USA: Das Land, in dem nur Politiker alt werden

Während nahezu überall die Lebenserwartung steigt, sinkt sie in den USA. Die Krise basiert nicht nur auf dem ineffizienten Gesundheitssystem.

Eine Illustration, die den Sensenmann mit "I Love USA"-Kappe zeigt
Die Lebenserwartung steigt fast überall – nur in den USA sinkt sie. © Jens Bonnke
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Auf den Punkt gebracht

  • Trauriger Trend. Schon vor Covid-19-Pandemie begann die Lebenserwartung in den USA zu sinken.
  • Viele Ursachen. Die Ursachen sind vielfältig: Ungesunde Ernährung, viel Waffengewalt und eine andauernde Opioid-Epidemie.
  • Krankes System. Dazu kommt ein teures und ineffizientes Gesundheitssystem, das 30 Millionen US-Amerikaner ohne Versicherung zurücklässt.
  • Zusätzliche Faktoren. Weiters kommt eine extreme Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen sowie andauernder struktureller Rassismus hinzu.

Die Amerikaner blicken mit wachsender Sorge auf das fortschreitende Alter ihrer Politiker in Washington: Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im November 2024 sind inzwischen 80 (Präsident Joe Biden) und 77 Jahre (Ex-Präsident Donald Trump) alt; und das Durchschnittsalter der US-Senatoren im Kongress beträgt 65 Jahre. Aber die Langlebigkeit der Führungsschicht steht in scharfem Kontrast zu den harten Realitäten, mit denen der Rest des Landes konfrontiert ist. Die Amerikaner sind krank und liegen im wahrsten Sinne des Wortes im Sterben.

Vor zehn Jahren leitete ich eine Studie für die National Academy of Sciences, die zum ersten Mal dokumentierte, dass die USA bei Gesundheit und Sterblichkeit im Vergleich zu anderen Ländern mit hohem Einkommen zurückfallen. Aus der Untersuchung ging hervor, dass die Vereinigten Staaten die niedrigste Lebenserwartung unter den Vergleichsländern und höhere Morbiditäts- und Mortalitätsraten bei dutzenden Faktoren hatten. Dieser Trend hatte sich über mindestens vier Jahrzehnte hinweg vergrößert und war allgegenwärtig – er betraf beide Geschlechter, Jung und Alt, Arm und Reich sowie Amerikaner aller Ethnien.

Abrupter Rückgang der Lebenserwartung

In den vergangenen Jahren haben weitere Studien diese Trends bestätigt. Nachdem die Lebenserwartung in den USA mehrere Jahre lang ein Plateau erreicht hatte, ging sie vor der weltweiten Covid-19-Pandemie drei Jahre lang in Folge zurück – ein erstaunlicher Trend in einem Land, das viele für eines der reichsten und fortschrittlichsten Länder der modernen Welt halten. Die Vereinigten Staaten gingen in einem grundlegend geschwächten Zustand in die globale Pandemie. Was folgte, war verheerend: Covid-19 kostete mehr als einer Million Amerikanern das Leben und ließ die Lebenserwartung in den USA um weitere zwei Jahre sinken – bei hispanischen, schwarzen und indigenen Amerikanern sogar um das Doppelte. Die Pandemie löste den abruptesten Rückgang der Lebenserwartung seit dem Zweiten Weltkrieg aus und warf das Land um zwei Jahrzehnte zurück. In anderen wohlhabenden Ländern gab es nicht einmal annähernd etwas Vergleichbares.

In den Covid-Jahren nahmen acht der zehn häufigsten Todesursachen zu. Auch die Mütter-, Kinder- und Jugendsterblichkeit nahm zu.

Der Rückgang der Lebenserwartung in den USA während der weltweiten Pandemie wurde nicht nur durch Covid-19 verursacht. In denselben Jahren nahmen acht der zehn häufigsten Todesursachen zu. Auch die Mütter-, Kinder- und Jugendsterblichkeit nahm zu. Im August 2022 veröffentlichte die Gesundheitsbehörde neue Daten, aus denen hervorging, dass die Amerikaner in allen demografischen Gruppen jünger starben. Angesichts der anhaltenden schlechten Gesundheit und hohen Sterblichkeit in den Vereinigten Staaten stellt sich die dringende Frage, warum es den Amerikanern so schlecht geht. Vor zehn Jahren stellte ich in einem Kommentar im Fachmagazin New Scientist fest, dass der Grund dafür einfach und doch komplex ist: Fast alles ist schuld.

