Wie Integration funktioniert

Vier Experten diskutieren über Integration, was ihr im Weg steht und wie sie gelingen könnte. Worauf sie sich verständigen können: Wir brauchen Werte, die von uns allen geteilt werden.

Roundtable zum Thema: Wie Integration funktioniert
Vier Experten, viele Meinungen, aber ein gemeinsamer Fokus auf Integration. © Gregor Kuntscher
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Auf den Punkt gebracht

  • Gespalten. Die Integrationsdebatte wird hauptsächlich von zwei verhärteten Fronten geführt – jenen, die Probleme negieren und jenen, die alle Probleme auf Zuwanderung zurückführen.
  • Heterogen. Auch die Zuwanderer sind eine viel komplexere und heterogenere Gruppe als das oft medial dargestellt wird.
  • Wertlos. Oftmals fordern wir von Zuwanderern ein, sich an unsere Werte anzupassen, ohne dass wir uns im Klaren sind, was unsere Werte überhaupt sind.
  • Arbeitslos. Vor allem weibliche Zuwanderer sind schlecht in den Arbeitsmarkt integriert.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass Zuwanderung und Integration auch diesen Wahlkampf prägen werden. Der Sommer sah einen Bandenkrieg zwischen tschetschenischen und syrischen Jugendlichen, zuvor machte die Meldung die Runde, dass 35 Prozent der Kinder an Wiens Volksschulen muslimischen Glaubens sind. Es sind Kinder und Jugendliche, die bleiben werden und die in unser Wertesystem integriert werden müssen. Aber welche Werte haben wir überhaupt? Auf welche bestehen wir, welche sind verhandelbar? Wie können sie vermittelt werden, und wie gut sind wir darin, sie zu vermitteln? Alle diese Fragen und noch viele mehr haben unsere Pragmaticus-Experten in einer Round-Table-Diskussion versucht zu beantworten.

Herr Güngör, Sie sehen in der Integrationsdebatte zwei Lager – die „Alles ist gut“- Fraktion und die Fraktion, die alles Fremde verteufelt. Beide sind Ihnen suspekt. Was steht einem differenzierten Dialog im Weg?

Kenan Güngör: Beides sind emotionale und ideologische Zugänge. Auf der einen Seite gibt es jenseits von Rassisten, die wir zur Genüge haben, die Konservativ-Skeptischen. Das sind Menschen, die das Gefühl haben, dass Zuwanderung und Integration nicht mehr unter Kontrolle sind. Diese Menschen verlangen von Zugewanderten, insbesondere Geflüchteten, Dankbarkeit und Demut. Wenn ein Geflüchteter ein Verbrechen begeht, wiegt wegen der Dankbarkeitsverletzung die Empörung zehnmal mehr als bei einem Einheimischen. Zu der Gruppe der Skeptischen stößt gerade eine zweite aus dem liberalen Spektrum, die durch Zuwanderung einen zivilisatorischen und emanzipatorischen Regress sieht – weil es bei Teilen der Zuwanderer reaktionäre Frauenbilder gibt.

Kenan Güngör beim Roundtable zu Integration
Der Soziologe Kenan Güngör leitet das Forschungs- und Beratungsbüro „think.difference“. © Gregor Kuntscher

Und auf der anderen Seite?

Güngör: Da stehen Linke, die für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen einstehen. Das waren früher Arbeiter, Arme, Frauen, dann LGBTQ-Personen. Und auch Migranten, die vielfach benachteiligt sind. Wenn man sich für Minderheiten einsetzt, ist das lobenswert. Der Nachteil ist, dass man dabei die Probleme in bestimmten Migrantenmilieus ausblendet. Vereinfacht gesprochen: Für die Rechten werden die „guten Österreicher“ von den „bösen Migranten“, allen voran Muslimen, bedrängt. Für die Linken werden die „guten Migranten“ von den „bösen Österreichern“ diskriminiert.

Susanne Wiesinger: Und ich finde, das ist – von beiden Seiten – eine unglaublich überhebliche Haltung. Wir sprechen immer von „den Migranten“, aber das ist überhaupt keine homogene Gruppe. Syrische Alawiten wollen mit anderen syrischen Zuwanderern nicht in einen Topf geworfen werden. Das ist schon eine Form von Kolonialdenken. Wir sind die Weißen, und alle anderen werden als Migranten zusammengeworfen. Wenn man immer so viel Augenmerk auf Differenzierung legt, war um differenziert man da nicht?

