Woher der Schweizer Wohlstand kommt

Ein schlanker Staat, agile Bürger? Fast. Die Schweiz ist reich, weil der Staat sich zurücknimmt und die Bürger Verantwortung übernehmen lässt.

Foto eines kleinen Propellerflugzeugs über schneebecktem Gebirge bei blauem Himmel. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Wirtschaft und den Wohlstand in der Schweiz.
Ein Privatjet über den Gipfeln von Sankt Moritz auf dem Weg zum World Economic Forum in Davos 2023. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Regulierung. Auch in der Schweiz sind bestimmte Bereiche vor den Schwankungen des Marktes geschützt – etwa Mieten und Lebensmittel.
  • Bottom-up. Wieviel Steuergeld für was ausgegeben wird, bestimmen vor allem die Kommunen und Gemeinden.
  • Verantwortung. Schweizern ist bewusst, dass die Rahmenbedingungen für Unternehmen, zum Leben und zum Arbeiten attraktiv bleiben müssen.
  • Teil des Ganzen. Direkte Mitbestimmung lässt die Entgegensetzung oben der Staat, unten die Bürger erst gar nicht entstehen.

Würden Länder an der Börse gehandelt, wäre die Schweiz eine Value-Aktie: lange etabliert, unspektakulär, stabil. Und über weite Strecken auch ein wenig undynamisch. Helvetia ist in Boomphasen keine Wachstumsweltmeisterin, und die Schweizer fragen sich dann gerne, was sie eigentlich falsch machen. Nach Krisenkaskaden wie jüngst mit Covid, Ukraine-Krieg, Energiepreisexplosion und Inflation fällt es einem dann wieder ein: nicht so viel.

Mehr Wohlstandsfragen


Die Einkommensteuerbelastung ist ziemlich niedrig. Als Faustregel für einen normalverdienenden Haushalt gilt: Ein Monatslohn geht an den Fiskus. Die Mehrwertsteuer beträgt 7,7 Prozent. Die Staats- und Fiskalquoten liegen deutlich unter jenen der Nachbarländer, die Staatsschuldenquote lag Ende 2021 bei 42 Prozent (Österreich: 83, Deutschland: 70, USA: 128 Prozent). Seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 hat allein der Bund Staatsschulden im Umfang von etwa 30 Milliarden Franken abgebaut (entspricht nach heutigem Kurs 30 Milliarden Euro).

Budgetdisziplin

Für die Bewältigung der Covid-Krise gab der Staat dann in etwa 30 Milliarden Franken aus – man wäre also wieder auf dem Stand von 2003. Und doch hat das Parlament im letzten Herbst beschlossen, die Covid-Ausgaben seien durch künftige Überschüsse (und nicht etwa durch die vergangenen) zu kompensieren. Die derzeitigen Finanzpläne des Bundes prognostizieren für die kommenden Jahre einen Rückgang der Fiskal- und Staatsquote sogar leicht unter das Vor-Covid-Niveau. Kurz: Die helvetische (Budget-)Disziplin macht ihrem Ruf alle Ehre.

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Zahlen & Fakten

Gleichzeitig lag die Inflation Ende 2022 in der Schweiz bei drei Prozent – was in der Schweiz viele schon alarmiert –, während Österreich und andere europäische Länder mit zehn Prozent zu kämpfen haben. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt 85.000 Euro.

Die Börsenkapitalisierung schweizerischer Unternehmen summiert sich auf sage und schreibe zwei Billionen Euro und liegt damit nicht weit hinter den 2,3 Billionen des bevölkerungsmäßig neunmal so großen Deutschland. Österreich kommt nur auf ein Fünfzehntel dieses Werts. Der Franken hat unterdessen Parität zum Euro erreicht; vor fünfzehn Jahren musste man noch 1,60 Franken für einen Euro zahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zwei Prozent.

Schweizer Klischees

Warum ist die Schweiz dermaßen erfolgreich? Die Antwort scheint nahe zu liegen: Die Lust am Wettbewerb ist tief in den Schweizer Köpfen verankert, und der Staat will entsprechend schlank gehalten werden. Klingt gut, nicht wahr? Ist aber falsch.

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Zahlen & Fakten

In Wahrheit fristet das Konkurrenzdenken hierzulande nämlich, anders als etwa in den USA, ein stiefmütterliches Dasein: Die Schweizer sind bescheiden und können sich nur ungeschickt verkaufen, gewisse Exemplare wirken zuweilen geradezu tölpelhaft; und Erscheinungen, die weit über den Durchschnitt hinausragen, sind ihnen in der Regel suspekt. Das sieht man bestens daran, dass die Tennis-Ikone Roger Federer außerhalb der Schweiz oftmals stärker verehrt wurde als zu Hause.

Die auf dem Papier niedrige Fiskalquote ist Augenauswischerei.