Mehr Kalorien, mehr Drogen, mehr Waffen

Damals schrieb ich: „Unsere Gesundheit hängt von viel mehr ab als nur von der medizinischen Versorgung. Ernährung, körperliche Aktivität und sogar die Geschwindigkeit, mit der wir Auto fahren, haben allesamt tiefgreifende Auswirkungen. Das Gleiche gilt für das Umfeld, das uns Gesundheitsrisiken aussetzt oder uns von einer gesunden Lebensweise abhält, auch soziale Faktoren wie Bildung, Einkommen und Armut spielen eine Rolle.

Die USA schneiden bei fast allen diesen Faktoren schlecht ab. Zusätzlich zu den vielen Millionen Menschen, die nicht krankenversichert sind, den finanziellen Hindernissen bei der Gesundheitsversorgung und dem Mangel an Primärversorgung im Vergleich zu anderen reichen Ländern, nehmen die Menschen in den USA mehr Kalorien zu sich, sie sitzen mehr, nehmen mehr Drogen und erschießen sich häufiger gegenseitig. Die USA hinken auch in vielen Bereichen der Bildung hinterher, haben eine höhere Kinderarmut und Einkommensungleichheit sowie eine geringere soziale Mobilität als die meisten anderen fortgeschrittenen Demokratien.

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Zahlen & Fakten

Ein nur flüchtiger Blick auf das heutige Leben in den Vereinigten Staaten offenbart Zustände, die kaum zu glauben sind. Das Land ist im dritten Jahrzehnt einer tödlichen landesweiten Opioid-Epidemie, die von der Pharmaindustrie ausgelöst wurde und die allein im Jahr 2022 rund 110.000 Menschenleben forderte. Zu den Drogen gesellen sich die Kugeln. Mass Shootings und andere Formen von Waffengewalt erschüttern weiterhin jeden Tag Gemeinden und Familien im ganzen Land: 2020 und 2021 starben mehr amerikanische Kinder im Alter von ein bis 17 Jahren durch Schusswaffen als durch jede andere Todesursache. Die Kindersterblichkeitsrate durch Schusswaffen hat sich zwischen 2013 und 2021 verdoppelt, was Präsident Biden dazu veranlasste, im September das allererste Amt zur Prävention von Waffengewalt direkt im Weißen Haus einzurichten.

Schlechter gestellte Kinder

Seit mehr als einem Jahrzehnt zeigen länderübergreifende Vergleiche von Kindern und Jugendlichen in reichen Ländern, dass amerikanische Kinder in praktisch jedem gemessenen Bereich schlechter gestellt sind: materieller Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Wohnen und sozialer Schutz. Die mangelnde Bereitschaft des Landes, Kinder und Familien besser zu unterstützen, spiegelt sich sogar in den Sozialausgaben der Regierung wider. Im Vergleich zu anderen Ländern mit hohem Einkommen sind die Ausgaben der US-Regierung für Kinder, Familien und Familienangehörige weit geringer.

Fast 30 Millionen Amerikaner sind nicht versichert, und für Millionen andere ist eine erschwingliche Gesundheitsversorgung schlichtweg unerreichbar.

Angesichts des schlechten Gesundheitszustands der Amerikaner bräuchte das Land ein Gesundheitssystem, auf das es sich verlassen kann. Die Vereinigten Staaten sind jedoch dafür bekannt, dass sie eines der komplexesten, fragmentiertesten und teuersten Gesundheitssysteme der Welt haben. Fast 30 Millionen Amerikaner sind nicht versichert, und für Millionen andere ist eine qualitativ hochwertige, erschwingliche und zugängliche Gesundheitsversorgung schlichtweg unerreichbar oder praktisch nicht verfügbar. Ein genauerer Blick auf das US-Gesundheitssystem, seine hohen Kosten und schlechten Ergebnisse offenbart ein großes Unternehmen, das auf Wachstum und Profit; nicht auf Gesundheit und Wohlergehen ausgerichtet ist.