Judith Kohlenberger: Mir fehlt das auch in der Debatte. Ich möchte auch nicht mit allen Österreichern in einen Topf geworfen werden. Wir definieren uns über viele Faktoren – nicht nur Nationalität: Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund. All das mit einzubeziehen, wenn wir von Integration sprechen, ist eine Herausforderung.

Wie lösen wir diese Herausforderung? Wie können wir all diese heterogenen Gruppen integrieren?

Kohlenberger: Wir haben das große Überthema gemeinsamer Werte. Wir mögen den Begriff der „Wertevermittlung“ in der Forschung nicht sehr gerne, weil das so klingt, als würde da oben jemand sitzen, der sagt: „Unsere Werte in Österreich sind, beispielsweise, Toleranz, Offenheit und Demokratie“, und das wird dann nach unten an die Zuwanderer vermittelt. So funktioniert es nicht.
Wir sprechen deshalb eher von „Wertebildung“, und das ist ein höchst dynamischer Prozess. Werte sind nichts in Stein Gemeißeltes. Meine Werte wandeln sich im Laufe meines Lebens, und auch gesamtgesellschaftlich wandeln sie sich. Was uns klar sein muss: Wertebildung findet nicht nur in den Schulen statt, sie findet auch zu Hause statt.

Wiesinger: Sie findet vor allem in den Familien statt, im Umfeld, in der Community.

Kohlenberger: Es ist deshalb schwierig, zu sagen: Die Politik muss bitte handeln. Die ist nur ein Faktor unter vielen.

Lisa Fellhofer: Mit der Einschränkung, dass es schon ein Grundgerüst an Werten gibt, die die Basis des Zusammenlebens darstellen. Das Grundgerüst, auf das man zurückgehen kann, sind verfassungsrechtliche Grundwerte und Menschenrechte. Frauenrechte sind ein Grundrecht, das in den vergangenen Jahrzehnten sehr hart erkämpft worden ist, auf die muss man sich einigen können. Alles andere, das sind dann Dinge, die man auch abseits der Politik ausverhandeln kann.

Lisa Fellhofer beim Roundtable zu Integration
Lisa Fellhofer ist Direktorin des Österreichischen Fonds zur Dokumentation des religiös motivierten politischen Extremismus. © Gregor Kuntscher

Sind das auch spezifisch österreichische Werte, oder sind es westliche Werte?

Fellhofer: Es sind europäisch-westliche Werte, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Anspruch eigentlich ist, dass die Menschenrechte universalistisch sind. Sie sollen für alle gelten, nicht nur im Westen.

Wiesinger: Da gibt es viel Heuchelei. Wir unterrichten Emanzipation und Frauenrechte, machen Projekte, gehen zu Theatervorführungen. Trotzdem werden Mädchen in unseren Klassen zwangsverheiratet, und sie werden genitalverstümmelt. Das ist einfach ein Fakt. Da schauen wir weg. Seit zwanzig Jahren frage ich mich: Für wen gelten diese europäischen Werte? Die gelten für mich und meine Tochter, die gelten aber nicht für die Asra, für die Gülsha. Wenn das denn so ist, dann kann man auch sagen: Okay, das sind die Werte, die für uns gelten; und das sind die Werte, die für die anderen gelten. Aber dann sind wir nicht mehr eine Gesellschaft. Dann ist es eigentlich Apartheid.

Eine Parallelgesellschaft.

Wiesinger: Stärker sogar. Das sind zwei Modelle von Gesellschaft.

Güngör: Widerspruch! Nicht, dass es diese Missstände nicht gibt. Doch mit dem Begriff „Parallelgesellschaft“ überzeichnen wir eklatant. Es gibt problematische Submilieus innerhalb der Migranten, das sind aber keine „Gesellschaften“. Zudem gilt: Man kann ja keinem Menschen vorwerfen, wo er geboren und wie er sozialisiert worden ist.

Wiesinger: Überhaupt nicht.

Güngör: Aber man erwartet von Menschen, die hierherkommen, eine Akkulturation, also eine Anpassung an die hiesige Kultur. Sie passiert auch größtenteils. Aber es gibt die Erwartung, dass Zuwanderer innerhalb von fünf Jahren komplett anders denken müssen. Solche Prozesse brauchen Zeit.