Auch ein paar andere Klischees, die gerne gepflegt werden, haben mit der Realität wenig zu tun: Die auf dem Papier niedrige Fiskalquote zum Beispiel ist Augenwischerei. Addiert man die (obligatorischen) Krankenkassenprämien und den obligatorischen Teil der Beiträge zur beruflichen Vorsorge (Zweite Säule der Altersvorsorge) zu den Fiskaleinnahmen, so erhöht sich die Quote auf 40 Prozent, womit die Schweiz nur knapp hinter Österreich und sogar noch vor Deutschland liegt.

In den deutschsprachigen Nachbarländern zählen diese Posten von Haus aus zum Sektor Staat, in der Schweiz gehen die Zahlungen an private Institutionen und tauchen deshalb nicht in der Statistik auf. Sie sind aber sowohl verpflichtend als auch staatlich exakt geregelt und in­sofern einer staatlichen Zwangsabgabe gleichzustellen.

Bedingte Grundsicherung

Die Schweiz ist beileibe auch kein herzloses Land, in dem es nur Starken und Reichen gutgeht. So wird Bildung ebenso wie in Österreich bis hoch in die Tertiärstufe weitestgehend gratis angeboten und liegt in Händen des Staates. Die Semestergebühr an den Schweizer Universitäten beträgt etwa 700 Franken pro Semester. Privatschulen sind ein Randphänomen.

Das Netz der sozialen Sicherung ist dicht. Niemand muss hier auf der Straße landen.

Die Schweiz hat eines der dichtesten öffentlichen Verkehrsnetze, und nur die Hälfte der Betriebskosten (ganz zu schweigen von den Investitionen) wird durch Ticketpreise gedeckt, den Rest finanziert das Kollektiv.Alle Bürger haben Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung. Das Netz der sozialen Sicherung ist dicht. Niemand muss hier auf der Straße landen.

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Zahlen & Fakten

Die Schweiz hat – mit der Sozialhilfe – sozusagen ein Grundeinkommen, das die finanzielle Existenz garantiert. Nur ist dieses nicht bedingungslos, sondern an die Auflage geknüpft, dass arbeiten soll, wer arbeiten kann. Auch das Wohnen wird nicht den Marktkräften überlassen, sondern ist über die Anbindung von Mieten an die Kosten stark reguliert.

Von allen europäischen Ländern hat die Schweiz mit 29 Prozent die höchste Quote staatlich administrierter Preise. Zählt man die Mieten, diverse Nahrungsmittel (die durch den schweizerischen Agrarprotektionismus vor ausländischem Wettbewerb geschützt sind) und Treibstoffe, Brennstoffe sowie Tabakprodukte (die über Steuern preislich reguliert werden) hinzu, steigt die Quote sogar auf 55 Prozent.

Die Schweiz belegt zwar Spitzen­plätze in globalen Indizes, die Wettbewerbsfähigkeit vergleichen; bei Rankings hingegen, in denen es um die Regulierungsdichte geht, schneidet sie erstaunlich schlecht ab. Wenn es also nicht das Vertrauen in die Marktkräfte ist, das der Schweiz ihren Wohlstand beschert: Was ist es dann?

In der Schweiz zählen die Gemeinden

Es ist – das mag jetzt widersinnig klingen – eine Skepsis gegenüber großen Würfen, der ausgeprägte Glaube an Bottom-up-Prozesse. Die Schweiz ist extrem föderalistisch und dezentral aufgebaut: neun Millionen Einwohner, 26 Kantone, 2.136 Gemeinden. Die Einnahmen des Bundes beliefen sich 2020 auf 75 Milliarden Franken, jene der Kantone lagen mit 97 Milliarden Franken deutlich höher, die Einnahmen der Gemeinden lagen bei 50 Milliarden Franken. Die Kantone und Gemeinden finanzieren einen Großteil ihrer Ausgaben mit eigenen Steuereinnahmen, über die sie zudem auch Gestaltungshoheit besitzen.

Jeder Franken wird bürgernah eingenommen und bürgernah wieder ausgegeben.

Man könnte den kleinteiligen schweizerischen Föderalismus als ineffizient bezeichnen. Das ist er statisch gesehen vielleicht auch. Der Koordinationsbedarf ist hoch, die Effizienzverluste sind real. Teilweise mangelt es an Kompetenzen. Gerade auf Kantons- und noch mehr auf Gemeindeebene fehlen oft fähige Personen, weil das Milizsystem immer mehr Mühe hat, Leute zu finden, die diese Ämter bekleiden wollen.

Andererseits sind es eben genau dieser gelebte Föderalismus und der Milizgedanke, die zum (verhältnismäßig) schlanken schweizerischen Staat mit seinen wettbewerbsfreundlichen und damit wohlstandsfördernden Rahmenbedingungen führen. Denn sie schaffen eine Unmittelbarkeit von Einnahmen, Ausgaben und Aufgabenerfüllung, die zu einem verantwortlichen und zielgerichteten Umgang mit öffentlichen Geldern führt.
Jeder Franken wird bürgernah eingenommen und bürgernah wieder ausgegeben.