Kurz gesagt: Das Gesundheitssystem ist eine der wesentlichen Ursachen für das anhaltende Sinken der Lebenserwartung. Neben der Nicht- und Unterversicherung gibt es Probleme mit Unter- und Überbehandlungen, Unzuverlässigkeit, Misstrauen, Verschuldung und Konkurs. Die erstaunlichen 4,3 Billionen Dollar (oder 12.914 Dollar pro Person), die die Vereinigten Staaten trotzdem jährlich für das Gesundheitswesen ausgeben, übersteigen die Ausgaben in anderen Ländern bei weitem und verdrängen andere soziale Investitionen, die für die Gesundheit und die menschliche Entwicklung wichtig wären.

Beschleunigende Systeme

Neben dem Gesundheitswesen sind auch viele andere Faktoren beteiligt. Die Liste ist lang und erfordert mehr Zeit und Aufmerksamkeit, als hier behandelt werden kann, aber sie umfasst: Lebensmittel und Ernährung, Wohnen und städtische Infrastruktur, Bildung und Ausbildung, Beschäftigung und Arbeitsbedingungen, Polizeiarbeit und Masseninhaftierung, wirtschaftliche und kommunale Entwicklung, Kreditvergabe und Finanzdienstleistungen, Sozialfürsorge und Behindertenunterstützung, Einkommensunterstützung und Sicherheitsnetzleistungen sowie ökologische und Umweltbedingungen.

Diese Systeme halten die Ungleichheit aufrecht oder beschleunigen sie, und: Sie wurden genauso konzipiert.

Wenn Wissenschaftler, Aktivisten und andere die meisten dieser Systeme genauer unter die Lupe nehmen, kommen sie häufig zu zwei auffallend übereinstimmenden Schlussfolgerungen. Erstens: Diese Systeme halten die Ungleichheit aufrecht oder beschleunigen sie, und zweitens: Sie wurden genauso konzipiert. Diese Systeme und die Ergebnisse, die sie hervorbringen, spiegeln sowohl historische Faktoren als auch die aktuellen Beschlüsse der politischen Entscheidungsträger und anderer mit Macht und Einfluss ausgestatteter Personen wider, insbesondere die Interessen der Privatwirtschaft.

Zu den auffälligsten Merkmalen der Vereinigten Staaten von Amerika gehören heute ein hohes und wachsendes Maß an wirtschaftlicher Ungleichheit und Prekarität in Verbindung mit begrenzten Sicherheitsnetzen und sozialen Unterstützungssystemen. Einkommen und Vermögen sind nicht nur wichtige soziale Determinanten der Gesundheit, sondern bestimmen (insbesondere in den USA) auch den Zugang zu anderen Schlüsselfaktoren für Gesundheit und Wohlbefinden: Bildung, Beschäftigung, Wohnen, Ernährung, Transport, Pflege, Sicherheit usw. 

Extreme Ungleichheit

Einmal mehr stechen die Vereinigten Staaten im Vergleich zu anderen reichen Nationen bei der Einkommens- und insbesondere der Vermögensungleichheit hervor. Wie eine kürzlich durchgeführte globale Analyse der Ungleichheit belegt, haben in den Vereinigten Staaten „seit den frühen 1980er Jahren Deregulierung, Privatisierungen, eine geringere Steuerprogression und ein Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads zu einem beachtlichen Anstieg des Einkommensanteils der oberen 10 Prozent (von etwa 34 Prozent im Jahr 1980 auf 45 Prozent im Jahr 2021) und einem Rückgang der unteren 50 Prozent (von 19 Prozent auf 13 Prozent) beigetragen.“ Die Vermögensungleichheit ist sogar noch extremer: „Das Niveau in den heutigen USA ist ähnlich hoch wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einem Vermögensanteil der oberen 10 Prozent von über 70 Prozent. (...) Der Anteil der ärmsten Hälfte der US-Bevölkerung am Gesamtvermögen ist extrem gering (1,5 Prozent des Gesamtvermögens).“

Amerikanische Ureinwohner sind seit langem mit den größten gesundheitlichen Ungleichheiten im Land konfrontiert.