Wiesinger: Entschuldigung, die sind in dritter Generation hier. In dritter Generation! Da sind schon die Großväter eingewandert.

Güngör: Wenn wir nicht pauschalisieren möchten, wie Sie fordern, müssen wir sehen, dass etwa ein Großteil der Türkeistämmigen längst Teil der Gesellschaft ist. Ja, bei einem anderen Teil haben wir massive Probleme. Deshalb versuche ich, mir eher die Milieus innerhalb der Migrationsbevölkerung anzuschauen.

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Zahlen & Fakten

Was sind die Gründe, dass sich manche Milieus eher integrieren und andere nicht?

Güngör: Wenn Sie aus traditionell-religiösen, autoritären, antiliberalen oder gleichheitsfeindlichen Gesellschaften kommen, haben Sie es deutlich schwieriger, sich hier zu adaptieren. Wenn wir 2015 aus Afghanistan hierhergekommen wären, weiß ich nicht, ob wir in dem Mindset wären, das wir gerade haben. Einerseits brauchen wir Engagement, gepaart mit Geduld, und andererseits haben wir Ungeduld. Doch in der zweiten und erst recht in der dritten Generation müssten wir weiter sein. Bei der Wertebildung darf aber nicht so getan werden, als hätten Zuwanderer keine Werte.

Wiesinger: Sie haben sogar sehr starke Werte. Vielleicht mangelt es ja uns an Werten. Oder an dem Selbstbewusstsein, Werte zu vermitteln. Streng religiöse, traditionell lebende Familien haben kein Problem mit Wertevermittlung. Der Großteil meiner Schüler weiß ganz genau, was gut und schlecht ist – jedenfalls in ihrem Wertekontext.

Susanne Wiesinger beim Roundtable zu Integration
Die Lehrerin Susanne Wiesinger unterrichtet derzeit in einer Volksschule in Wien-­Favoriten. © Gregor Kuntscher

Wir reden über Werte, die nicht immer mit unseren in Einklang zu bringen sind.

Güngör: Deshalb nutze ich den Begriff der Kompatibilität. Du kannst religiös sein, aber es muss kompatibel sein mit den emanzipatorischen Vorstellungen, die wir als Gesellschaft haben.

Fellhofer: Frau Wiesinger hat schon einen Punkt angesprochen, den ich unterstreichen möchte. Wir sind es in unserer liberalen Demokratie gewohnt, dass man viel miteinander spricht, diskutiert und sich nicht einig sein muss. Aber wir sind es nicht gewohnt, sehr klar zu transportieren, was geht und was nicht geht. Davor scheut man sich ein wenig.

Im Zuge unserer Arbeit bei der Dokumentationsstelle Politischer Islam haben wir in einer Buchhandlung in Wien ein Buch auf Türkisch gefunden, in dem für die Vernichtung der Juden plädiert wird und geschrieben wird, dass die Nazis gar nicht so unrecht hatten. Wenn man hier nicht denselben Maßstab der Empörung anlegt, als wäre es ein deutsches Buch gewesen, wird man unglaubwürdig. Man muss Gleiches schon auch gleich behandeln.

Aber haben wir ein Problem mit der Wertevermittlung, oder fehlt uns der Konsens über unsere Werte?

Fellhofer: Ich glaube, es hat viel mit Religion zu tun – und als säkulare Gesellschaft sind wir es nicht mehr gewohnt, über Religion zu sprechen.

Wiesinger: Wir sind es mittlerweile gewohnt – und das war ein harter Kampf –, dass man sich über unsere Religion lustig macht. In der Karwoche wurde „Das Leben des Brian“ im Fernsehen ausgestrahlt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe diesen Film. Aber niemals dürfte ich bei meinen Schülern Gott infrage stellen, der steht über allem.

Güngör: Ich bin bis heute wirklich zutiefst entsetzt, wie Europa und der globale Westen auf das Charlie-Hebdo-Attentat reagiert haben. Aus Angst vor weiteren Spannungen und Anschlägen gibt es mittlerweile eine durchgehende Selbstzensur. Das heißt, die islamistischen Extremisten waren supererfolgreich. Ich hätte mir erwartet, dass alle europäischen Zeitungen Karikaturen bringen: von Jesus, von Buddha, aber eben auch von Mohammed. Um zu kommunizieren: Wir haben nichts gegen den Islam, aber die Meinungsfreiheit ist ein wichtiger Grundwert, für den wir auch einstehen. Stattdessen wollte man keinen Konflikt heraufbeschwören und nichts eskalieren. Es ist meines Erachtens die denkbar schwächste Form gewesen, wie man damit umgegangen ist.

