Ein Leben jenseits der To-do-Liste

Wir versuchen, dem immer dichter werdenden Gewirr aus E-Mails, Konsum und Pflichten durch To-do-Listen zu entkommen. Diese münden allzu häufig in neue To-do-Listen. Die Muße kommt zu kurz und damit auch der Anspruch, sich selbst gerecht zu werden. 

Illustration einer Frau mit einer Stoppuhr in der Hand
Unsere Lebenszeit ist unsere einzige Zeit. Zeit, sie bewusster zu leben. © Getty Images

Es gibt so viel zu tun. Der Alltag an sich ist fordernd. Ab November beginnt dann der Endjahres- und Geschenkestress, gefolgt von den Feiertagen, beladen mit Erwartungen, Enttäuschung und Esswaren. Danach folgt eine kurze Stille, in der die meisten von uns damit beschäftigt sind, das anliegende Jahr in eine gigantische To-do-Liste zu verwandeln, mit kleinen Inseln aus Freizeit und Freude. Und dann geht einfach alles wieder von vorne los: die Erledigungen, die Projekte, die Arbeit an der Ich-AG.

Ganz zu schweigen von dem verdammten Internet, nach dem jeder erwachsene Mensch, den ich kenne, süchtig ist. Aber wo bleiben wir? Wo bleibe ich in diesem Gewirr aus E-Mails, Konsum und Selbstverrat, aus dem es anscheinend kein Entrinnen gibt? 

Das Diktat der To-do-Listen

Eine Zeitlang habe ich mir versprochen, dass ich nur noch diese eine Sache fertig machen muss, und dann … Ein Trugschluss. So arbeiten ja auch To-do-Listen, also mit der Illusion, man könne sie abarbeiten und der Lohn einer geschafften To-do-Liste sei so etwas wie Erholung oder Erfüllung. Nein, nein, der Lohn einer geschafften To-do-Liste ist einfach nur eine neue To-do-Liste. Wenn ich Zeit für mich haben will, muss ich sie mir nehmen. Idealerweise, bevor es mich nimmt.

Der Lohn einer geschafften To-do-Liste ist bloß eine neue To-do-Liste.

Denn obwohl wir uns auf immer neue Weise missachten können, sind unsere Körper nicht unbeschränkt leistungsfähig. Wenn wir unsere leiblichen Grenzen übertreten, werden wir krank – von Erkältung zu Erschöpfungsdepression. Weil es zwar schön ist, endlich mal sinnlos rumliegen zu dürfen, es aber auch sehr unangenehm ist, krank zu sein, habe ich das Konzept des präventiven Burnouts erfunden. Kurz gesagt geht es darum, sich ins Bett zu legen, bevor man krank wird. Ein Tag kann sehr helfen, drei Tage wirken Wunder. 

Die Macht der Stille

Es ist immer heilsam, nichts zu tun, vor allem wenn man dabei nicht am Bildschirm hängt. Stattdessen gilt es, alles, wie es gerade ist, zu ertragen: die Geräusche der Wohnung, das Dröhnen des Draußen, das unbegreifliche Vergehen der Zeit. In der Stille kommen wir selbst wieder zum Vorschein, unsere Gefühle, unser Leben. Zeit, in der wir uns selbst gehören, nennt man Muße. Sie hat viele Facetten – vom Nichtstun hin zum „Handeln durch Nichthandeln“, chinesisch „Wu wei“.

Denn es ist ja gar nicht sicher, ob unsere ewige Geschäftigkeit stets von Erfolg gekrönt ist. Vielmehr rennen nur die Anfänger den Dingen hinterher – während die Fortgeschrittenen gelassen darauf warten, dass die Dinge zu ihnen kommen. Natürlich geht es auch im chinesischen Denken niemals ohne Absicht zu, und alles will erst einmal bewusst durchdrungen sein. Aber dann wird es losgelassen – getragen von dem Vertrauen, dass sich zur rechten Zeit schon das Rechte einstellen wird.

Was macht Ihnen richtig gute Laune?