Das gemeinsame Ganze

Das schärft in der Bevölkerung das Verständnis dafür, dass Geld nicht einfach wie Manna vom Himmel fällt oder von der Nationalbank beliebig gedruckt wird. Nein, es handelt sich tatsächlich um ihr Geld, das für etwas ausgegeben wird – und nur vorhanden ist, wenn der Standort attraktive Rahmenbedingungen für Unternehmen, zum Leben und zum Arbeiten bietet.

Foto von zwei Wahlplakaten mit identischem Motiv. Auf dem Platat steht: Den Frauen zuliebe - ein männliches Ja. Eine Frauenhand hält einen Blumenstrauß, darüber ein Herz mit dem Slogan. Das Bild gehört zu einem eitrag über den Wohlstand in der Schweiz und das Mitbestimmungsrecht der Bürger.
Das Frauenstimmrecht brauchte viele Anläufe: Erst seit 1971 dürfen auch die Schweizerinnen bei politischen Entscheidungen mitbestimmen. © Getty Images

Wie stark sich jede Schweizerin und jeder Schweizer als Teil des gemeinsamen Ganzen empfindet, zeigt sich bestens im Abstimmungsverhalten, das im Ausland immer wieder für Verblüffung sorgt. Volksinitiative für sechs Wochen Ferien für alle: abgelehnt (66 Prozent Nein). Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen von 2.500 Franken monatlich für alle: abgelehnt (77 Prozent Nein). Sogar eine Steuer von 20 Prozent auf Erbschaften über zwei Millionen Franken wurde mit 71 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Seit dem Jahr 2000 waren von 75 wirtschaftsrelevanten Volksinitiativen alle bis auf zwei wirtschaftsfeindlich (definiert als: abgelehnt von Wirtschaftsverbänden und der liberalen Partei FDP). Allerdings hat das Stimmvolk nur sieben davon angenommen; 66 Initiativen hat es abgelehnt und damit einen wirtschaftsfreundlichen Kurs direktdemokratisch legitimiert.

Pragmatismus

Auch die Covid-Krise hat die Schweiz mit weniger Freiheitseinschränkungen und geringeren Kosten für die öffentliche Hand als ihre Nachbarländer bewältigt. Da war der Vorwurf, hier würden Menschenleben auf dem Altar der Wirtschaft geopfert, natürlich nicht weit. Regierungen restriktiverer Länder mussten allein schon zur Verteidigung ihrer eigenen Covid-Politik die Schweiz anprangern. Die Politik stelle Marktinteressen über Menschenleben, hieß es.

Entsprechend hämisch waren die Schlagzeilen, als die Schweiz im November 2020 tatsächlich mit einer großen Infektionswelle zu kämpfen hatte. Die Bilanz nach drei Covid-Jahren gibt dieser Linie allerdings recht: Die Schweiz weist eine geringere Übersterblichkeit als Österreich und Deutschland auf.

Dabei lässt sich nicht einmal behaupten, dass die Schweizer Beamten und Politiker im Umgang mit SARS-CoV-2 sonderlich fähig gewesen wären. Es gab kommunikative Fehlleistungen, und Corona legte diverse Schwachstellen in Verwaltung und Politik offen. Aber in einer Pandemie, in der sich ohnehin alle Experten mindestens zweimal irrten, half das pragmatische ­Bottom-up-Vorgehen dabei, einigermaßen erfolgreich zu navigieren – auch wenn der Schweizer Regierung oftmals Konzeptlosigkeit und Führungsschwäche vorgeworfen wurden.

Bottom-up wirkt

Es ist diese historisch oft gemachte Erfahrung, dass Bottom-up funktioniert und man keinen großen, allwissenden Staat braucht, der jeden leitet, schützt und einschränkt. Was die Schweiz so erfolgreich macht, ist die Erkenntnis, dass man Probleme pragmatisch angehen kann, wenn sie auftauchen, und auch nur dort, wo sie auftauchen. Müsste man dafür einen Slogan suchen, würde sich „Kleiner Zentralstaat, starker Staat“ anbieten. Aber wie bereits erwähnt: Im Marketing sind wir nicht so gut.

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Conclusio

Die Schweizer Wirtschaft ist von langjähriger Stabilität geprägt. Während in vielen Ländern Europas die Inflationsraten gegen Ende des Vorjahres zweistellig wurden, kletterte die Teuerung in der Eidgenossenschaft lediglich auf drei Prozent. Der Staat ist gering verschuldet, und selbst teure Krisenpakete wie während der Pandemie werden in der Budgetplanung ausbalanciert. Die Bürger sind wohlhabender, verdienen besser und müssen weniger Steuern zahlen als in den Nachbarländern. Dennoch ist das soziale Netz dicht. Der Erfolg der Schweiz beruht hauptsächlich auf dem föderalen Bottom-­up-Prinzip: Viele Aufgaben werden nicht von der Regierung in Bern erledigt, son­dern dort, wo sie anfallen – in den Gemeinden und Kantonen. Jeder Schweizer fühlt sich mitverantwortlich für das gemeinsame Ganze.

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