Kinder am Handy: Zukunft verklickt

Häufig sind schon Kleinkinder Smartphone oder Tablet verfallen. Die konstante Vermischung der digitalen mit der echten Welt hat eine Reihe negativer Folgen. Verbote sind nicht die Lösung: Es reicht, wenn Eltern mehr Augenmaß anwenden.

Kleinkind auf dem Sofa mit Tablet in der Hand
Je mehr Zeit Kleinkinder mit Smartphones und Tablets verbringen, desto schwieriger fällt es ihnen, zwischen analoger und digitaler Welt zu unterscheiden. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Neue Welt. Tablets und Handys sind aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Das wird sich in Zukunft kaum ändern, birgt aber Risiken.
  • Aufmerksamkeit. Digitale Technologien trainieren Kinder zwar im Multitasking. Doch sie hemmen ihre Konzentrationsfähigkeit, Aufnahmefähigkeit und Fantasie.
  • Selbstbild. Zudem gaukeln die vielen Handy-Fotos und Social-Media-Impressionen Kindern eine verzerrte, perfekte Realität vor – und regen zu deren Nachahmung an.
  • Vorbildwirkung. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, ihrem Nachwuchs einen bewussten Social Media-Konsum vorzuleben, statt selbst der Sucht zu verfallen.

Behutsam bewegt die dreijährige Emma Daumen und Zeigefinger auseinander, um den Fisch größerzuzoomen. Bedächtig probiert sie es noch einmal, da ihr erster Versuch nicht erfolgreich war. Kein Wunder, dass Emma bereits mit ihren Fingern die Vergrößerungsfunktion bedienen kann. Schon im Kleinkindalter verfügen zumindest in den USA 80 Prozent der Kinder über Zugang zu einem internetfähigen Gerät. Und auch bei uns darf bereits ein Großteil der Kinder zumindest eine bestimmte Zeit das elterliche Smartphone bedienen. Auf dem Smartphone der Eltern hin und her zu wischen macht Emma Spaß. Es verschafft ihr immer wieder positive Erfahrungen.

Digital-analoge Zwischenwelten

Das Problem ist aber: Emma zoomt nicht auf einem Tablet. Sie steht vor einem Aquarium. Es ist heute tatsächlich keine Seltenheit, dass Kleinkinder versuchen, die Fische dort mit den Fingern größer zu machen. Oder sie scheitern an einem Fotoalbum oder einem Bilderbuch, weil sich dort die Bilder nicht weiterwischen lassen. Und sie nicht wissen, wie man umblättert. Die heutigen Kinder haben Schwierigkeiten, das „Digitale“ vom „Echten“ der analogen Welt zu unterscheiden. Ist das gut oder schlecht?

×

Zahlen & Fakten

Zusammen mit dem Institut für Generationenforschung forsche ich seit mehr als drei Jahren im Rahmen der Generation Alpha Studie an der Altersgruppe der ab 2010 geborenen Kinder. Emma ist ein Kind aus unserer Studie, das stellvertretend für die vielen anderen Kinder steht, die wir in den ersten Lebensjahren ihrer Entwicklung begleitet haben. Dabei untersuchen wir die Kinder in ihrem digitalen Umfeld und überprüfen unsere Erkenntnisse und Beobachtungen über diese Altersgruppe anhand bereits bestehender wissenschaftlicher Studien. 

Grobe Konzentrationsmängel

Eines ist vorweg klar: Dass Emma bereits weiß, wie sie ihre Finger zum Aktivieren des digitalen Zooms einsetzen muss, ist nicht überraschend. Die Vermischung des Digitalen mit dem Analogen hat jedoch einige gewichtige Nachteile. Beispielsweise für die Aufmerksamkeit. In unseren Studien haben uns pädagogische Fachkräfte immer wieder berichtet, dass ihre Kinder große Probleme haben, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Dieser Kompetenzabbau sei im Vergleich mit den zehn Jahren zuvor stark ansteigend. 

Psychologisch lässt sich diese Entwicklung mit der „Theorie der begrenzten Aufnahmekapazität“ erklären: Je mehr Tätigkeiten eine Person zur gleichen Zeit ausführt, desto weniger Aufmerksamkeit bleibt für die einzelne Tätigkeit übrig. Wir können uns unterhalten und anschließend einem Freund via Facebook Messenger antworten. Wir können auch beides gleichzeitig, aber eben nur halb so gut. Beides gleich gut geht nicht. 

Schonungslos, permanent und immer stärker ziehen Smartphone und Tablet die Aufmerksamkeit der Kleinsten ab.

Die Aufmerksamkeit teilt sich zwischen dem analogen und dem digitalen Unterhaltungspartner. Unsere Kinder befinden sich heutzutage in einer „analog-digitalen Zwischenwelt“. Nichts funktioniert in diesen Momenten so richtig, die halbe Aufmerksamkeit erhält die digitale, die andere Hälfte die analoge Welt. Das hat erstaunliche Auswirkungen: Aus psychologischer Sicht besteht der dringende Verdacht, dass die Aufmerksamkeitsspanne unserer Kinder immer kürzer wird.