Diese Art der vorbereiteten Vorbereitungslosigkeit ist ein gutes Gegengift für To-do-Listen und Kontrollwahn. Und wäre es nicht unglaublich entlastend, wenn man daran glauben könnte, dass einen alles, was kommen soll, schon erreichen wird? Vor allem wenn man, wie meine Mutter immer sagte, seinen Teil dazu beigetragen hat. Weniger Kontrollwunsch heißt mehr Zeit für sich. Wobei es bei der Muße nicht nur darum geht, endlich einmal nichts zu tun, sondern es auch gilt, die gewonnene Zeit mit den liebsten Musen zu verbringen. Etwas zu lesen, zu hören oder anzuschauen, das die Seele nährt und einem das Gefühl gibt, das Leben sei es wert, gelebt zu werden. Was sind Ihre liebsten Musen? Welche Veranstaltungen sind nicht brauchbar, aber belebend?

Die vorbereitete Vorbereitungslosigkeit ist ein gutes Gegengift für To-do-Listen und Kontrollwahn.

Was mir auch guttut, ist das Gefühl, nicht allein zu sein mit meinen Schwierigkeiten. Das betrifft nicht nur den Austausch mit Menschen, die gemeinsam mit mir erfolglos gegen ihre Internetsucht ankämpfen –„Ich hab eine Sperrfunktion ab 20 Uhr“, „Ich will die Wohnung internetfrei machen“, „Ich hab überlegt, nur einen Arbeitsrechner zu haben und ihn auf dem Dachboden aufzubewahren“ –, sondern auch den Blick in die Vergangenheit.

Sich Zeit für das innere Leben nehmen

Schon vor 2.000 Jahren schrieb der stoische Philosoph Lucius Annaeus Seneca in seinem berühmten Büchlein „Das Leben ist kurz!“ über die idiotische Geschäftigkeit der Römer. Eine Geschäftigkeit, der auch sein Schwager Paulinus anheimgefallen war und darob zu vergessen drohte, sich Zeit für sein inneres Leben zu nehmen und sich um seine Seele zu kümmern.

Im Lateinischen nennt man diese Zeit otium, während das neg-otium, also die Verneinung der Muße, das bezeichnete, was wir heute „Geschäfte“ nennen würden. Das lässt nicht nur tief blicken, was damals Standard und was Negation, Abweichung war, sondern markiert auch einen Unterschied zwischen Muße und Freizeit: Während Freizeit als Nicht-Arbeit meistens zwischen Trostkonsum, Vergnügungsdruck und (Internet-)Suchtverwaltung changiert, ist Muße durchaus auch Arbeit – Arbeit am Inneren, an der eigenen Bildung, Tiefe und Resonanzfähigkeit. 

Den Schmutz der Tage abwischen

Die Muße, von der Seneca und andere alte Denker sprechen, ist eine Einladung, den Schmutz der Tage abzuwischen und sich vom Dauernden berühren zu lassen: von der Kunst, der Schönheit, der Geschichte. Dazu Goethe („West-östlicher Divan“, 1819):

Wer nicht von dreitausend Jahren /
Sich weiß Rechenschaft zu geben /
Bleib im Dunkeln unerfahren /
Mag von Tag zu Tage leben.

Der Reichtum des Menschen ist innerlich, aber dieser Reichtum braucht Zeit. Die dreitausend Jahre brauchen Zeit, die Feinheiten einer Partitur, das, was Symbole und Farben auf einem Bild bedeuten. Alles auf Erden hat seinen Preis – Tiefe kostet Zeit, Konsum kostet Geld. Glücklich ist, wer einen lebbaren Mittelweg findet und es immer wieder schafft, nicht nur zu machen, was alle machen, sondern ebenso sich selbst gerecht zu werden.

Diese notwendigen Balancen verbinden uns Menschen über alle Kulturen und Zeiten hinweg, ganz gleich, ob wir uns wie Senecas Paulinus davor hüten müssen, in den Staatsgeschäften zu ertrinken – oder wie ich und alle, die ich kenne, im Internet. Auch die Gegenbewegung ist klar umrissen: Schau nach innen, kümmere dich um deine Seele und gönne dir ausreichend Muße. Auf dass deine Zeit dir gehöre – und nicht andersherum.