat an.
Mehr im Dossier Bosnien
- Dževad Karahasan: Und ewig lockt die Nation
- Christian Schmidt: Bosniens löchriger Frieden
- Valentin Inzko: Bosnien in der Populismus-Falle
- Rasim Marz: Türkei: Konkurrenz am Balkan
- Der Pragmaticus: Podcast: Balkan, ein ewiger Brennpunkt?
Eine Volksabstimmung und in der Folge die Unabhängigkeitserklärung am 2. März führten Anfang April zum Ausbruch eines Bürgerkrieges, der drei Jahre dauerte und 100.000 Menschen das Leben kostete. Es war ein schmutziger Krieg mit ethnischen Säuberungen, Massenmorden und Vergewaltigungen.
Als 1995 das Abkommen von Dayton, Ohio, geschlossen wurde, gab es ein weltweites Aufatmen. Seit damals gibt es zwei Teilrepubliken: die Republika Srpska – sie macht 49 Prozent des Territoriums aus und ist überwiegend von bosnischen Serben bewohnt – und die Bosniakisch-Kroatische Föderation. Es gibt ein Zwei-Kammer-Parlament, ein dreiköpfiges Staatspräsidium, einen Ministerrat, dazu ein Verfassungsgericht und eine Zentralbank. Ein von den Vereinten Nationen berufener Hoher Repräsentant wacht bis heute über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen. Dafür wurde Bosnien auch die finanzielle Hilfe der internationalen Gemeinschaft zugesagt. 14 Milliarden US-Dollar flossen ins Land.
Von den Illyrern zum Drei-Völker-Staat
229 bis 167 v. Chr. | Das von Illyrern bewohnte Gebiet wird in mehreren Kriegen von der römischen Republik erobert und schließlich als Illyricum in das Reich eingegliedert. |
6. bis 9. Jahrhundert | Slawische Stämme besiedeln den Balkan. Kroaten und Serben gründen Fürstentümer. |
1448 | Eroberung durch die Osmanen. In den folgenden 400 Jahren konvertieren viele Bosnier zum Islam. |
1887 | Bosnien und Herzegowina fallen am Berliner Kongress dem Verwaltungsgebiet Österreich-Ungarn zu und werden 1908 annektiert. |
1914 | Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand durch einen serbischen Nationalisten in Sarajewo. Ausbruch des Ersten Weltkriegs. |
1918 | Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen wird ausgerufen. Zwischen den drei ethnischen Gruppen kommt es zu Spannungen. |
1941 | Deutsche Truppen erobern Jugoslawien. Muslimische Bosniaken müssen zum Katholizismus zwangskonvertieren. |
1945 | Josip Broz Tito gründet die Volksrepublik Jugoslawien, zu der auch Bosnien und Herzegowina gehört, und betreibt eine von der Sowjetunion unabhängige Politik. |
1970 | Die Wirtschaftskrise lässt den Nationalismus auf allen Seiten wieder aufflammen. Mit dem Tod Titos 1980 beginnt der Zerfall des Staates. |
1992-1995 | Bosnienkrieg zwischen den drei ethnischen Gruppen und weiteren Akteuren mit 100.000 Toten. |
ab 1995 | Seit dem Dayton-Vertrag wird der Frieden immer wieder durch politische Spannungen bedroht. |
Zurück in alte Muster
Der Krieg war 1995 vorbei, der Aufbau des Landes schritt voran. Nach anfänglicher Euphorie kehrte um 2006 Ernüchterung ein, bilanziert der einstige Hohe Repräsentant Valentin Inzko. „Die internationale Gemeinschaft beschloss, sich zurückzuziehen und das Land Schritt um Schritt sich selbst zu überlassen“, erinnert er sich. Doch die Volksgruppen begannen sich wieder auf ihre eigenen Positionen zurückzubesinnen. „Es bildeten sich neue ethnisch geprägte Feudalbereiche, und das Misstrauen flammte wieder auf“, so Inzko.
Zerstörerischer als alles andere war die wieder aufkeimende Korruption. Sie und die mangelnde Rechtsstaatlichkeit haben in den letzten dreißig Jahren 400.000 Menschen dazu veranlasst, ihre Heimat zu verlassen. Folgen des Politikversagens sind eine hohe Arbeitslosenquote (16 Prozent) und wachsende Unzufriedenheit, auf deren Boden Nationalismus gedeiht. Mit seinen nationalistischen Parolen immer wieder in die Schlagzeilen gerät der serbische Populist Milorad Dodik, der regelmäßig mit Abspaltung droht und damit um Wählerstimmen buhlt. Immer wieder äußert Dodik seine Verachtung gegenüber staatlichen Institutionen und tritt regelmäßig mit verurteilten Kriegsverbrechern auf. Apropos: Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag hat bisher 161 Personen angeklagt und 84 rechtskräftig verurteilt.
EU-Beitritt liegt auf Eis
2016 hat Bosnien und Herzegowina offiziell einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt, doch baldige Beitrittsverhandlungen sind aufgrund der innerbosnischen Spannungen unwahrscheinlich.
Im Bestreben um eine geopolitische Neuordnung bringen sich die Türkei, Saudi-Arabien wie auch Russland am Balkan ins Spiel. Eine Beilegung der Krise unter Federführung der Türkei wäre für Staatspräsident Erdoğan ein großer Erfolg, um die EU vorführen zu können und die neue Rolle der Türkei als aufstrebende Macht zu untermauern, meint der Politologe Rasim Marz: „Brüssel zeigt in der aktuellen Krise kaum Bereitschaft, sich in die Vermittlerrolle zu begeben und an einer Lösung mitzuwirken. Die EU bietet anderen Mächten somit eine offene Flanke, ihre Einflusssphäre bis an die europäische Außengrenze auszudehnen.“
Conclusio
Das Wiedererstarken von Nationalismus in Bosnien-Herzegowina zeigt, dass die internationale Staatengemeinschaft dem wirtschaftlichen Fundament des neuen Staates zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Inmitten von Korruption und Populismus bietet sich nun die Türkei als geopolitische Stütze an. Dies wird die Ursachen für die Krise in Bosnien-Herzegowina nicht bekämpfen. Dem Land wäre mehr geholfen, wenn die Rechtsstaatlichkeit gestärkt und der Brain Drain in die EU-Staaten verhindert würde, sodass die liberal gesinnte junge Bevölkerung eine echte Perspektive hätte – und einen Grund, im Land zu bleiben.