Ode an die Grenze
Sie spalten, ziehen Gräben, bauen Mauern – und doch sind sie notwendig. Philosoph Konrad Paul Liessmann lotet Grenzen aus.
Nach einer langen Fahrt erreichen wir endlich die Grenze. Sie ist kaum bemerkbar. Wohl verengen sich die Fahrspuren und die Geschwindigkeit muss gedrosselt werden. Die Grenzstation selbst aber ist verwaist, kein Grenzbeamter ist zu sehen. Die Reise kann ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Nur ein paar Schilder machen darauf aufmerksam, dass wir uns nun in einem anderen Land befinden, in dem sich die Geschwindigkeitsbeschränkungen ändern. Und das war es auch schon.
Die Humanisierung eines Kontinents
Dank der Schengener Abkommen war dies seit geraumer Zeit die dominante Grenzerfahrung in Europa. Vielleicht erinnerte man sich bei solchen Gelegenheiten an seine Kindheit, als man an derselben Grenze stundenlang wartete, Pass und Kofferraum kontrolliert wurden und Geld gewechselt werden musste. Natürlich, das hatte durchaus seinen Reiz gehabt. Eine streng markierte Grenze zu überschreiten, die Passkontrolle und die hartnäckigen Fragen der Kontrolleure zu überstehen, steigerte den Genuss, damit endlich in der ersehnten Fremde angekommen zu sein. Manches mag sich in solchen Rückblicken nostalgisch verklären. Aber im Grunde war man froh, dass zumindest die Grenzen innerhalb Europas kaum noch sichtbar waren. Im besonderen Maße galt dies für jene innereuropäische Grenzlinie, die den Kontinent geteilt und für die sich der treffende Begriff „eiserner Vorhang“ eingebürgert hatte. Wer je vor dem Jahre 1989 auf diese Grenze gestoßen war, mit Stacheldraht und Wachtürmen, mit schwer bewaffneten Grenzsoldaten, wusste, dass der Abbau dieser Grenzen nur als ersehnter Ausdruck einer Befreiung und Humanisierung des Kontinents erlebt werden konnte.
Keine Frage: Grenzen schienen in einer prosperierenden Welt bis vor kurzem kein Thema mehr zu sein, die Globalisierung sorgte zudem dafür, Grenzen in jeder Hinsicht zurückzudrängen. Waren, Daten, Kapital, Gedanken und Menschen sollten frei um den Erdball zirkulieren, wo es noch Grenzen gab, wurden diese als Hemmnisse gedeutet, die man lieber heute als morgen beseitigen wollte. Grenzen galten als Relikte einer vergangenen Zeit. Der Sinn der Grenze erschöpfte sich in ihrer Überschreitung und ihrem Abbau. Am frühesten war diese Haltung im Bereich der Kultur zu spüren. In keinem gesellschaftlichen Segment wurden im letzten Jahrhundert derart viele Grenzen überschritten und Grenzen eingerissen wie in der Kunst. Der enge bürgerliche Kunstbegriff, der sich an tradierten ästhetischen Normen und an den unsterblichen Werken der Klassiker orientierte, hatte spätestens seit den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts ausgedient.
Die Avantgarde, die Vorhut des ästhetischen und mitunter auch politischen Fortschritts, verstand sich explizit als Unternehmen der Grenzüberschreitung, und dies in einem fast militärischen Sinn: Die Bastionen der bürgerlichen Hochkultur sollten erstürmt, die ästhetischen Produktivkräfte befreit und die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Kunst und Alltag, zwischen Kunst und Design, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Kunst und Nichtkunst eingerissen werden. Grenzenlosigkeit wurde nicht nur zu einem ästhetischen Ideal, sondern auch zu einem Modell für das Leben und Zusammenleben der Menschen. Wer noch in einem positiven Sinn von Grenzen, gar von deren Notwendigkeit sprach, wer gar Mauern bauen wollte, galt als konservativ, engstirnig, borniert und reaktionär. Grenzen erschienen unvereinbar mit jedem Anspruch auf Freiheit.
