Serbien, Chinas Einfallstor in Europa

Auf dem Westbalkan hat die EU durch ihr mangelndes Engagement ein politisches Vakuum geschaffen. Peking hat diese Chance vor allem in Serbien genutzt, um ein geostrategisches Einfallstor in Europa vorzubereiten. Jetzt muss Brüssel endlich gegensteuern.

Die von chinesischen  Unternehmen errichtete Mihajlo-Pupin-Brücke über die hier 730 Meter breite Donau in Belgrad wurde zum Sinnbild der chinesisch-serbischen Freundschaft.
Die von chinesischen Unternehmen errichtete Mihajlo-Pupin-Brücke über die hier 730 Meter breite Donau in Belgrad wurde zum Sinnbild der chinesisch-serbischen Freundschaft. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Enttäuschung. Die EU verkündet seit Jahren große Beitrittsperspektiven an den Westbalkan. Konkrete Fortschritte wurden bis jetzt nicht gemacht.
  • Projektpolitik. Stattdessen kauft sich China mit politisch ausgemachten Infrastrukturprojekten Einfluss in der Region und verbessert sein Handelsnetz.
  • Bester Freund. Mit einem Land pflegt China eine besonders enge Beziehung, die über bloße Wirtschaftsdeals hinaus geht: dem auch Russland nahestehenden Serbien.
  • Einfallstor. Käme es zu einem Konflikt zwischen China und den USA, könnte Peking vor allem Serbien zur Destabilisierung Europas instrumentalisieren.

Es war als harmloser Witz gemeint, sprach jedoch Bände: Als der deutsche Kanzler Olaf Scholz im Juni zu seinem ersten Westbalkangipfel kam, stellte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama seinen nordmazedonischen Amtskollegen Dimitar Kovačevski als Regierungschef von „West-Bulgarien“ vor. Immerhin hatte das seinerzeit Mazedonien genannte Land bereits einmal seinen Namen auf Druck Griechenlands geändert, um irgendwann der EU beitreten zu dürfen. Nun mauern die Bulgaren, weil sie Mazedonisch nicht als eigenständige Sprache, sondern als bulgarischen Dialekt sehen.

Historischer Fehler der EU

Rückblende ins Jahr 2003. Damals gab es im Rahmen der sogenannten „Agenda von Thessaloniki“ ein klares Bekenntnis aus Brüssel. Wörtlich: „Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.“ Was jedoch danach folgte, war bloß ergebnisloses Geplänkel mit den Beitrittskandidaten. Es könnte sich als historischer Fehler erweisen, die Länder in der Region derart vor den Kopf zu stoßen. Denn China ist längst in das politische Vakuum vorgestoßen und steht vor allem dank seiner engen Verbindung zu Serbien mit einem Fuß bereits auf dem Kontinent.

Noch ist Pekings Einfluss am Westbalkan mehr Ambition als Realität. Nach wie vor ist die Europäische Union mit Abstand der größte Wirtschaftspartner der Westbalkanstaaten: Mehr als 68 Prozent der Güterexporte von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien gehen in die EU, wie unsere Daten am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zeigen. Rund 61 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen fließen aus der Union – dazu zählt etwa, wenn Unternehmen gekauft oder Fabriken gebaut werden. In der Regel ist das hochproduktives Kapital, das die lokale Wirtschaft stützt.

Auch bei Infrastrukturmaßnahmen ist die EU der wichtigste Financier vor Ort. Wo liegt dann das Problem, wenn Peking auch ein kleines Stück vom ökonomischen Kuchen haben will?

Der Balkan als Teil der Seidenstraße

Begonnen hat alles mit einem massiven geostrategischen Fehler der EU: In der Folge der Euro-Krise wurde das stark verschuldete Griechenland bekanntermaßen zu diversen Sparmaßnahmen gedrängt, darunter der schrittweise Verkauf des Athener Hafens Piräus an den staatlichen chinesischen Betreiber Cosco. Seither verfolgt die Volksrepublik eine gezielte Strategie, um die Infrastruktur des Westbalkans in ihr eurasisches Handelsnetz, die „Neue Seidenstraße“, zu integrieren. 

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Zahlen & Fakten

Mit der geplanten Nachrüstung der Eisenbahnstrecke Belgrad–Budapest soll die Transportdauer zwischen den Hauptstädten auf unter drei Stunden halbiert werden, was natürlich zu begrüßen ist. Doch solche Großprojekte Chinas haben für die Bevölkerung auch einige Nachteile: Die Deals sind korruptionsanfällig, womöglich unwirtschaftlich, und die Wertschöpfung fließt zu einem überwiegenden Teil an chinesische Konzerne statt in die lokale Wirtschaft. Arbeiter und staatlich subventionierte Baumaterialien werden um die halbe Welt geschickt, selbst wenn sie vor Ort verfügbar wären.