Fellhofer: Was man vielleicht auch nicht vergessen sollte: dass es außerhalb Europas Akteure gibt, die Interesse haben, die Communitys, die sich jetzt hier befinden, zu beeinflussen. Die Konflikte wie den Karikaturenstreit aufgreifen, um damit Stimmung zu machen. Das können jetzt staatliche Akteure sein, es können aber auch extremistische Gruppierungen sein. Auf der anderen Seite können es europäische Rechtsextremisten sein. Und dann entsteht genau dieses Aufschaukeln, in dem die Mitte zerrieben wird und wir nicht mehr diskursfähig sind. Dann gibt es nur mehr Schwarz-Weiß und nichts anderes dazwischen.

Wiesinger: Die Angst spielt auch in Lehrerkreisen eine große Rolle, die Angst ums eigene Leben. Die Islamisten haben bewiesen, dass sie gut vernetzt sind, dass ein Aufruf reicht. Es ist mir klar, dass die jungen Radikalisierten von den Islamisten missbraucht werden. Aber davon habe ich nichts, wenn ich tot bin. Die Angst ist ein wunderbares Druckmittel, Leute zum Schweigen zu bringen. Und wir müssen uns schon die Frage stellen, was in der Gesellschaft falsch läuft, wenn man aus Angst, dass man ein Messer in den Rücken bekommen könnte, schweigt.

Güngör: Das sind sehr seltene, aber dennoch unakzeptable Situationen. Meine Sorge ist, dass wir einen zu großen Fokus auf die Spitze des Eisberges legen. Die meisten Zuwanderer sind nicht radikalisiert. Im Gegenteil, jedes Attentat ist ein Problem für die Community. Nach jedem Anschlag bekomme ich Anrufe von Frauen, die ein Kopftuch tragen und mir erzählen, dass sie sich heute nicht in die Arbeit zu gehen trauen, weil wieder so ein Mist passiert ist. Diese Frau steht dann als Stellvertreterin für den Anschlag und ist zugleich dessen Opfer, weil sie angespuckt und ihr Kopftuch heruntergerissen wird.

Trotzdem darf man nicht verheimlichen, dass es Muslime gibt, die dieses Morden zwar nicht gutheißen, aber billigend in Kauf nehmen – nach dem Motto „Es ist falsch zu töten, aber die hätten auch den Islam nicht beleidigen sollen“. Das ist ein ernsthaftes Problem.

Kohlenberger: Wir sehen auch, dass es selten die erste Generation von Einwanderern ist, die anfällig für extremistische Radikalisierung ist. Es ist viel, viel häufiger die zweite, dritte Generation. Und da stellt sich natürlich die Frage: Was hat nicht geklappt? Was sind denn die Angebote extremistischer, radikalisierender Kräfte, die sie so unglaublich attraktiv machen für Jugendliche? Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist Selbstwert. Genau das, was die Mehrheitsgesellschaft an mir ablehnt – gewisse Formen der Männlichkeit etwa oder den muslimischen Glauben als solchen –, wird dort aufgewertet.

Judith Kohlenberger beim Roundtable zu Integration
Die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger ­arbeitet als Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik an der WU Wien. © Gregor Kuntscher

Fellhofer: Ich tue mir aufgrund meiner Tätigkeit der letzten Jahre etwas schwer, beim Thema Islamismus nur über Migranten zu sprechen. Wir haben auch österreichische Konvertiten, das ist nicht nur ein Migrantenthema. Und natürlich ist Radikalisierung ein schleichender Prozess. Mein Lieblingsbeispiel ist dieser Berliner TikTok-Imam. Der macht ein Video, in dem er erklärt, warum die Socken in der Waschmaschine immer verschwinden – weil ein Dschinn drinnen ist, der sie stiehlt. Das nächste Video ist dann härter in der Aussage.

