Von der Demokratie zur „Juristokratie“
Europäische Staats- und Regierungschefs warnen, dass aktivistische Richter die Demokratie aushöhlen und dadurch die effektive Bekämpfung illegaler Migration behindern.

Auf den Punkt gebracht
- Kritik. Mehrere EU-Regierungschefs kritisieren den EGMR. Sie fordern eine neue Auslegung der EMRK, um nationale Abschieberechte zu stärken.
- Beispiel Italien. Italienische Gerichte blockieren das Migrationsabkommen mit Albanien. Auch der EuGH hat vor Kurzem die Regeln für „sichere Herkunftsländer“ verschärft.
- Richtermacht. Die Macht europäischer Gerichte wächst. Sie setzen sich oft über nationale Parlamente hinweg und gestalten Politik aktiv mit.
- Populismus. Eine Reform der EU-Verträge und der EMRK ist unwahrscheinlich. Das schwächt das Vertrauen in die Demokratie und stärkt populistische Kräfte.
Am 22. Mai forderten die konservative italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre dänische Amtskollegin, die Sozialdemokratin Mette Frederiksen, „eine neue und offene Diskussion über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention“ (EMRK). In einem offenen Brief, der auch von den Ministerpräsidenten Belgiens, Estlands, Lettlands, Polens, Österreichs, der Tschechischen Republik und dem Präsidenten Litauens unterzeichnet wurde, kritisierten sie die Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
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„Was einst richtig war, ist vielleicht nicht die Antwort von morgen”, heißt es in dem Brief. Es müsse untersucht werden, „ob der Gerichtshof in einigen Fällen den Anwendungsbereich der Konvention im Vergleich zu den ursprünglichen Absichten der Konvention zu weit ausgedehnt hat und damit das Gleichgewicht zwischen den zu schützenden Interessen verschoben hat“. Insbesondere lehnen die Unterzeichner die Einschränkung der Befugnisse der Nationalstaaten ab, kriminelle Migranten auszuweisen, selbst wenn sie wegen schwerer Straftaten wie Gewalt- oder Drogendelikten verurteilt wurden.
Auf dem EU-Gipfel am 17. Oktober letzten Jahres hatten sich die 27 Staats- und Regierungschefs bereits für „entschlossene Maßnahmen auf allen Ebenen zur Erleichterung und Beschleunigung von Rückführungen“ ausgesprochen und die Europäische Kommission aufgefordert, so schnell wie möglich ein neues Gesetz in diesem Sinne auszuarbeiten. Nach Ansicht vieler Mitgliedstaaten trägt die erst im Frühjahr 2024 verabschiedete EU-Asylreform wenig zur Lösung dieses Problems bei.
Der Brief aus Rom geht jedoch in einem wesentlichen Punkt noch weiter. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung der Gerichte verweist er auf Konflikte, die seit Jahren zwischen Regierungen und Parlamenten einerseits und nationalen und europäischen Gerichten andererseits schwelgen. Diese Spannungen eskalieren regelmäßig, wenn die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative auf nationaler Ebene in Frage gestellt wird oder wenn nationale Gerichte auf der Grundlage des europäischen Rechts politische Entscheidungen ihrer Regierungen außer Kraft setzen.
Gericht stoppt Regierungsbeschluss
Ein besonders eklatantes Beispiel ist der noch immer ungelöste Streit um das italienisch-albanische Migrationsabkommen. Im November 2023 unterzeichneten Frau Meloni und der albanische Ministerpräsident Edi Rama ein Fünfjahresabkommen zur Errichtung von zwei Aufnahmezentren in den albanischen Städten Shengjin und Gjader, die von Italien finanziert und verwaltet werden sollen. Die Kosten, die Italien bisher für den Bau und Betrieb der beiden Zentren entstanden sind, werden auf rund 800 Millionen Euro geschätzt.
Die italienische Regierung will die Asylberechtigung von im Mittelmeer geretteten Migranten in beschleunigten Verfahren prüfen. Das Abkommen sieht auch vor, dass Albanien Migranten aufnimmt, deren Asylanträge in Italien bereits abgelehnt wurden und die in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden sollen. Rom hatte gehofft, dass die Einrichtungen in Albanien jährlich rund 36.000 Asyl- und Abschiebungsverfahren bearbeiten würden. Das Abkommen hat jedoch sein Ziel noch nicht erreicht, da die italienische Justiz die Überstellung von Migranten nach Albanien wiederholt für illegal erklärt hat.
Unter dem Beifall der linken Opposition und verschiedener Menschenrechtsorganisationen verwiesen italienische Richter auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Oktober 2024, wonach Migranten nur in Herkunftsländer abgeschoben werden dürfen, in denen die Sicherheit aller Personen auf dem gesamten Staatsgebiet gewährleistet ist. Diese Voraussetzungen sind in Ägypten, Bangladesch, Gambia, der Elfenbeinküste und anderen Ländern, die häufig Herkunftsländer illegaler Migranten sind, nicht gegeben.

