Mehr oder weniger neutral
Anno 1955 hat sich Österreich bekanntlich zur „immerwährenden Neutralität“ nach Schweizer Vorbild verpflichtet. So richtig daran gehalten hat man sich aber von Anfang an nicht. Bis heute gibt es einige Gemeinsamkeiten und viele Unterschiede.
Die Geschichte sollte allgemein bekannt sein: Österreich sehnte während der alliierten Besatzung die Unabhängigkeit herbei. Eigentlich geht das Völkerrecht ja davon aus, dass derartige Formen fremder Gebietskontrolle wesentlich kürzer als – wie im Falle Österreichs – eine ganze Dekade andauern sollten.
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Die Neutralität war dann letztlich der salomonische Ausweg, um Österreich in die Freiheit zu entlassen: weder Osten noch Westen, weder NATO noch Warschauer Pakt (der übrigens am 14. Mai und damit genau einen Tag vor Unterzeichnung des Staatsvertrags formell gegründet wurde). Ein Kompromiss, mit dem Österreich gut und in den Jahrzehnten danach immer besser leben konnte. Die Zustimmung zur Neutralität liegt konstant bei über 70 Prozent, Politiker sprechen regelmäßig von der „identitätsstiftenden“ Funktion.
Die Idee von Neutralität als Kompromiss hat außerdem historische Vorläufer: Allen voran Belgien, das nach der dortigen Revolution 1830 als neutrales Land gegründet worden war, um das europäische Mächtegleichgewicht zu wahren. Frankreich – die „Befreiungskriege“ waren noch nicht allzu lange her – sollte durch eine Allianz mit Belgien nicht zu stark werden.
Vorbild Schweiz
In diese Zeit fällt außerdem die Entstehung der heutigen Schweizer Neutralität. Historisch reicht sie freilich länger zurück, konkret bis zur Niederlage bei Marignano 1515. Aber im Zuge des Wiener Kongresses wurde sie international formalisiert, im Vertrag von Paris „anerkennen die europäischen Grossmächte die immerwährende Neutralität der Schweiz und garantieren die Unverletzlichkeit ihres Territoriums“, wie es eine Broschüre des Schweizer Außenministeriums zusammenfasst. An diesem Status hat sich bis heute nichts geändert, der Name Schweiz gilt fast als Synonym für Neutralität.
Dementsprechend wurde sie im Moskauer Memorandum auch als „Vorbild“ für Österreich genannt, konkret gelobte die Bundesregierung, in Sachen immerwährender Neutralität dem Schweizer Muster zu folgen. Was insofern passiert ist als das Neutralitätsgesetz im Verfassungsrang steht und die österreichische Neutralität allen Ländern kundgetan wurde, mit denen Österreich damals diplomatische Beziehungen unterhielt. Völkerrechtlich handelt es sich hiermit um eine einseitige und verpflichtende Erklärung.
Frühe Unterschiede
Dennoch hat man sich nicht eins zu eins an das Schweizer Vorbild gehalten. So trat Österreich bereits am 14. Dezember 1955 und damit nur wenige Wochen nach Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes den Vereinten Nationen bei. Der dahingehende Antrag war bereits 1947 dem UNO-Generalsekretär übergeben worden, Österreich wollte damit seine Unabhängigkeit vorantreiben.
Das wurde auch nicht als Widerspruch zur Neutralität gesehen: „Für Österreich entstehen aus einem Beitritt zu den Vereinten Nationen keine wie immer gearteten Gefahren, kein wie immer gearteter Widerspruch zu seiner Einstellung grundsätzlicher Neutralität“, wie der damalige Berichterstatter Lujo Tončić-Sorinj im Nationalrat bekräftigte.
Dementsprechend brachte Österreich auch keinen dahingehenden Vorbehalt ein, es war und ist somit an alle Bestimmungen der Satzung der Vereinten Nationen vollinhaltlich gebunden, vom Gewaltverbot über die Teilnahme an Sanktionen bis hin zum System kollektiver Sicherheit.
Was keine graue Theorie bleiben sollte, neutralitätsrechtliche Fragen stellten sich erstmals im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen Rhodesien in den 1960ern und später – in neuer Intensität – beim irakischen Angriff auf Kuwait 1990. In beiden Fällen, so die einhellige Auffassung, stellte die Neutralität kein Hindernis bei der Beteiligung dar. Wirtschaftliche und/oder vom UNO-Sicherheitsrat beschlossene Maßnahmen gelten nicht als Krieg im Sinne des Neutralitätsrechts.
Die Schweiz und die UNO
In der Schweiz zeigte man in Sachen UNO lange mehr Zurückhaltung. Zwar war man der Vorgängerorganisation, dem Völkerbund, noch beigetreten, weil die Großmächte ihre Neutralität anerkannten (in der Londoner Erklärung 1920) und sie damit von der Teilnahme an militärischen Sanktionen ausnahmen. Dementsprechend hatte die Schweiz bei Italiens Angriff auf Abessinien ungeachtet der Maßnahmen des Völkerbunds ein allgemeines, also beide (Kriegs-)Parteien treffendes Exportverbot von Kriegsmaterial erlassen.