Aber gehen wir vielleicht wirklich weg von der Spitze des Eisbergs, weg von der Radikalisierung. Wenn wir jetzt von Integration sprechen, sprechen wir oft von der Sprache. Frau Wiesinger, wie hoch ist der Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache in Ihrer Klasse in Wien-Favoriten?

Wiesinger: 100 Prozent. Was per se überhaupt kein Problem ist, aber 80 Prozent davon haben keinerlei Deutschkenntnisse. Durch den Familiennachzug verschärft sich die Situation gerade noch. Wir schaffen es definitiv nicht, ihnen Deutsch so beizubringen, dass sie einen guten Start haben. Noch dazu sind das Kinder, die vorher in Flüchtlingslagern waren, die keinen Schulbesuch kennen.

Die also auch in der Muttersprache teilweise nicht alphabetisiert sind.

Wiesinger: Genau, es sind Kinder, die auch oft traumatische Erfahrungen haben. Ich muss immer schmunzeln, wenn ich höre, dass es in den Schulpausen Deutschpflicht gibt. Natürlich reden sie Arabisch, auch im Unterricht. Was sollen sie denn sonst reden? Wobei das nur bei uns in Favoriten die Realität ist. Ich habe ein Mädchen, das aus dem Burgenland nach Wien gezogen ist, gefragt, wie viele bei ihr in der Klasse eine andere Muttersprache als Deutsch hatten. Sie meinte: vier. So funktioniert Integration.

Güngör: Es gibt, insbesondere seit 2015, eine weitere Pluralisierung der Sprachen und der Herkünfte. Es gibt nicht mehr die zwei großen Gruppen der Türkeistämmigen und der Ex-Jugoslawen, sondern etwas, was man Superdiversität nennt. Der Effekt davon ist interessanterweise, dass die Kinder, wenn sie in einer Klasse sehr gemischt sind, wieder Deutsch sprechen. Weil sie sich sonst untereinander nicht verstehen. Aber dieses Deutsch ist ein sehr gebrochenes, schlechtes Deutsch.

Wiesinger: Ein Deutsch, das nicht reicht für den Bildungserfolg.

Güngör: Mir ging es nicht um die Beurteilung, sondern nur um eine Beschreibung des Phänomens. Wir haben auch muslimische Kinder an Neuen Mittelschulen gefragt, ob sie Islamfeindlichkeit spüren, und die Antwort war nein – weil sie dort keine kleine Gruppe mehr sind. Das ist für sie so eine Normalität, dass sie das gar nicht in Frage stellen. Wenn sie aber ins Umland fahren, in den Wiener Speckgürtel – oder auch nur in den 19. Bezirk –, erzählen sie von beinharter Diskriminierung.

Wiesinger: Die Mehrheit gibt den Ton an. An meiner Schule werden Roma-Kinder von den Muslimen rassistisch beleidigt. Die Frage ist: Wie kriegen wir das hin, dass das Kind mit Kopftuch auf dem Land nicht diskriminiert und beschimpft wird und dass das orthodoxe Roma-Kind in Favoriten nicht beschimpft wird?

Helfen würde ein Gemeinschaftsgefühl. Fühlen sich Menschen, die in Österreich landen, irgendwann hier zu Hause?

Güngör: Das ist etwas, worüber ich mir schon seit längerem Gedanken mache. Menschen, die längst Teil dieser Gesellschaft sind, fühlen sich emotional desintegriert. Nicht sozial, nicht strukturell, aber emotional. Da geht es letztendlich um Zugehörigkeitsfragen. Viele schon längst integrierte Menschen haben das Gefühl, dass sie eher die Stiefkinder der Gesellschaft und nur geduldet sind. Wir behaften Menschen, die schon längst integriert sind, mit diesem Stigma des Fremden. Wir müssten auch darüber sprechen, dass es introvertierte und extrovertierte Gesellschaften gibt, Freundlichkeit und Unfreundlichkeit.

Kohlenberger: Ja, aber ich glaube, dass das typisch österreichische „Sudern“ für viele, nämlich auch für Neuzugewanderte, irgendwann identitätsprägend ist. Es gibt immer wieder diese Rankings, dass Wien die unfreundlichste Stadt ist – das wird ja in den sozialen Medien regelrecht abgefeiert. Das ist auch zu einer Identifikationsschablone geworden – gleichwohl war die österreichische Unfreundlichkeit für manche Menschen mit Migrationshintergrund eine drastische Ausgrenzungserfahrung, die weit über ein bisschen Granteln hinausgeht.

