Putin und die Bombe

Putin droht regelmäßig mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Mal offen, mal durch die Blume. Völkerrechtlich ist das eigentlich verboten. Es gibt aber (leider!) eine Lücke.

Ein Mann in Shorts reinigt eine Bombe. Das Foto illustriert einen Beitrag über Atomwaffen anlässlich der Drohungen Putins mit Nuklearwaffen.
Die Plutoniumbombe „Fat Man“ wird für den Abwurf auf Nagasaki am 9. August 1945 vorbereitet. © Getty Images

Die Entwicklung der Atombombe war das, was man einen „Game Changer“ nennt. Die traditionelle Konfrontation auf dem Schlachtfeld wurde mit einem Schlag durch eine Logik gegenseitiger und unmittelbarer Vernichtung ersetzt.

So hat sich die Angst vor dem Atomkrieg in die Kultur der Jahre des Kalten Krieges eingebrannt, von Schutzübungen oder -kellern über den Daisy Girl-Werbespot während des US-Wahlkampfs 1964 bis hin zu Stanley Kubricks „Dr. Strangelove“ aus demselben Jahr.

Atomwaffen im Schlummer

Und dann ist irgendwann so etwas wie nukleare Gelassenheit eingekehrt. In der politischen Phase nach dem Fall der Berliner Mauer ging es um anderes: Demokratie, Globalisierung, den Übergang vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Friedlich war das alles nicht, keine Frage: Die Liste der Kriege während der 1990er Jahre ist lang, zu lang.

Ein Atompilz ist über einem Elektrizitätswerk zu sehen. Das Bild soll illustrieren, was beim Einsatz von Atomwaffen geschieht.
Nagasaki am 9. August 1945, 35.000 Menschen sterben innerhalb einer Sekunde. Drei Tage zuvor war Hiroshima von einer Atombombe vernichtet worden, 80.000 Menschen starben unmittelbar. © Getty Images

Allen Gräuel zum Trotz spielte die Sorge vor Nuklearschlägen dabei keine oder eine allenfalls weit untergeordnete Rolle. Die meisten dieser Konflikte waren schließlich Bürgerkriege, bei denen die Beteiligten mit vergleichsweise schwachen Mitteln kämpften. Und beim großen zwischenstaatlichen Krieg dieser Ära – dem Irakkrieg 1990/91 – hatte der Aggressor (Saddam Hussein) keine derartigen Waffen.

Ganz verschwunden ist das Thema aber nicht. Zum einen stellte sich beim Zerfall der Sowjetunion die Frage, wie mit ihren Atomwaffen umzugehen sei. Konkret, wer sie bekommen sollte.

Das Ergebnis ist bekannt und wird heute kontroverser diskutiert denn je: Die 32.000 in Belarus, Kasachstan, der Ukraine stationierten nuklearen Sprengköpfe wurden ebenso nach Russland verfrachtet wie die 22.000 taktischen Nuklearwaffen. Dabei gilt es übrigens zu bedenken, dass die drei genannten Länder, insbesondere die Ukraine, zu keinem Zeitpunkt selbst Atommächte waren – die Waffen waren zwar auf ihrem Gebiet, sie hatten aber keine Kontrolle darüber. Auch die NATO hat in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei Nuklearwaffen stationiert, ohne dass einer dieser Staaten dadurch zur Atommacht wird.

Darf Putin mit Atomwaffen drohen?

In diese Zeit fällt ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Frage, wann derartige Mittel überhaupt eingesetzt werden dürfen. Das mag ein wenig überraschen, weil sie, wie gesagt, nicht ganz zum damaligen Zeitgeist passt.

Man erinnere sich: Jedenfalls die frühen bis mittleren 1990er sind für ihre Aufbruchsstimmung bekannt. Wer braucht Nuklearwaffen, wenn die Geschichte gut endet? Nun, es waren eben doch nicht alle so optimistisch. 1992 hat eine Reihe von NGOs in Genf das „World Court Project“ ins Leben gerufen, weil die Bedrohung durch Nuklearwaffen auch nach Ende des Kalten Krieges weiter fortbestand. Daher sollte der Internationale Gerichtshof – seines Zeichens das primäre Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen – ein für alle Mal klarstellen, ob und, falls ja, wann derartige Waffen eingesetzt werden dürfen.