Wenn ein Land nicht durchweg als sicher gilt, dürfen Asylanträge von Personen aus diesem Land nicht automatisch im Rahmen von beschleunigten Verfahren abgelehnt werden, und Migranten dürfen nicht ohne Prüfung ihrer individuellen Situation in Drittländern wie Albanien inhaftiert werden.
Darüber hinaus stellten die italienischen Richter fest, dass die Einstufung eines „sicheren Herkunftslandes“ nicht in die Zuständigkeit der Regierung falle, sondern den Gerichten obliege, die dabei die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als maßgeblichen Prüfrahmen heranziehen müssten. Der Fall wurde dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt – dessen Urteil mittlerweile vorliegt. Der EuGH hat darin die Hürden für die Festlegung sicherer Herkunftsländer deutlich verschärft und sich damit im Wesentlichen der Argumentation des italienischen Gerichts und den Anforderungen der EMRK angeschlossen.
Ein europaweiter Trend
Nicht nur Italien, sondern auch die Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten sowie des Vereinigten Königreichs sind an einer Offshore-Bearbeitung von Asylanträgen interessiert. Entsprechende Vorschläge, die im Mai 2024 von 15 EU-Mitgliedstaaten gefordert wurden, entsprechen dem europäischen Trend und spiegeln den wachsenden Einfluss von migrationskritischen Parteien und Wählern wider, die den traditionellen kulturellen Zusammenhalt bewahren wollen.
In Dänemark gibt es bereits seit 2021 ein Gesetz, das die Überstellung von Asylbewerbern zur Bearbeitung in Drittländer erlaubt.
In Deutschland schlug der Migrationsbeauftragte der Scholz-Regierung im September 2024 vor, Asylanträge in Ruanda zu bearbeiten. Der derzeitige Kanzler Friedrich Merz plädierte kürzlich für Abschiebungen nach Syrien, das ebenso wenig wie Ägypten oder Bangladesch als „sicheres Herkunftsland” eingestuft werden kann. Deutschlands Nachbarland Österreich hat am 3. Juli als erstes EU-Land einen syrischen Straftäter seit dem Sturz des Assad-Regimes in seine Heimat abgeschoben.
In Griechenland stellen Richter die Rechtmäßigkeit von Zurückweisungen an den Grenzen in Frage und kritisieren die Bedingungen in den Aufnahmezentren für Migranten. Und in Polen wehrt sich die Regierung gegen nationale Gerichte und den EGMR, die strengere Kontrollen und Rückführungen an der Grenze zu Belarus ablehnen.
Richterlicher Aktivismus?
Andreas Khol, Verfassungsrechtler und ehemaliger Präsident des österreichischen Parlaments, glaubt nicht, dass eine Lösung für diese Konflikte in Sicht ist: „Alle derzeit [von der EU] angestrebten Wege, um der illegalen Einwanderung, die unter dem Vorwand der Asylsuche über Europa hereingebrochen ist, ein Ende zu setzen, werden scheitern“, solange die aktuellen EU-Gesetze unverändert bleiben. Der deutsche Rechtswissenschaftler Frank Schorkopf erklärte im Juni, dass keiner der kürzlich vorgelegten Vorschläge antidemokratisch sei.
Um die Macht aktivistischer Richter einzuschränken, müssten das Europäische Parlament und die 27 Mitgliedstaaten den Vertrag von Amsterdam ändern, was äußerst unwahrscheinlich ist. Eine Revision der EMRK müsste von den 46 Staaten des Europarates gebilligt werden.
Die Macht der Richter in der EU basiert auf der in den EU-Verträgen verankerten „immer engeren Union zwischen den Völkern Europas“, die es dem EuGH ermöglicht, das EU-Recht kreativ auszulegen, was zu einer breiteren Anwendung führt, anstatt sich auf den Wortlaut der Verträge zu beschränken. Mit anderen Worten: Anstatt das Recht anzuwenden, schaffen sie Recht.
Das eigentliche Dilemma besteht darin, dass der EuGH europäische Verträge wie eine Verfassung behandelt und damit den demokratischen Prozess untergräbt. Diese Verträge sind jedoch keine Verfassungen. Vielmehr enthalten sie zahlreiche Bestimmungen, die in jedem Staat als gewöhnliches Gesetz akzeptiert würden. Die Folge davon ist, dass die Mitgliedstaaten wiederholt Rechtsvorschriften unterworfen werden, die sie im nationalen demokratischen Prozess abgelehnt haben.
Dieses Dilemma könnte gelöst werden, wenn alle Bestimmungen der Verträge, die nichts mit der Verfassungsmäßigkeit zu tun haben, herabgestuft würden, sodass sie durch den demokratischen Prozess aktualisiert werden könnten. Bis dahin werden Vorschläge wie der offene Brief von Frau Meloni und Frau Frederiksen rechtlich unwirksam bleiben.