Wiesinger: Viele Migranten – übrigens auch jene aus Deutschland – packen das aber überhaupt nicht. Es ist auch ein ostösterreichisches und vor allem ein Wiener Phänomen. Das sehen Sie in Salzburg, Tirol oder Vorarlberg nicht.

Kohlenberger: Das ist ein wichtiger Punkt, wenn wir uns fragen, was eigentlich die österreichische Identität ist. Denn es gibt gerade auch in der zweiten, dritten Generation Menschen, die sagen: „Ich bin Wiener, aber Österreicher bin ich nicht.“ Dieses symbolhaft aufgeladene Österreichische, mit Dirndl und Lederhose, das ist kaum anschlussfähig für manche Zuwanderer – und im urbanen Raum wenig relevant. Viele sehen sich als Europäer oder identifizieren sich mit ihrem Wiener Bezirk, aber sich als Österreicher zu deklarieren, das ist offenbar nicht attraktiv.

Herr Güngör, Sie sind seit fast zwanzig Jahren in Österreich, sagen aber auch, dass Sie sich nicht als Österreicher sehen.

Güngör: Ich mag dieses Land, sehe mich aber nicht als Österreicher. Wenn ich mich erst dann für ein Land einbringe, wenn ich mich mit ihm identifiziere, dann läuft etwas falsch. Das versuche ich auch, allen zu sagen: Du musst dich nicht als Österreicher fühlen, um Verantwortung für den Ort oder für das Land, in dem du lebst, zu übernehmen. Das fängt bei der Bananenschale an, die man eben nicht auf die Straße wirft.

Aber – und das habe ich auch schon einigen Bundeskanzlern und Ministern gesagt – je mehr man als Gesellschaft „Liebe mich!“ fordert, desto mehr wird man das Gegenteil erreichen. Es müsste uns ein Anliegen sein, dass Zugewanderte Verantwortung für diese Gesellschaft übernehmen. Wir vermitteln eher ein widersprüchliches Signal: „Integriere dich, aber du gehörst nicht zu uns!“ Das kann natürlich nicht funktionieren.

Kohlenberger: Ich möchte noch eine Ebene hinzufügen: Wenn wir uns die Wohnsituation geflüchteter syrischer Staatsangehöriger in Wien anschauen, dann ist auch das eine Parallelgesellschaft. Kein einziger Österreicher würde ernsthaft in Erwägung ziehen, in so einem Horrorhaus zu wohnen.

Wiesinger: Und das macht mich wirklich zornig. Man stopft diese Zuwanderer alle in dieselben Viertel rein. Im vierten, im siebten, im achten Bezirk in Wien gibt es all diese Probleme nicht.

Güngör: Man muss ein bisschen präziser sein: Niemand stopft sie – die Leute suchen Wohnungen.

Wiesinger: Da ist schon die Politik gefordert, einen Plan zu finden. Natürlich gibt es kein Allheilmittel, aber dass man Brennpunktschulen in Brennpunktbezirken wirklich vollstopft mit 30 Kindern in der Klasse, wo zwei Drittel kein Wort Deutsch können, das ist eigentlich ein Verbrechen an diesen Kindern.

In Kopenhagen gibt es Ansätze, Ghettobildung zu vermeiden, indem bewusste Umsiedelungen oder Wohnortzuteilungen vorgenommen werden. Kann das ein Vorbild für Österreich sein?

Wiesinger: Man will das nicht. An den Schulen könnte man mit Schulbussen für mehr Durchmischung sorgen. Damit migrantische Kinder aus Favoriten auch in Wieden in die Schule gehen. Aber Schulbusse will man sich nicht leisten. Oder man sagt, dass man es den Kindern nicht zumuten kann, dass sie zwei Stationen mit der U1 vom zehnten Bezirk in den vierten Bezirk fahren. Diese Kinder sind aus der Türkei geflüchtet! Das ist heuchlerisch. Dann soll man sagen: „Das wollen wir nicht. Wir wollen Wieden syrerfrei haben.“

Güngör: Ein Phänomen, das wir seit 25 Jahren ganz stark beobachten, ist, dass auch eher aufsteigende Mittelschichten der Migranten diese Zuwanderer nicht wollen. Migrantische Familien, die eher Richtung Mittelschicht aufsteigen, sagen: „Wir möchten hier nicht wohnen, weil da zu viele Ausländer sind.“ Da reden wir nur von Wien. In den Bundesländern werden sie sowieso nicht gewollt. Wien übernimmt nicht nur eine kommunale, sondern eine nationale Aufgabe im Kontext der Migration.