Das Smartphone saugt regelrecht die Aufmerksamkeit unserer Kinder ab. Das unterstreicht eine Studie der University of Texas. Hier erledigten Probanden Aufgaben, die Konzentration erforderten. Sie wurden gebeten, ihr Smartphone mit dem Display nach unten auf den Tisch zu legen, in ihrer Tasche zu verstauen oder im Nebenraum zu lassen. In allen Fällen waren die Smartphones auf stumm geschaltet. 

Eine Touristin fotografiert das Straßenkunstwerk des irischen Künstlers ADW im Stadtzentrum von Dublin. Das Bild, das auf dem "Kuss" von Gustav Klimt basiert, verdeutlicht das Übel der Handysucht.
Dublin, 2019: In der Darstellung des irischen Künstlers ADW verfallen selbst die Liebenden in Gustav Klimts „Der Kuss“ der Handysucht. © Getty Images

Am schlechtesten in Sachen Konzentration schnitten die Probanden ab, die ihr Smartphone auf dem Tisch behielten. Deutlich besser schnitten diejenigen ab, die ihr Smartphone in der Tasche hatten, und noch besser diejenigen, deren Smartphone sich im Nebenraum befand. In Zukunft wird sich dieser Effekt noch verstärken. Diese Studie wurde nämlich im Jahr 2017 an Studierenden durchgeführt. Es handelte sich also um Menschen, die im Jugendalter waren, als sich das mobile Internet mit dem ersten iPhone in der Gesellschaft ausbreitete. 

In Emmas Kinderzimmer hat sich das Internet heimtückisch über digitale Spielsachen geschlichen: Das elterliche Smartphone als Ablenkung, die intelligente elektrische Zahnbürste, smartes Kinderspielzeug und auf die Kinder zugeschnittene Serien und Apps sind heute gang und gäbe. Schonungslos, permanent und immer stärker ziehen sie die Aufmerksamkeit unserer Kleinsten ab. Wie werden die Konzentrationsleistungen von Emma sein, wenn sie sich im Alter der Studienteilnehmenden von 2017 befindet?

×

Zahlen & Fakten

Das Negative an positiven Bildern

Bis ein im Jahr 2020 geborenes Kind sechs Monate alt ist, haben die stolzen Eltern etwa 1.800 Fotos und 130 Videos mit ihren Smartphones von ihrem Nachwuchs gemacht. Das hat Auswirkungen. Und die schwindenden Speicherkapazitäten des Smartphones sind dabei das geringste Problem. Es wirkt sich auf die Kinder aus: Erst jüngst durchgeführte Studien haben nachgewiesen, dass Kinder bereits ab dem ersten Lebensjahr registrieren, wenn sich ein Smartphone in ihrer Nähe befindet. Und an dieser Stelle kommt wieder das Streben nach positiven Erfahrungen ins Spiel: Wenn Kinder merken, dass das Smartphone in der Nähe ist, verhalten sie sich unter Umständen anders. Das liegt am Training, dem die Kinder täglich durch den Smartphone-Konsum ihrer Eltern ausgesetzt sind.

Kinder registrieren bereits ab dem ersten Lebensjahr, wenn sich ein Smartphone in ihrer Nähe befindet.

Macht das Kind etwas, was die Eltern toll, neu oder großartig finden, dauert es nicht lange, und schon tritt die Kamera der Eltern in Aktion. Sie hält den einmaligen Moment für die Ewigkeit fest. Das Kind bekommt auf tolle, neue oder großartige Situationen die Aufmerksamkeit der Eltern durch das Smartphone als Belohnung. Das Kind hat damit früh gelernt, das Smartphone der Eltern mit einer positiven Bewertung zu verknüpfen. Die Evolution vollzieht sich langsam. Wir und unsere Kinder sind nicht weit von unseren Vorfahren entfernt. Das Smartphone der Eltern ist die positive Erfahrung, nach der Kinder streben.

Posieren für die Kamera

Im Rahmen der Generation Alpha Studie hatten uns pädagogische Fachkräfte berichtet, dass Kinder von ihren Eltern gebeten werden, genau diesen einen tollen, neuen, großartigen Moment für die Kamera zu wiederholen. Auf diese Weise landen massenhaft Bilder von tollen, neuen, großartigen Momenten auf den Speicherplätzen. Aber mal ehrlich: Wer macht denn am laufenden Band einzigartige Erfahrungen? Genau darin liegt ein weiteres Problem der digitalen Welt. Sie gaukelt uns vor, Menschen würden permanent einzigartige Erfahrungen sammeln.

Vater mit Baby macht Selfie im Wald, Queenstown, Neuseeland
Früh übt sich? Studien zeigen: besser nicht. Das exzessive Fotografieren des Nachwuchses beeinflusst die Verhaltensweisen von Kindern. © Getty Images

Wir Menschen helfen kräftig dabei mit, dass anderen dieses Bild suggeriert wird, denn wir stellen eben hauptsächlich Bilder ins Netz, die uns in glücklichen, in scheinbar einzigartigen Momenten zeigen. Und das kann für den Betrachter ziemlich frustrierend sein. Wieso erlebe ich, fragt er sich, denn nicht am laufenden Band einzigartige Erfahrungen?