Es ist klar, dass die Vereinigten Staaten trotz ihres enormen Reichtums nicht bereit sind, die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Bevölkerung zu fördern. Die atemberaubenden Bilder des in Dänemark geborenen Fotografen Joakim Eskildsen in seinem Buch American Realities geben einen eindrucksvollen Einblick in die Lebensbedingungen in einigen der am stärksten unterfinanzierten Gemeinden des Landes.

Trauma und Ungerechtigkeit

Ein letztes kritisches Merkmal der amerikanischen Landschaft, das sich auf alle Aspekte und Determinanten von Gesundheit, Wohlbefinden und Überleben auswirkt, sind der systemische Rassismus und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten. Die sinkende Lebenserwartung in den USA betrifft alle Amerikaner, aber einige Menschen und Orte sind davon stärker betroffen als andere. Im Jahr 2021 lag die Lebenserwartung für asiatische Amerikaner bei 84 Jahren, für hispanische Amerikaner bei 78 Jahren, für weiße Amerikaner bei 77 Jahren, für schwarze Amerikaner bei 72 Jahren und für Indigene bei 67 Jahren. Amerikanische Ureinwohner sind seit langem mit den größten gesundheitlichen Ungleichheiten im Land konfrontiert, was auf die kumulative Gewalt, das Trauma und die Ungerechtigkeit zurückzuführen ist, die ihnen über Generationen hinweg zugefügt wurden.

Die Auswirkungen des Rassismus auf das heutige Leben in den Vereinigten Staaten können kaum überschätzt werden. Die Epidemologin Camara Jones definiert Rassismus als „ein System der Strukturierung von Chancen und der Zuweisung von Werten auf der Grundlage der sozialen Interpretation des Aussehens einer Person (was wir als „Rasse“ bezeichnen), das einige Individuen und Gemeinschaften auf ungerechte Weise benachteiligt, andere Individuen und Gemeinschaften auf ungerechte Weise begünstigt und die Kraft der gesamten Gesellschaft durch die Verschwendung menschlicher Ressourcen aufzehrt.“ Diese ungerechte Strukturierung (und geografische Verteilung) der „Chancen“ und der lebenserhaltenden Ressourcen, die sie bietet, ist eine der Hauptursachen für die großen gesundheitlichen Ungleichheiten innerhalb des Landes und für die internationale Benachteiligung der USA im Gesundheitsbereich.

Kein Schutz des Lebens

Den Gründern der Nation zufolge sind „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ unveräußerliche Rechte, die vom Schöpfer verliehen wurden, aber es ist klar, dass der Schutz des Lebens für die Vereinigten Staaten seit vielen Jahrzehnten keine Priorität mehr darstellt. Wenn die Amerikaner ihre alternden Politiker in Washington und in den Hauptstädten der Bundesstaaten ansprechen, könnten sie versuchen, sie zu einem anderen Kurs zu bewegen: Zu einer Politik, die wirklich das Leben bewahrt und die Gesundheit in einem der reichsten und mächtigsten Länder der Welt schützt.

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Conclusio

Wenn in einer reichen Industrienation die Lebenserwartung sinkt statt steigt, muss irgendetwas schieflaufen. In den USA läuft fast alles schief – die Lebenserwartung sinkt für alle US-Amerikaner quer durch sämtliche Schichten, und die Ursachen dafür sind vielschichtig: Es ist die Opioidkrise genauso wie die Waffengewalt, die schlechte Ernährung und die soziale Ungleichheit. Indigene Amerikaner haben eine Lebenserwartung von lediglich 67 Jahren. Verstärkt statt abgefedert werden die Probleme durch ein extrem teures und trotzdem ineffizientes Gesundheitssystem, das pro Jahr sagenhafte 4,3 Billionen Dollar verschlingt. Trotzdem haben 30 Millionen US-Amerikaner keine Krankenversicherung. Wenn die USA in einem Jahr einen neuen Präsidenten wählen, wird ihn das vor große Herausforderungen stellen. 

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