Nach Corona: Der fatale Tunnelblick

Ungeeignete Strategien und Maßnahmen, miserable Daten: Österreich hat das gesundheitspolitische „Jahrhundertereignis“ schlecht gemanagt. Wenigstens die Corona-Aufarbeitung muss jetzt klappen.

Illustration eines konfusen Wirbels, der Atemschutzmasken, Viren, Fieberthermometer und Dokumente aufwirbelt. Daneben stehen drei ratlos wirkende Menschen. Die Zeichnung soll die mangelnde Datenlage während der Pandemie illustrieren.
Corona-Chaos: Weder Österreich, noch Deutschland noch die Schweiz hatten einen präzisen Blick auf das Infektionsgeschehen. © Francesco Ciccolella
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Auf den Punkt gebracht

  • Blindflug. Ohne gute Datenbasis konnte das Risikomanagement in der Pandemie nicht erfolgreich sein.
  • Im Stich gelassen. Rund die Hälfte der Covid-Toten steckte sich in Pflegeheimen an – diese vulnerable Gruppe hatte zu wenig Schutz.
  • Kollateralschäden. Kinder litten durch Schulschließungen, obwohl sie von schweren Verläufen kaum betroffen waren.
  • Aufarbeitung. Die Fehler in der Pandemiebekämpfung müssen aufgearbeitet werden, um sie in Zukunft nicht zu wiederholen.

Am 11. März 2020, vor etwas über drei Jahren, wurde das Infektionsgeschehen aufgrund des neuen Coronavirus, Sars-CoV-2, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Pandemie und von den Medien als „Jahrhundertereignis“ eingestuft. Die Politik erklärte dem Virus den Krieg, um es, „koste es, was es wolle“, zu bekämpfen. Wirkmächtige Bilder und apokalyptische Modellierungen wurden zur Argumentationsgrundlage für „alternativlose“ gesellschaftliche Eingriffe, wie sie kaum jemand für möglich gehalten hatte.

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Was ist in den vergangenen drei Jahren eigentlich passiert? Genau wissen wir es bis heute nicht. Deutschland, Österreich und die Schweiz hatten zu keinem Zeitpunkt einen präzisen Blick auf das Infektions-, Erkrankungs- und Sterbegeschehen. Ab Anfang April 2020 dokumentierten führende deutsche Gesundheitswissenschaftler in zahlreichen Thesenpapieren, wie drei Jahre lang mit ungenauen Parametern Modelle erstellt, ohne ausreichende Studienbasis einzigartige Maßnahmen ver­ordnet, Grundrechte eingeschränkt, ethische Prinzipien verletzt, öffentliche Mittel verschwendet und geltende ­medizinische und wissenschaftliche Standards über Bord geworfen wurden. Die schon Mitte März 2020 vom Stanford-Epidemiologen John P. A. Ioannidis geäußerte Befürchtung eines sich anbahnenden Datenfiaskos hat sich leider bewahrheitet.

Wie im defekten Cockpit

Genau definierte und erhobene Parameter sind aber die Grundvoraussetzung für eine präzise Risikobewertung, eine korrekte Risikokommunikation, jedes erfolgreiche Risikomanagement und letztendlich auch eine umfassende Evaluierung. Vergleichbar ist all das mit einem Flugzeug-Cockpit, in dem alle notwendigen Instrumente nicht nur vorhanden sind, sondern auch zuverlässig korrekte Daten liefern.

Was nützt ein Höhen- oder Geschwin­digkeitsmesser, der nicht funktioniert, eine Treibstoffanzeige, die falsche Werte anzeigt? Bei Schönwetter ist eventuell noch ein Flug auf Sicht möglich, in der Nacht oder im Nebel kommt es jedoch rasch zu Fehlentscheidungen mit unerwünschten Konsequenzen. Deutschland, Österreich und die Schweiz, drei der reichsten Länder der Welt, hatten zu keinem Zeitpunkt der Pandemie ein voll ausgestattetes Cockpit mit präzi­sen Instrumenten, sondern waren immer mehr oder weniger im Blindflug unterwegs. Ohne gute Datenbasis kann ein Risikomanagement aber nicht erfolgreich sein. Ohne geeignete Strategien und Maßnahmen auch nicht. Am folgenschwersten ist die Kombination aus ungeeigneten Strategien und Maßnahmen, basierend auf einer miserablen Datenbasis.

Vieles lief falsch, manches richtig

Ausgezeichnet dokumentiert sind alle Verordnungen und Maßnahmen, alles öffentlich Gesagte und Geschriebene, alle Prognosen und Prophezeiungen, alle Entgleisungen der Sprache. ­Vieles hat sich als falsch und manches als richtig herausgestellt. Die vielen Fehleinschätzungen, Kehrtwendungen, Korrekturen, Sonderwege, aber auch Erfolgsgeschichten bieten aus heutiger Sicht jede Menge Möglichkeiten, um zu lernen und um besser zu werden. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurde über ein Ereignis so viel berichtet wie über die Corona-Pandemie. Die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung war enorm. Wie einzelne Medien damit umgegangen sind, bedarf einer vollkommen eigenen Aufarbeitung.