Die Pandemie bringt die Grenzen zurück
Jetzt sprechen wir wieder über Grenzen. Zwei Ereignisse und die damit verbundenen Erfahrungen nötigen uns, das Phänomen der Grenze unter einer neuen Perspektive zu betrachten: Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 und die Corona-Pandemie der Jahre 2020/21 haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass sich das Konzept der Grenze nicht so einfach erledigen lässt. Die Frage, ob und wann Grenzen geöffnet werden sollen oder geschlossen werden müssen, bestimmt in Migrationsfragen auch weiterhin die nationale und europäische Politik. Regiert auf der einen Seite die Angst vor den politischen und sozialen Folgen einer unkontrollierten Zuwanderung, dominiert auf der anderen Seite die Sorge, dass ein strengeres Grenzregime die Preisgabe europäischer Werte und humaner Ziele bedeuten könnte. Ähnliches gilt für befristete Grenzkontrollen im Zuge der Pandemie. In seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein, scheint all dem zu widersprechen, was zu den Errungenschaften des modernen Lebens zählt. Die im letzten Jahr zu beobachtende Renaissance von Binnengrenzen könnte – so die Befürchtung – das europäische Einigungsprojekt zum Scheitern bringen und eine neue Epoche des Nationalismus einleiten.
Doch es gibt Unterschiede. Ging es bei der Flüchtlingskrise um die Frage, ob, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß die Gewährung von politischem Asyl und generell Zuwanderung nach Europa möglich sein sollen, zeigte die Pandemie, dass im Zuge des Kampfes gegen ein heimtückisches Virus alte und längst vergessene Landes- und Bezirksgrenzen plötzlich eine ungeahnte, wenn auch nur temporäre Bedeutung bekommen können. Im Versuch, besonders gefährdete Menschen vor der Ansteckung zu bewahren, erwiesen sich Grenzen als überlebensnotwendig. Und dies gilt für alle Ebenen, an denen diese Grenzen nun in Erscheinung treten. Die Einschränkung der Reisefreiheit betraf dabei die politischen Einheiten, bis hin zu einem Grenzregime mit strengen Kontrollen. Die Forderung physischer Distanzierung zog überdies neue Grenzen. Dort, wo Menschen noch aufeinandertreffen konnten wie in Supermärkten oder Apotheken, war ihnen diese Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen durch Markierungen am Boden vorgegeben.
Hier bin ich, und dort bist du
Wo immer ich stehe, stehe ich vor einer Grenze, die nicht überschritten werden darf. Enger war es nie. Die Entwicklung von Impfstoffen und die Impfkampagnen zogen sofort neue Grenzen: Zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, Immunisierten und Gefährdeten. Die Zuschreibung zu einer dieser Gruppen entscheidet über die Möglichkeit, die Freiheiten, die vor der Pandemie selbstverständlich gewesen waren, allmählich wieder in Anspruch zu nehmen. Aber jede Aufforderung, seinen Impfpass oder ein Testergebnis vorzuweisen, ist eine Art Grenzkontrolle. Ohne gültigen Ausweis bleibt der Zutritt zu einem bestimmten Raum verwehrt. Auch darin lag und liegt der Sinn einer Grenze.
Wo immer ich stehe, stehe ich vor einer Grenze, die nicht überschritten werden darf.
Letztlich geht es immer um das prekäre Verhältnis zwischen Staatsräson und Humanität, zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen. All dies zeigt, dass die Grenze selbst wieder zu einer bedeutsamen Kategorie des politischen und sozialen Diskurses geworden ist. In dem Maße, in dem Menschen in Gemeinschaften leben, leben sie in und mit Grenzen. Grenzen sind deshalb nicht nur der sichtbare Ausdruck, mit dem sich politische Gemeinschaften ihrer territorialen Ausdehnung, ihrer politischen Einheit und Souveränität vergewissern, Grenzen sind ein Ausdruck dafür, dass wir nicht in einer Welt, sondern in vielen politischen, sozialen und kulturellen Welten leben. Jedes Plädoyer für Vielfalt, Differenz und Pluralität setzt Grenzen voraus. Auf der einen Seite solch einer Grenze lebt es sich anders als auf der anderen.
Identitätspolitik, von welcher Gruppierung auch immer betrieben, Diversity Management, von welcher Unternehmungsberatung auch immer empfohlen, sind Versuche, ein Grenzregime zu errichten, das über Zugehörigkeiten ebenso entscheidet wie über Ausschlüsse. Jedem wird signalisiert: Hier bin ich, und dort bist du. Grenzen zu ziehen bedeutet aber nicht, dass damit Wertungen verbunden sein müssen. Grenzen zeigen nur, dass es zwischen den Menschen, ihren Lebens- und Organisationsformen, ihren politischen Überzeugungen und religiösen Glaubensbekenntnissen Unterschiede gibt. Grenzen machen solche Unterschiede sichtbar und laden doch ein, sie zu verwischen.