Das Schweizer Parlament hat das Urteil als ‚juristischen Aktivismus' abgelehnt.
Im Gegensatz zum EuGH kann der EGMR keine Sanktionen verhängen, da er keine Exekutivbefugnisse hat. Ein spektakulärer Fall ist das Urteil des EGMR vom 9. April 2024. Die Gruppe „Climate Seniors Switzerland“ hatte ihr Land vor dem EGMR wegen angeblich unzureichender Klimaschutzmaßnahmen verklagt, nachdem Schweizer Gerichte ihre Klage in drei Instanzen abgewiesen hatten. Nach Ansicht des EGMR hatte die Schweiz, die zwar Mitglied des Europarats, aber nicht der EU ist, ihre Menschenrechte verletzt. Das Schweizer Parlament hat das Urteil als „juristischen Aktivismus“ abgelehnt.
Dies ist das erste Mal, dass ein Gericht den Klimaschutz einseitig zu einem Menschenrecht erklärt hat, was wahrscheinlich zu weiteren Klagen führen wird. Die Urteile des EGMR sind endgültig; die Schweiz ist nun verpflichtet, ihre Klimapolitik gegenüber dem Europarat zu rechtfertigen. Es wird erwartet, dass die Climate Seniors und ihre Verbündeten erneut beim EGMR Beschwerde einlegen werden, da sie die Reaktion der Schweizer Regierung für unzureichend halten.
Juristokratie
Bereits 1835 prophezeite Alexis de Tocqueville: „Es gibt kaum eine politische Frage in den Vereinigten Staaten, die sich nicht früher oder später zu einer juristischen Frage entwickelt … Der Geist der Juristen, der in den Schulen und Gerichtssälen entsteht, durchdringt dann die gesamte Gesellschaft.“
Die wachsende Macht der Justiz ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem globalen Phänomen geworden. In der Fachliteratur liest man von „Gesetzgebern in Roben“, einer „juristischen Ära“ und der Transformation der Demokratie in eine „Juristokratie“. Der Rechtswissenschaftler Ran Hirschl nennt drei Hauptaspekte dieses Trends: die dramatische Zunahme der Anzahl und Arten nationaler und transnationaler Gerichte und Tribunale; die weltweit immer größer werdende Bedeutung von Gerichten und Richtern bei der Bestimmung politischer und politischer Entscheidungen; und Kritik, Widerstand und gelegentliche Gegenreaktionen gegen die Ausweitung der richterlichen Gewalt.
Diese Entwicklung begann mit den Demokratisierungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika und beschleunigte sich mit dem Ende des Sowjetregimes.
Je mehr die Macht der Gerichte wächst, desto mehr versuchen Politiker Einfluss auf die Gerichte auszüben.
Laut einer internationalen Umfrage schützen nationale Verfassungen heute durchschnittlich 48 Rechte, mehr als je zuvor. Einige davon sind deklaratorisch, die meisten jedoch justiziabel. Gleichzeitig hat die richterliche Gewalt auf internationaler Ebene zugenommen, wobei die Gerichte der EU und des Europarats die auffälligsten, aber keineswegs die einzigen Beispiele sind. Zwischen 1985 und 2020 hat sich die Zahl der internationalen Gerichte mehr als verdreifacht.
Je mehr die Macht der Gerichte wächst, desto mehr versuchen politische Akteure, Einfluss auf die Zusammensetzung und die Aktivitäten der Gerichte zu nehmen. Die daraus resultierenden Konflikte haben zu Verfassungsstreitigkeiten in Ungarn, Polen und Israel sowie in den USA geführt, wo viele glauben, dass die Gerichte politische Rollen übernehmen.
Vertrauensverlust
Eine Revision der EU-Verträge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist äußerst unwahrscheinlich. Und ohne Änderungen an diesen Vereinbarungen wird der Wille der Bürger in den Ländern Europas weiterhin weitgehend ignoriert, und das Dilemma wird unvermindert fortbestehen, da die Gerichte keine Lösung für Herausforderungen wie die illegale Migration zulassen.
Daher ist es leider wahrscheinlich, dass die zunehmende Macht der Gerichte das Vertrauen in die Demokratien untergräbt und zu einem weiteren Wachstum populistischer Parteien und Bewegungen führt. Infolgedessen werden sich die Konflikte zwischen den nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen verschärfen.
Conclusio
Migrationspolitik. Rechtliche Blockaden verhindern politische Lösungen und verschärfen bestehende Krisen.
Machtbalance. Gerichte gewinnen an Einfluss, während der Handlungsspielraum politischer Akteure zunehmend eingeschränkt wird.
Legitimation. Ohne Vertragsreformen bleibt das Ungleichgewicht bestehen. Wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung sorgt für mehr Zulauf zu populistischen Parteien.
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