Billige Waffen für die ganze Welt
Ein Beitritt zu den Vereinten Nationen unterblieb jedoch. Schließlich sollten einem UN-Ausschuss zufolge auch immerwährend neutrale Mitglieder gleichermaßen an die Verpflichtungen ihrer Satzung gebunden sein, insbesondere Artikel 2(5): „Alle Mitglieder gewähren den Vereinten Nationen bei jeder von diesen gemäß der vorliegenden Satzung ergriffenen Maßnahme jede Unterstützung und enthalten sich, irgendeinem Staat Hilfe zu leisten, gegen den die Vereinten Nationen Präventivmaßnahmen oder Zwangsmaßnahmen ergreifen.“
Angesichts der – im damaligen Verständnis „neutralitätsfeindlichen“ Lesart dieser Bestimmung strebte die Schweiz keinen Beitritt zu den Vereinten Nationen an. Gleichzeitig strebte sie aktive Zusammenarbeit an, durch einen Beitritt zum Statut des Internationalen Gerichtshofs (das „UN Gericht“) und als Sitzstaat für, um nur drei Beispiele zu nennen, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) oder die Internationale Arbeitsorganisation (ILO).
Sanktionen erlaubt
Ein Sonderstatus, der erst mit dem Ende des Kalten Krieges an sein Ende kommen sollte. So trug die Schweiz seit 1990 die „nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen solidarisch mit“. Ebenso erklärte der Bundesrat schon 1993 seine grundsätzliche Bereitschaft, „auch an Wirtschaftssanktionen außerhalb der Vereinten Nationen teilzunehmen“ – so geschehen bei Russlands Angriff auf die Ukraine. Dieser Schritt war also wesentlich weniger spektakulär als manche meinen mögen.
Die veränderte weltpolitische Lage wirkte sich auch auf das Schweizer Neutralitätsverständnis aus. War ein erster Gesetzesentwurf zu einem UNO-Beitritt anno 1986 vom Volk noch zurückgewiesen worden, sah die Sache Ende der 1990er anders aus. 1998 folgte ein neuer Versuch von Seiten des Bundesrats, 2002 stimmten 54,6% der Schweizer dem Beitritt zu. Sie ist damit das 190. von heute 193 Mitgliedern.
Kein EU-Beitritt, nirgends
Im Gegensatz dazu bleibt ein EU-Beitritt der Schweiz – und damit wären wir beim zweiten großen Unterschied zu Österreich – bis heute graue Theorie. Zwar sieht auch das Europarecht Ausnahmen für neutrale Länder vor, allen voran die „irische Klausel“, also die Rücksichtnahme auf außenpolitischen Besonderheiten der EU-Mitglieder.
Einfach nein sagen – und damit verhindern – soll man in außenpolitischen Fragen nicht, zur Not kann man ja schweigen.
Aber gleichzeitig ist die EU vom Gedanken der Solidarität geprägt, der einem restriktiven Enthaltungskurs oder gar einer offenen Konfrontation gewisse realpolitische Grenzen setzt. Einfach nein sagen – und damit verhindern – soll man in außenpolitischen Fragen nicht, zur Not kann man ja schweigen (die sogenannte konstruktive Enthaltung, mit der man die Annahme eines Beschlusses zwar nicht billigt, aber eben auch nicht blockiert).
Dementsprechend unterscheidet sich die österreichische Haltung und Rechtslage von jener in der Schweiz. Zum einen trägt Österreich EU-Sanktionen qua Verfassung mit. Zum anderen kann die Neutralität bei einem entsprechenden Beschluss zurücktreten, weswegen die Durchfuhr von Waffen durch österreichisches Bundesgebiet ebenso möglich ist wie es der Export von Waffen wäre. Eine Verpflichtung ergibt sich daraus allerdings nicht. Der EU-Beitritt hat insofern Österreichs außenpolitischen Spielraum rechtlich erweitert. Politisch hat er ihn wiederum – eben aufgrund des Ziels, innerhalb der EU geschlossen aufzutreten – eingeschränkt.
Streitfrage Waffen
In der Schweiz sieht es freilich anders aus. Zwar hat man den russischen Angriff entschieden verurteilt und, wie gesagt, freiwillig die Sanktionen der EU übernommen. Neutralität stößt bei Aggressoren eben an ihre Grenzen.
Die Schweiz hat sich für den strengen Weg entschieden, weil sie das wollte – nicht, weil sie das musste.
Aber grenzenlos wird sie dadurch nicht. Womit wir bei Waffenlieferungen wären. Hier ist in der Schweiz in den letzten Wochen eine Debatte entbrannt: Nicht über direkte Exporte – die offensichtlich gegen die Neutralität verstoßen würden – sondern über indirekte beziehungsweise deren Wiederausfuhr, also das Weiterschicken von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder verkauft und geliefert wurde. Nach Schweizer Recht ist das nicht möglich. Eine Gesetzesänderung wurde mit Blick auf Russlands Angriff zwar angedacht – auch auf Drängen der (zu Recht) besorgten Rüstungsindustrie –, aber letztlich nicht umgesetzt.
Völkerrechtlich ist diese Frage nicht eindeutig geregelt, dazu ist die Staatenpraxis zu uneinheitlich. Eindeutiges Verbot der Wiederausfuhr in kriegführende Länder gibt es jedenfalls keines. Die Schweiz hat sich für den strengen Weg entschieden, weil sie das wollte – nicht, weil sie das musste.