Grenzen ordnen unsere Welt
Das Wort „Grenze“, das aus dem Slawischen kommt und schon früh die „Mark“ abgelöst, hat, kann aber auch noch anders gedeutet werden. Wir können jede Vorschrift, jedes Gesetz, jedes moralische Verbot als Grenze deuten, die unser Handeln limitiert: Bis hierher und nicht weiter! Unser Verhalten wird durch Grenzen bestimmt, wir sollten im Hinblick auf die Integrität anderer Menschen unsere Grenzen kennen, und wer hier zu weit geht und andere beleidigt, demütigt, gar verletzt, hat damit Grenzen des Anstandes und der Moral in unzulässiger Weise überschritten. Grenzen haben deshalb, und dies wird heute gerne übersehen, eine Schutzfunktion. Grenzen bewahren die Schwachen vor Übergriffen und Missbrauch. Grenzen nicht anzuerkennen, war deshalb immer die Haltung von Aggressoren.
Grenzen bestimmen selbst unser Denken. Und dies nicht nur, wenn wir uns borniert in einem engen geistigen Rahmen bewegen, sondern auch dann, wenn wir versuchen, Klarheit in unser Denken zu bringen. Wenn wir danach trachten, die Begriffe, die wir verwenden, exakt zu definieren, ziehen wir Grenzen. Dem Wortsinn nach ist jede Definition eine Abgrenzung. Grenzen ordnen unsere physische, soziale und geistige Welt selbst dann, wenn wir mit diesen Ordnungen nicht einverstanden sind.
Grenzen sind grundsätzlich ambivalent, denn Grenzen haben in der Regel zwei Seiten: Hier und dort, hüben und drüben, diesseits und jenseits, reich und arm, ausgeschlossen und zugehörig, chancenlos und hoffnungsfroh, bedroht und in Sicherheit. Und dazwischen verläuft die Grenze. Grenzen scheiden und unterscheiden, Grenzen machen Unterschiede sichtbar und schaffen sie, Grenzen markieren Differenzen oder geben diese vor, Grenzen geben Auskunft darüber, auf welcher Seite man sich befindet. Grenzen definieren, geben Orientierung und möchten das fern halten, was nicht dazuzugehören scheint. Grenzen spalten, ziehen Gräben, bauen Mauern: Stätten der Inhumanität. Grenzen schützen, geben Sicherheit, ordnen die Welt, fordern auf, den Anderen zu achten und zu respektieren: Bedingungen guten Lebens. Grenzen trennen, was doch zusammengehört, Grenzen signalisieren, dass nicht alles zusammengehören kann. Grenzen zeigen, dass Menschen nicht nur miteinander, sondern auch nebeneinander leben müssen.
Von den Grenzen der Machbarkeit
Grenzen – und damit eröffnet sich noch ein Bedeutungsfeld – sind überdies ein Ausdruck dafür, dass es irgendwann einmal genug sein könnte: Grenzen des Wachstums, Grenzen der Gerechtigkeit, Grenzen des Wohlfahrtsstaates, Grenzen der Belastbarkeit, Grenzen der Mobilität, Grenzen der Verschmutzung, Grenzen der Verständigung, Grenzen der Toleranz, Grenzen des Erträglichen, Grenzen der Machbarkeit. Grenzen lassen sich entweder als eine trennende Linie oder als äußerstes Limit verstehen. Grenzlinien können mehr oder weniger durchlässig sein, man kann sie überschreiten, manchmal sogar aufheben. Ein äußerstes Limit aber bedeutet eine endgültige Schranke, die nicht mehr oder zumindest noch nicht überwunden werden kann.
Menschen, die an ihre Grenzen gehen, versuchen herauszufinden, was für sie möglich ist. Das Ausloten von Grenzen, ihr hinausschieben, gehört so ebenfalls ganz wesentlich zu unseren Grenzerfahrungen. Vieles, was vor Zeiten undenkbar schien, ist heute Wirklichkeit, weil solche Limitierungen nicht akzeptiert wurden. Und dennoch haben wir das untrügliche Gefühl, dass es zu einem verantwortlichen Leben gehört, nicht jede Grenze herauszufordern. Natürlich könnte man versuchen herauszufinden, wie viel an Klimaerwärmung die Menschheit imstande ist auszuhalten; es kann aber klug sein, vorher innezuhalten und umzudenken.