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Zahlen & Fakten

Heute wissen wir, dass sich in den vergangenen drei Jahren fast alle Menschen, egal ob geimpft oder ungeimpft, einmal, zweimal oder mehrfach mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Das neue Coronavirus ist endemisch und wird uns auch in Zukunft begleiten. Zero Covid war und ist eine Illusion. Faktum ist auch, dass ­viele Menschen an Covid-19 erkrankt sind. Manche davon so schwer, dass sie auf einer Intensivstation versorgt werden mussten oder sogar starben.

Wie viele es genau waren, wissen wir nicht, da auch positiv getestete Patienten, die aus einem ganz anderen Grund im Krankenhaus lagen, mit­gezählt wurden und es bei einem Altersdurchschnitt von 84 Jahren kaum möglich ist, zu unterscheiden, ob jemand mit oder an Covid-­19 verstorben ist.

Kinder waren kaum bedroht

Schon im März 2020 war klar, dass das Erkrankungs- und Sterberisiko aufgrund von Covid-19 einen enormen Altersgradienten aufweist und Kinder, Jugendliche und gesunde Erwachsene im Gegensatz zu chronisch kranken, hochbetagten und immunschwachen Menschen kaum bedroht sind. Deshalb hätte aus heutiger Sicht der bestmögliche Schutz der gut abgrenzbaren Risikogruppen, insbesondere der Bewohner von Pflegeheimen, von Anfang an höchste Priorität haben müssen. Für die restliche Bevölkerung hätten Empfehlungen und ein Minimum an Maßnahmen wie beispielsweise in Schweden ausgereicht.

Im Vordergrund: Ein Desinfektionsspender in einem Pflegeheim. Im Hintergrund erkennt man verschwommen zwei Heimbewohner, eine Person im Rollstuhl.
Rund die Hälfte der Covid-Toten war auf Infektionen in Pflegeheimen zurückzuführen. © Getty Images

Nach der ersten Welle im Frühjahr 2020 standen den Behörden sieben Monate für die Abschirmung der Pflege­heime im Winter 2020/2021 zur Verfügung. Selbst wenn 200.000 Euro pro Pflegeeinrichtung für Schutz- und Folgenminderungsstrategien aufgewendet worden wären, hätte das gesellschaftlichen Kosten von gerade einmal einem Tag Lockdown entsprochen. Mit einem Bruchteil dessen, was für Massentests von gesunden Personen oder wirtschaftliche Entschädigungszahlungen ausgegeben wurde, hätte die kritische Zeit von ein paar Monaten bis zur Verfügbarkeit einer wirksamen Impfung überbrückt werden können.

Die tiefen Corona-Spuren

Stattdessen wurde der Pflegebereich vernachlässigt. Im Winter 2020/2021 kam fast die Hälfte der Covid-Toten aus Pflegeheimen – wo nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung lebt. Dass sich daran auch in den folgenden Jahren nichts geändert hat, zeigt eine aktuelle Studie der zweitgrößten Krankenkasse Deutschlands (Barmer). So gesehen war die eingeschlagene Schutzstrate­gie gescheitert. Da gebe es viel zu lernen, um beim nächsten Mal nicht nur besser zu werden, sondern auch eine übertriebene Isolation älterer Menschen, die damit verbundene Vereinsamung und die Verletzung ethischer Prinzipien zu vermeiden.

Die vergangenen drei Jahre haben tiefe Spuren in unseren Gesellschaften hinterlassen. Die Zeit war geprägt von Maßnahmen, die ohne Wissen über die damit verbundenen erwünschten und unerwünschten gesundheitlichen, psychosozialen und wirtschaftlichen Effekte verordnet wurden. Eine interdisziplinäre Debatte darüber gab es nicht, Gesundheitsfolgenabschätzungen wurden keine durchgeführt. Statt die Pandemie als gesamtgesellschaftliches und soziales Ereignis zu verstehen, dominierte der medizinisch-virologische Tunnelblick, der nur auf ein Virus, eine Erkrankung, starrte.

Großer Kollateralschaden

Die Unter- und Fehlversorgung anderer akuter und chronischer Erkrankungen spielte plötzlich keine Rolle mehr. Mit den meisten Maßnahmen betrat die Politik vollkommenes Neuland. Die unerwünschten Folgen blieben weitgehend unbeachtet. Viele Maßnahmen waren unverhältnismäßig, haben deutlich mehr geschadet als genutzt und die soziale und gesundheitliche Ungleichheit enorm vergrößert.