Vier Pragmaticus-Experten diskutieren über Integration
Bei der Integration gibt es Verbesserungspotenzial – darauf können sich alle Experten einigen. © Gregor Kuntscher

Fellhofer: Und da kommen wir wieder auf die skandinavischen Länder zu sprechen, ob Dänemark oder Norwegen: Dort gibt es einen quasi-nationalen Konsens, dass über die Parteien hinweg eine Strategie entwickelt wird, auf die sich alle einigen können.

Güngör: Ich sehe die skandinavischen Länder sehr kritisch. Was ich in Dänemark sehe, sind enttäuschte Multikulturalisten aus der Linken, die dann ins Gegenteil kippen. Die dänische Sozialdemokratie erkennt das Problem, aber sie arbeitet mit unverhältnismäßigen Maßnahmen. Wir müssen das Gebot des gelindesten Mittels schon ernst nehmen. Und ich glaube nicht, dass es das gelindeste Mittel ist, die Menschen aus ihren Wohnungen zu reißen, um der Segregation entgegenzuwirken. Ein gelinderes Mittel in Österreich wäre zum Beispiel, diese frühe Selektion der Schulen aufzubrechen. Wenn wir bis zum 14. Lebensjahr in der gleichen gemeinsamen Schule wären, würden wir viele dieser Fragen lösen.

Zu diesem Themenkomplex gehört neben der Schule natürlich auch der Arbeitsmarkt. Die Integration in den Arbeitsmarkt funktioniert ganz gut, mit einer Ausnahme: Frauen, vor allem aus Herkunftsländern wie Syrien oder Afghanistan. Wenn die Frau nicht arbeitet, sind die Kinder tendenziell nicht im Kindergarten, sind weniger in Kontakt mit der autochthonen Community, kommen mit schlechteren Deutschkenntnissen in die Schule, finden dort weniger Anschluss.

Kohlenberger: Bei Frauen, gerade aus Syrien und Afghanistan, ist die Integration in den Arbeitsmarkt tatsächlich stark verzögert. Weil oft zuerst die Männer kamen und die Frauen erst später über den Familiennachzug. Die Geburtenrate war zu Beginn hoch, weshalb diese Frauen dem Arbeitsmarkt anfangs gar nicht zur Verfügung standen. Wir müssen diese Frauen aus der Sphäre des Haushalts herausholen, und damit meine ich noch gar nicht Erwerbsarbeit, sondern aufsuchende Sozialarbeit und niederschwellige Angebote. Was ich bei diesen Frauen aber schon auch wahrnehme, ist eine Wertschätzung der Rechte, die Frauen hier haben – gerade in Hinblick auf die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen.

Wiesinger: Ja, das muss sehr niederschwellig, sehr unbürokratisch stattfinden. Am besten ist, man spricht die Mütter vor der Schule an. Und dann kann man zum Beispiel so was auf die Beine stellen wie eine wöchentliche Mutter-Kind-Betreuung. Da lernt dann die Mutter auch, mit der Lehrerin gemeinsam.

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Zahlen & Fakten

Güngör: Aber eine gute Nachricht darf ich Ihnen auch geben: Wir haben reaktionäre Milieus innerhalb der Muslime, aber wir haben gerade in der jüngeren Generation auch Familien, da trägt die Frau ein Kopftuch, aber die haben trotzdem eine egalitäre Beziehung. Weil sich die Frau nichts gefallen lässt. Das zeigt, wie heterogen diese Gruppen sind.

Fellhofer: Ich kenne auch Beispiele von jungen tschetschenischen Mädchen, denen wollten die Burschen erklären, wie sie zu sein und sich zu kleiden haben, weil das der Koran so vorschreibe. Die haben dann im Koran nachgelesen und den Burschen gesagt: „Schaut, ich habe das nachgelesen, und das steht dort gar nicht.“ Die haben ihnen Konter gegeben.

Wiesinger: Und genau diese Menschen sollte man stärken, in den Vordergrund holen und sich auch politisch als Ansprechpartner suchen.

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