Zwischen 2009 und 2021 flossen aus China rund 32 Milliarden Euro in den Westbalkan, 10,3 Milliarden davon allein nach Serbien, wie ein aktuelles Briefing für das Europäische Parlament vorrechnet. Das heißt nicht, dass Peking die Region mit kostspieligen Investitionsprojekten überzieht, die keiner braucht. Zu Unrecht geriet etwa das Autobahnteilstück in Montenegro in Verruf. Über eine Milliarde Euro kostete der Bau der ersten 41 Kilometer der Strecke, die von der Küstenstadt Bar irgendwann bis zur serbischen Grenze verlaufen soll. Dafür hat sich das 620.000 Einwohner zählende Land enorm verschuldet. Der Sinn des Projekts ist klar: Das populäre Tourismusziel Bar lockt vor allem Serben an, die gute Straßen durch das gebirgige Terrain schätzen. Doch für ein kleines Land wie Montenegro führt ein derartiges Vorhaben leicht zu hohen Schulden – egal, wer es finanziert.

Gefährliche Abhängigkeit

Problematischer ist die Abhängigkeit von China, die mit den offenen Krediten verbunden ist. Viel ist über die intransparenten Verträge nicht bekannt, doch soll es darin durchaus Klauseln geben, die Übertragungen von Land oder Anlagen an die chinesischen Gläubiger vorsehen, sollte Montenegro die Kredite irgendwann nicht mehr bedienen können.

Anders als bei Projekten aus EU-Fördertöpfen hängt Peking die Bedingungen für sein Engagement nicht an die große Glocke. Die Deals werden direkt von Regierung zu Regierung vereinbart, statt sie auszuschreiben und mit privaten Anbietern zu verhandeln. Man kann aber davon ausgehen, dass die Projekte in etwa zu Marktkonditionen vergeben werden.

Mit Serbien unterhalten die Chinesen so enge Beziehungen wie mit kaum einem anderen Land der Welt.

China als Infrastrukturpartner zu haben hat Vorteile: Projekte werden schnell und einfach abgewickelt. Allerdings können sich Entscheidungsträger und deren Vertraute leichter bereichern. Außerdem: Prestigeprojekte – wichtig vor allem für Politiker in Vorwahlzeiten – ließen sich mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) nicht so schnell auf die Beine stellen. Während das europäische Institut jahrelange Dokumentation verlangt und darauf pocht, dass alle Projekte wirtschaftlich rentabel sein sollten, kann Peking politisch opportune Aufträge sofort abwickeln – was deren Rentabilität natürlich nicht prinzipiell ausschließt.

Europa profitiert selbstverständlich auch von den vielen Infrastrukturprojekten der Neuen Seidenstraße. Handys, Teddybären und Plastiksandalen kommen schneller und damit günstiger zu den Konsumenten, gleiches gilt für Rohstoffe und Komponenten für die europäische Industrie.

Wachstum über alles

China geht es derzeit in erster Linie um gute Geschäfte sowie günstige Voraussetzungen für seine Exportindustrie. Weiters beschäftigt die Volksrepublik bei der Errichtung von Kraftwerken, Brücken, Autobahnen und Schienenwegen im Ausland potenziell arbeitslose Bürger und kann überdies zu viel produzierten Stahl, Aluminium, Zement und so weiter umstandslos verkaufen. 

Zwar müssen diese Rohstoffe vom Staat subventioniert werden, doch für Chinas Regierung haben die jährlichen Wachstumsziele oberste Priorität. Im Fall Bosniens erweckt die Volksrepublik sogar den Eindruck, verstaubte Technologie loswerden zu wollen, indem der Bau eines Kohlekraftwerks in Tuzla forciert wird, das im eigenen Land gar nicht mehr den geltenden Umweltstandards entspricht.

Im Jahr 2019 gingen serbische Polizisten mit chinesischen Kollegen  in der Belgrader Altstadt auf Streife.
Im Jahr 2019 gingen serbische Polizisten mit chinesischen Kollegen in der Belgrader Altstadt auf Streife. © picturedesk.com

Dass Peking mehr als nur ökonomisches Interesse am Westbalkan hat, zeigt die Sonderbehandlung Serbiens. Mit dem größten Land des Westbalkans unterhalten die Chinesen so enge Beziehungen wie mit kaum einem anderen Land der Welt. Großprojekte wie der Bau der 1,5 Kilometer langen Pupin-Brücke über die Donau – fertiggestellt 2014 – werden von großen Delegationen feierlich eröffnet. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić trifft regelmäßig seinen chinesischen Amtskollegen, den er gerne als „Bruder Xi“ bezeichnet. Zuletzt kam es zum bereits siebenten Treffen beider Staatsspitzen anlässlich der Eröffnung der Olympischen Winterspiele im Februar in Peking. Dabei wurde die Absicht verkündet, zwischen beiden Ländern ein Freihandelsabkommen auszuhandeln.

2019 führten China und Serbien sogar gemeinsam Polizeiübungen durch, die letzte Stufe vor gemeinsamen Militärmanövern. So konnten einige der tausenden chinesischen Touristen, die jedes Jahr die Belgrader Altstadt besichtigen, in der Fußgängerzone auf ihre uniformierten Landsleute treffen.

