Das Dilemma mit unseren Werten
Sollen wir für westliche Werte eintreten und die Menschenrechtsverletzungen autoritärer Regime klar ansprechen? Eine Wanderung auf dem schmalen geopolitischen Grat der Werte.
Moralische Dilemmata sind keineswegs eine neue Erscheinung. Im Gegensatz zur Antike aber spielen sie sich heute nicht mehr im Innersten des tragischen Helden ab, sondern treten auf der Ebene der Geopolitik zutage.
Praktisch jede Frage, über die wir heute als Politik und Gesellschaft entscheiden müssen, stellt uns vor ein Dilemma: Welchen Werten sollen wir folgen? Und vor allem: Wem gestehen wir das Recht zu, die jeweils geltenden Werte überhaupt zu bestimmen?
Wer braucht die UNO?
Der doch noch, aber erst in letzter Minute, veröffentlichte Bericht der gerade abgetretenen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zur Unterdrückung der Uiguren ist nur das jüngste Beispiel für die Bedrängnis des Westens mit seinen Werten.
Nachdem China bereits die Untersuchung behindert hatte, wollte es in der Folge verhindern, dass der Bericht überhaupt an die Öffentlichkeit kommt. Dass es dafür nicht eben zimperliche Mittel wie Gegenangriffe, Einschüchterungen, Bedrohungen, aber auch die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien einsetzte, ist wenig überraschend.
UNO: Einmischung im Namen der Werte
Vollends fadenscheinig aber ist der stets gleich lautende Vorwurf an die Adresse der UNO respektive des Westens: Man verbitte sich die Einmischung in innere Angelegenheiten. Eine solche Anschuldigung erklärt nicht nur die UNO für obsolet, sondern macht jegliche Mitgliedschaft in dieser internationalen Organisation zur Farce.
Die Mitgliedsländer der UNO verpflichten sich nämlich mit ihrem Beitritt dazu, den Weltfrieden zu sichern, das Völkerrecht einzuhalten, die Menschenrechte zu schützen und international zu kooperieren. Nicht, dass dieses Versprechen einfach zu erfüllen wäre. Dennoch bekennen sich die Staaten damit zur Kernfunktion der Vereinten Nationen als Hüterin der Werte der internationalen Staatengemeinschaft.
Dass es sich dabei um die Werte der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit handelt, darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Was genau darunter verstanden wird, ist jedoch zunehmend Gegenstand von Auseinandersetzungen. War man sich einst über die „universelle“ Gültigkeit dieser Werte einig, versieht man sie heute – hüben wie drüben – immer öfter mit dem Etikett „westlich“, um ihre Einseitigkeit und Parteilichkeit zu unterstreichen.
Genau darin tut sich das Dilemma auf: Die theoretischen, universitären und längst auch in der breiten Öffentlichkeit geführten Diskurse um Imperialismus, Neokolonialismus und kulturelle Aneignung haben dazu geführt, dass sich niemand mehr sicher sein kann, wer was worunter versteht.
Je nach Herkunft, Standpunkt und Blickwinkel ergeben sich völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, was nun mit frei, gleich oder gerecht gemeint ist oder auch nicht.
Grundsätzlich gilt heute, dass Kulturen, Traditionen und Religionen über diesen Werten stehen. Aus ihnen allein lassen sich regional-gemeinschaftliche Übereinkünfte ableiten, zu denen Nicht-Zugehörige nicht einmal Stellung beziehen können, ohne als übergriffig zu gelten. Jede auch noch so sachliche, als zaghafte Beurteilung vorgebrachte Einschätzung wird als ungerechtfertigtes Urteil abgetan.
Werte zwischen Woke und Widerstand
In dieser vermeintlich apodiktischen Klarheit begeben sich jedoch nicht selten auch jene, die sich als „woke“ verstehen, in ein Dilemma: Sie verbieten „Weißen“ zwar, Dreadlocks zu tragen und afrikanische Musik zu spielen, zweifeln jedoch in keiner Weise daran, dass ihr eigenes Urteil einen dogmatischen Charakter aufweist, der möglicherweise nicht von allen geteilt wird – nicht einmal von jenen, die in Schutz genommen werden sollen.
Oder, um beim eingangs erwähnten Beispiel zu bleiben: Sollen wir uns über die chinesischen „Umerziehungslager“ empören? Die chinesischen Machthaber verurteilen? Oder entsprechende Berichte schlicht ignorieren, weil es sich ja um deren „Kultur“ und Entscheidung handelt? Die Folge solch konstanter Bewertung und Verurteilung ist eine immer größere Verwirrung darüber, was nun gut und richtig oder böse und falsch ist.
Dem Westen egal: Die Frauen Afghanistans
Unsere Kernfrage lautet: Sind wir in der Lage und moralisch dazu berechtigt, Urteile über das Verhalten anderer zu fällen – oder nicht? Und wenn ja: Auf welcher Grundlage tun wir das? Verstehen wir uns als Hüterinnen und Hüter der Werte Freiheit und Gleichheit? Und wenn dem so ist: Gelten diese Freiheit und Gleichheit für alle Menschen gleichermaßen, egal welcher Herkunft, Ethnie und Kultur? Oder kann jede Kultur, Religion und Tradition für sich definieren, was sie unter Freiheit und Gleichheit versteht – selbst wenn Freiheit Unterdrückung bedeutet und Gleichheit Macht?
Keine dieser Fragen ist einfach zu beantworten. Widersprüche lauern überall. Im Kern aber lassen sich zwei unterschiedliche Richtungen unterscheiden: eine, die das Individuum und dessen Entfaltungs- und Entscheidungsfreiheit in den Mittelpunkt stellt – und eine, die dem Primat der Kultur und Gemeinschaft das Wort redet.
Anders gesagt: Man kann auf diese Fragen mit eher liberalen oder mit tendenziell kollektivistischen Konzepten antworten. Im ersteren Fall muss man China anklagen und auf die Veröffentlichung solcher Berichte drängen. Im anderen Fall kann man der chinesischen Argumentation folgen und sich aus Chinas „inneren Angelegenheiten“ heraushalten.
Werte versus Eigeninteressen
Ein in jüngerer Zeit öfter eingebrachter Vorschlag lautet, es mit den Vorwürfen nicht zu weit zu treiben, weil man ja schließlich mit der aufstrebenden Supermacht China – wie auch mit anderen autoritären Staaten – in Sachen Klimaschutz zusammenarbeiten muss. Ob diese Relativierung menschlichen Leids gegenüber dem Wohl des Planeten ein Ausweg aus dem Dilemma darstellt?
Der tragische Held des griechischen Epos wusste, dass er nur scheitern kann, wenn er den Anspruch hat, das einzig Richtige zu tun. Es waren seine außergewöhnliche Kompetenz, seine Leidenschaft für die moralische Pflicht, aber mitunter auch seine Hybris, die ihn in Fallen führten, aus denen er nur über einen Mittelweg wieder herausfand.
Es ist vielleicht diese tragische Erkenntnis, die auch die Verteidiger der „westlichen“ Werte erlangen werden: dass es einen Mittelweg zu finden gilt zwischen der Verabsolutierung der eigenen Werte und deren Verrat.