Heranwachsende, die sich an ihre Vergangenheit erinnern wollen, bekommen mit Blick auf die Bilder- und Videosammlung der Eltern ein verzerrtes Bild ihres vergangenen Ichs präsentiert. Die anschließenden Reflexionsprozesse lassen nicht lange auf sich warten: Wieso habe ich denn nicht mehr am laufenden Band einzigartige Erlebnisse?

Fantasie leidet

Was vielleicht vordergründig wie ein Luxusproblem einer übermediatisierten Gesellschaft klingt, hat gewichtige Auswirkungen. Nämlich für die Kinder. Denn auf der Strecke bleibt die Fantasie. Kindern wird die Fähigkeit verunmöglicht, zu fabulieren. Fabulieren bedeutet, die Fantasie zu nutzen, um Geschichten zu erfinden. Das Ausmaß an Fantasie, das heutige Eltern benötigen, wenn sie sich an ihre eigene Kindheit zurückerinnern, ist deutlich größer. Schließlich erinnert oft nur eine Handvoll vergilbter Kinderbilder im Fotoalbum an ihre Kindheit.

Heute verführt die minutiös aufbereitete digitale Fotosammlung auf dem Smartphone die Kinder dazu, gar nicht erst mit dem Fabulieren zu beginnen: Du brauchst nicht in der Vergangenheit zu wühlen, welchen Kuchen du an deinem dritten Kindergeburtstag für gegessen hast, denn 22 glückliche Kinderbilder von deinem dritten Geburtstag und vier Videos vom Topfschlagen erinnern dich daran. Du hast immer den Abgleich mit der Realität.

Kindern wird die Fähigkeit verunmöglicht, zu fabulieren – die Fantasie zu nutzen, um Geschichten zu erfinden.

Viele Verhaltensweisen und Wahrnehmungen unserer Kinder im Umgang mit dem Netz lassen sich ganz einfach erklären. Umso schwerer ist es jedoch, diese Entwicklungen abzuschwächen oder rückgängig zu machen oder sogar ins Positive zu wenden. Doch wieder hilft ein Blick auf unsere Vorfahren weiter. Menschen strebten schon immer nach positiven Erfahrungen. Das lässt sich nutzbar machen, auch in Zeiten der Digitalisierung. Evolutionär sind wir Menschen darauf getrimmt, positive Erfahrungen zu wiederholen. Entdeckten unsere Vorfahren auf Nahrungssuche etwas, was gut schmeckte, suchten sie in der Folge selbstverständlich genau danach. Was für das Verhalten von Menschen vor Tausenden von Jahren galt, ist auch heute noch aktuell. 

Wichtige Vorbildwirkung

Digitale Technologien führen zu positiven Erlebnissen, die zu immer mehr Nutzung verleiten, deren Nachteile uns nicht immer bewusst sind. Wir sollten die Medien daher intelligent verwenden. Für klar abgegrenzte Tätigkeiten können sie eine Hilfestellung liefern. Wir können uns Hilfe für komplexe Probleme ergoogeln, wir können uns die Welt erklären lassen, und wir können mittels digitaler Technologien mehr und besser lernen. Aber nur, wenn wir dabei Maß und Ziel nicht aus den Augen verlieren, die digitale und analoge Welt strikt trennen und Grenzen in Nutzungsdauer und -zeit setzen.

Auf die Jungen zu schimpfen hilft hier nicht. Eltern und Erwachsene haben es in der Hand, was aus den Kindern wird. Dazu brauchen sie den Kindern die Tablets nicht panisch aus der Hand zu reißen. Reichen Sie Ihren Kindern im Netz die Hand und seien Sie Vorbild. Zeigen Sie ihnen, wie Sie selbst verantwortungsvoll mit digitalen Medien umgehen. Das verlangt Selbstdisziplin. Kinder können so lernen, welche Erfahrungen gut sind und von welchen man lieber die Finger lassen sollte. So könnten wir uns tatsächlich positiv weiterentwickeln.

×

Conclusio

Die meisten Kinder spielen schon im Kleinkindalter regelmäßig mit Smartphones oder Tablets. Ihre Aufmerksamkeit wird sowohl von der digitalen als auch der analogen Welt beansprucht. Das kann die Fantasie und die Konzentrationsfähigkeit mindern: Pädagogische Fachkräfte berichten, dass in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern geschrumpft ist. Die vielen Handyfotos, die das Aufwachsen dokumentieren, führen mitunter dazu, dass sich Kinder anders verhalten, wenn das Gerät in der Nähe ist. Außerdem verzerren die eigenen Fotos und jene von Freunden, wie der Alltag wahrgenommen wird: Banalere Momente wirken enttäuschend. Doch mit etwas Selbstdisziplin und einem bewussteren Umgang lassen sich die Vorteile der digitalen Welt nutzen und die negativen Auswirkungen begrenzen.