Moskau im Out 

Chinas enge Verbindung zu Serbien steht eine Verschlechterung des historisch guten Verhältnisses zu Russland gegenüber. Wer die staatsnahen Medien in dem Balkanstaat verfolgt hat, erkennt seit den von Russland angestoßenen Kämpfen in der Ukraine 2014 einen Stimmungswandel: Präsident Wladimir Putin wird nun als Verräter gesehen, weil er durch die Unterstützung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk einen Präzedenzfall für den Kosovo setzt: Eine Minderheit in einem Staat hätte das Recht, ein Gebiet, in dem sie eine Mehrheit bildet, für unabhängig zu erklären – ein rotes Tuch für Belgrad.

In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmte Serbien heuer mit dem Westen, um den Angriff Russlands auf die Ukraine zu verurteilen. Vor den Sanktionen gegen Russland schreckt Belgrad jedoch zurück. Das Binnenland ist abhängig von russischen Öl- und Gaslieferungen.

Chinesische und serbische Flagge vor einem Flugzeug mit einer chinesischen Covid-Impfstoff-Lieferung am Flughafen Belgrad, 2021
Januar 2021: Die Ankunft von einer Million Dosen des Sinopharm-Impfstoffes aus China wird am Belgrader Flughafen zelebriert. Aber auch der russische Impfstoff Sputnik-V wird in Serbien verimpft – und sogar im Land produziert. © Getty Images

In die von Russland hinterlassene Lücke ist China, nicht die EU aufgerückt, obwohl das aus Sicht der lokalen Wirtschaft nicht naheliegend war. Denn für Serbiens Wirtschaft bleibt die EU der weitaus wichtigere Partner: Dank Investitionen aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich und anderen Ländern wurde Serbiens Industrie in europäische Wertschöpfungsketten eingebunden. Sei es die Fertigung von Generatoren für Siemens oder von Teilen für Bosch: Die Fabriken vor Ort ziehen seit Jahren immer mehr Mittel an. Insgesamt flossen bis 2021 rund 26 Milliarden Euro an Direktinvestitionen aus EU-Ländern nach Serbien.

Leider reicht das nicht aus, um Wohlstand in die Region zu bringen. Allein Serbien hat in den vergangenen 20 Jahren fast neun Prozent der Bevölkerung verloren, weil besonders die Jungen woanders eine rosigere Zukunft sehen. Oft sind es die besten Köpfe, die in so einer Dynamik das Weite suchen – mit dramatischen Konsequenzen für die Gesellschaft.

Finstere Aussichten

Hier müsste Brüssel aktiv werden und die Beitrittszusagen mit deutlich mehr Unterstützung unterstreichen. Einschlägige EU-Zahlungen belaufen sich nur auf rund einen Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zumal die sechs Staaten zusammen eine Wirtschaftsleistung wie die Slowakei haben. Verglichen mit den großen Fördertöpfen und Krisenpaketen der EU handelt es also um lächerliche Summen.

In einem kalten Krieg zwischen China und den USA könnten auf dem Westbalkan Stellvertreterkonflikte ausbrechen.

Außerdem müsste die EU vor allem den kleinen Beitrittskandidaten bei der Administration helfen. Eine für Korruption nicht anfällige Bürokratie kann schwer Fuß fassen, wo die Löhne niedrig sind und qualifiziertes Personal abwandert. Das macht es schwierig, alle Spitzenbeamtenposten zu besetzen. Man stelle sich vor, die drei Wiener Bezirke Favoriten, Donaustadt und Floridsdorf (dort leben ähnlich viele Menschen wie in Montenegro) müssten eine Gerichtsbarkeit, ein Diplomatenchor, Direktoren, Offiziere, Polizei, Chefärzte etc. hervorbringen.

Eine dystopische Prognose, die die EU in ihre Überlegungen einbeziehen muss. Sollte ein neuer kalter Krieg zwischen China und den USA ausbrechen, drohen in Regionen wie dem Westbalkan Stellvertreterkriege. Die EU sollte dem vorbeugen, indem sie endlich ihr Wort hält und eine politische Integration des Westbalkans vorantreibt.

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Conclusio

Die Länder des Westbalkans werden in Sachen EU-Beitritt seit Jahren vertröstet. Der daraus resultierende Frust ermöglichte es China, sich in der Region durch große Infrastrukturprojekte wirtschaftlich festzusetzen und im Falle Serbiens sogar erheblichen politischen Einfluss zu bekommen. Dieses Kräfteverhältnis spiegelt nicht die Tatsache wider, dass die EU-Staaten für den Westbalkan der wichtigste Handelspartner und Investor sind. Doch das offizielle Brüssel investiert viel zu wenig, um Wohlstand zu schaffen und die Bevölkerung für eine Zukunft in der Union zu motivieren. Das ist kurzsichtig: China hat geostrategisch mit Serbien bereits einen Fuß in der Tür zum Kontinent. Im Fall einer Konfrontation mit dem Westen könnte Peking das ausnutzen. Noch bleibt der EU Zeit, das Blatt zu wenden.