Bei viel zu vielen jungen Menschen werden die Folgen von Bildungsdefiziten, Bewegungsmangel, Essstörungen, Suchtproblemen, Depressionen und anderen Nebenwirkungen ein Leben lang anhalten. Es wird Zeit, abzuschätzen, wie viele gesunde Lebensjahre der eindimensionale Tunnelblick unsere Gesellschaften gekostet hat. Wie sehr er zum Vertrauensverlust in Regierungen, Politik, Behörden, Medien und Wissenschaft beigetragen und den sozialen Zusammenhalt geschwächt hat.

Auf der Behandlungsebene wäre eine Intervention ohne sicheres Wissen und ohne vorige Aufklärung über Wirkung und mögliche Nebenwirkungen nicht nur unprofessionell, unwissenschaftlich und unethisch, sondern in bestimmten Fällen auch strafbar. Gleiches gilt für Interventionen auf der gesellschaftlichen Ebene.

Unverhältnismäßig

Wie in der Medizin und Pflege gilt auch in der Politik das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: „Maßnahmen sollten nur dann ergriffen werden, wenn die erwünschten Wirkungen hinreichend sicher eintreten und mögliche unerwünschte Wirkungen eindeutig übertreffen.“ Dieses Prinzip wurde zu keinem Zeitpunkt eingehalten.

Wissen wurde durch Glauben, wissenschaftliche Debatte durch Glaubenskriege ersetzt.

Das gilt nicht nur für Kindergarten- und Schulschließungen, die Ende Jänner sogar der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach als Fehler bezeichnete, sondern auch für viele andere politische Entscheidungen und Verordnungen. Während Milliarden an öffentlichen Mitteln in die Entwicklung von medikamen­tösen Interventionen flossen, wurde die ebenso wichtige Versorgungsforschung zur Wirksamkeit der nichtmedikamentösen Maßnahmen vernachlässigt.

Wenn es um Lockdowns, Masken im öffentlichen Bereich, das massenhafte Testen von gesunden Menschen, 2G, 3G, Hände­desinfektion, Schulschließungen, Grenzkontrollen oder Abriegelung von Regionen und andere Maßnahmen ging, wurde Wissen durch Glauben, wissenschaftliche Debatte durch Glaubenskriege ersetzt.

Die Schweiz hat im Frühjahr 2022, ein Jahr früher als Deutschland und Österreich, sämtliche Corona-Maßnahmen beendet. Rückblickend hätte diese Entscheidung – aufgrund der Verfügbarkeit von wirksamen Impfstoffen gegen schwere Verläufe, einer zu­nehmenden natürlichen Immunität, weniger pathogenen Varianten und deutlich mehr Wissen über das Virus – schon im Sommer 2021 erfolgen müssen.

Es gibt kein Nullrisiko

Ein Nullrisiko ist weder bei Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen noch bei Unfällen, Infektionskrankheiten oder anderen Gesundheitsgefahren möglich. Risiken können nur bestmöglich, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, minimiert werden. Ein einziges Gesundheitsrisiko, „koste es, was es wolle“, zu bekämpfen und alle anderen Determinanten von Gesundheit zu vernachlässigen ist eine gesellschaftliche Entgleisung, die sich nie mehr wiederholen darf.

In einem offenen Brief fordern Wissenschaftler eine umfassende inter­disziplinäre Aufarbeitung. Eine offene, kritische und konstruktive Nachbesprechung ist ein unverzichtbarer Teil jedes professionellen Krisenmanagements. Die österreichische Regierung hat die Akademie der Wissenschaften beauftragt, die Corona-Politik und ihre Folgen zu analysieren.

Die Aufarbeitung des „Jahrhundertereignisses“ ist aber nicht nur eine politische und wissenschaftliche, sondern vor allem eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der auch die Bürger beteiligt werden müssen. Wertschätzend und auf gleicher Augenhöhe. Dieser Prozess wird Jahre dauern, braucht ausreichend Ressourcen und muss überdies gut moderiert werden. „Schwamm drüber“ ist mit Sicherheit keine Option

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Conclusio

Die österreichische Politik hat teilweise allzu rigoros, dann wieder zu wenig entschlossen auf die Pandemie reagiert. Während die Schulschließungen überschießend waren, wurde zu wenig Augenmerk auf den Schutz der Personen in Pflegeheimen gelegt. Was grundsätzlich fehlte, war eine weit über die Virologie ­hinausgehende, ­interdisziplinäre Debatte über Maßnahmen und Folgen. Eine Gesundheitsfolgen­abschätzung gab es ohnehin nicht. Bei zu vielen jungen Menschen wirken sich Bildungsdefizite, psychische Erkrankungen und andere Beeinträchtigungen als Folge von Corona ein Leben lang aus. Nun gilt es, die Maßnahmen und den Vertrauensverlust in Politik, Behörden, Medien und Wissenschaft aufzuarbeiten. Das ist nicht nur eine politisch-wissenschaftliche ­Aufgabe, sondern ein gesellschaftliches ­Projekt, das die Bürger einbinden muss.

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