Kein Grenzwall, der für immer gehalten hätte, keine Mauer, die nicht eingestürzt wäre.
Keine Grenze ist ewig, keine Grenze ist für alle und für alle Zeiten festgelegt. Grenzen sind, in der Politik, in der Moral, im sozialen Leben Menschenwerk. Grenzen sind deshalb prinzipiell veränderbar, sie können verschoben und neu gezogen werden, sie können durchlässig oder rigide bewacht sein, man kann sie unüberwindbar machen und sie werden doch überwunden werden. Kein Grenzwall, der für immer gehalten hätte, keine Mauer, die nicht eingestürzt wäre, kein Gebot, das nicht übertreten worden wäre, keine Regel, die nicht verletzt worden wäre, kein Imperativ, dem man sich nicht widersetzen könnte, kein Grenzwert, der nicht je nach Interesse und Konjunktur nach oben oder unten korrigiert worden wäre.
Grenzgänger zwischen allen Stühlen
Jede Grenze ist ein Paradoxon. Sie trennt und sie verbindet gleichzeitig. Was immer die Grenze scheidet, was immer auf der einen und auf der anderen Seite der Grenze liegt: Für die Anrainer ist es eine gemeinsame Grenze. Grenzen markieren Nähe und Nachbarschaften. Eine gemeinsame Grenze verbindet selbst noch diejenigen miteinander, die nichts anderes mehr gemein haben als eben nur eine Grenze. Grenzen signalisieren ihrer Logik nach Folgendes: Hier ist dieses, aber dort ist jenes – und es gibt dieses Dort. Etwas als Grenze bestimmen, bedeutet deshalb, schon an das zu denken, was hinter der Grenze liegt – eine Gefahr, eine Verheißung, eine Hoffnung, ein Geheimnis, eine bessere Welt oder die Fortsetzung dessen, was überall ist. Gerade dort, wo Grenzen gezogen werden, um etwas ein für alle Mal abzugrenzen, wird dies nie gelingen.
Jeder, der an einer Grenze steht, stellt sich diese eine Frage: Stehenbleiben oder Weitergehen. Grenzen, wie immer sie bestimmt sein mögen, wo immer wir ihnen begegnen, stellen uns vor das uralte Problem aller Moral: Was soll ich tun? Zugespitzt könnte man sagen, dass überhaupt erst die Existenz von Grenzen, von Regeln, von Verboten, von Richtwerten uns zu Entscheidungen drängt. Nicht derjenige, der ohnehin alles tun könnte, muss sich fragen, was er nun tun soll, sondern derjenige, dem eine Grenze gezogen wird. Denn dieser steht vor der Wahl: Die Grenze respektieren oder sie überschreiten. Wo alles möglich ist, muss auch nichts geschehen. Grenzen schränken Möglichkeiten ein und provozieren gerade deshalb: zu einem Versuch, einer Reflexion, einem Protest, einer Einsicht, einer Übertretung.
Dort, wo es Grenzen gibt, gibt es auch Grenzgänger. Unentschiedene, die sich nicht auf die eine oder andere Seite der Grenze festlegen lassen wollen, die sich einmal hier, dann wieder dort bewegen, die das Dazwischen zu einer Existenzform gewählt haben: Zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen Kunstgattungen, zwischen Religionen, zwischen Lebensstilen, zwischen sexuellen Orientierungen, zwischen allen Stühlen. Solch ein Dazwischen lässt sich erst denken und leben, wenn es die Grenze gibt, die ich in die eine oder andere Richtung überschreiten oder unterlaufen kann. Grenzen hinauszuschieben, an äußerste Grenzen zu gelangen, diese womöglich zu überwinden, gehört zweifellos zu den stärksten motivierenden Kräften des Menschen.
Dies gilt auch für die Grenzen, die in unserem Inneren liegen. Manchmal muss man versuchen, über sich selbst hinaus zu gelangen. Im Gegensatz zu einem Horizont, an den man gelangen möchte und den man doch nie erreichen wird, weil er stets zurückweicht, signalisiert uns die Grenze, wann wir sie hinter uns gelassen haben. Ohne Grenzen wüssten wir weder im Denken noch im Leben, dass es das Andere gibt, dass man über sich hinauswachsen, dass man Zustände überwinden und zu neuen Ufern nicht nur aufbrechen, sondern diese auch erreichen kann.