Die Meinungen waren erwartungsgemäß geteilt: Die meisten nicht-Atommächte befanden sie für illegal, die Atommächte und ihre engen Verbündeten sahen das naturgemäß anders. Nur: Wer sich vom Internationalen Gerichtshof eine eindeutige Antwort erwartet hatte, wurde enttäuscht. Zwar stellte er klar, dass Atomwaffen ihrem Wesen nach gegen die elementaren Grundsätze des Umwelt- und Kriegsrechts verstoßen: Sie können nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden und verursachen außerdem unverhältnismäßiges Leid. Folglich ist der Einsatz von Nuklearwaffen ebenso verboten wie die dahingehende Drohung.

Die atomare Lücke im Recht

Eine kleine Lücke ließ der Gerichtshof aber offen: Zum einen sind der bloße Besitz von Nuklearwaffen und auch nukleare Abschreckung nicht verboten. Das „Gleichgewicht des Schreckens“, das verhindert, dass eine Seite zuerst angreift – wenn einer anfängt, sterben am Ende alle (überspitzt formuliert).

Zum anderen konnten die Richter sich nicht darauf einigen, ob der Einsatz nicht doch gerechtfertigt sein könnte, wenn das Überleben des Staats auf dem Spiel steht. Das Ergebnis war ein höchst unbefriedigendes „es ist nicht klar“ – rechtlich spricht man hier von non liquet (für die Latein-Liebhaber unter den Lesern).

Fast forward ins Jahr 2022: Wladimir Putin beruft sich bei seinem Angriff auf die Ukraine auf das Recht auf Selbstverteidigung: Weil die NATO in Richtung Russland expandiert habe, weil „die USA und ihre westlichen Partner“ nach dem Kollaps der Sowjetunion „sofort versucht haben, uns zu erledigen und endgültig zu zerstören“, wie Wladimir Putin es in seiner Ansprache vom 24. Februar ausdrückte: „Das ist eine reale Bedrohung, nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seiner Souveränität.“

Jetzt kann man freilich einwenden, dass Russland zu keinem Zeitpunkt bedroht war und auch heute nicht bedroht ist, weil nun einmal niemand so blöd ist, Nuklearmächte anzugreifen. Dass die größte Bedrohung für Putin und sein Regime von innen kommt, von jemandem aus der zweiten Reihe oder einem revoltierenden Volk (was als eher unwahrscheinlich gilt, aber Putin dürfte der Gedanke daran dennoch Angst machen).

Nur hilft das nicht viel, wenn ein Land oder zumindest dessen Regime tatsächlich das Gefühl hat, um seinen Fortbestand kämpfen zu müssen. „Nur weil ich paranoid bin, heißt das nicht, dass sie nicht trotzdem hinter mir her sind“, wie ein geflügeltes Wort sagt. Zumal Wladimir Putin erst vor wenigen Wochen einmal mehr die Rhetorik vom Überlebenskampf wiederholt hatte.

Atomwaffen und Selbstverteidigung

Womit wir beim Nuklearwaffen-Rechtsgutachten wären. So rächt es sich, dass der Internationale Gerichtshof – wie gesagt – keine Antwort auf die Frage fand, ob ein Land Nuklearwaffen einsetzen kann, wenn sein Überleben auf dem Spiel steht.

Das kann man – und damit sind wir beim Schlusswort – freilich nicht (nur) den Richtern anlasten. Ausgerechnet der damalige russische Richter Vladlen Vereščetin erklärte damals, dass eine eindeutige Rechtsansicht des Gerichts trügerisch gewesen wäre: „Die Errichtung eines soliden Gebäudes für ein umfassendes Verbot des Einsatzes von Nuklearwaffen ist noch nicht abgeschlossen. Das liegt allerdings nicht an den fehlenden Baustoffen, sondern am Unwillen und Gegenreden einer beträchtlichen Anzahl der Bauherren dieses Gebäudes Wenn dieses zukünftige Gebäude die Zeit und ihre Launen überdauern soll, müssen die Staaten selbst – und nicht das Gericht mit seinen begrenzten Mitteln – die Last tragen, das Bauvorhaben fertigzustellen.“

Es möge jeder selbst entscheiden, ob diese Aussage gut oder schlecht gealtert ist. Fest steht, dass das von Richter Vereščetin beschriebene Haus zwar weitergebaut – allen voran durch den 2021 in Kraft getretenen (aber von den Nuklearmächten ignorierten) Atomwaffenverbotsvertrag, den auch Österreich unterstützt hatte –, aber eben noch lange nicht fertiggestellt wurde. Und Wladimir Putin verkündet seit einem Jahr, es gegebenenfalls abreißen zu wollen.

Mehr von Ralph Janik