Unser Verrat am Hindukusch
Vor 20 Jahren brachte „der Westen“ den Krieg nach Afghanistan. Sein Versprechen auf Demokratie und Freiheit hat er nicht eingelöst. Eine Analyse der Ursachen.
Auf den Punkt gebracht
- Krieg gegen Terror. Der Afghanistankrieg begann nach den Anschlägen von 9/11. Präsident Bush verkündete schon im Oktober 2001 den „Krieg gegen den Terror“.
- Problem Demokratie. Der Versuch, nach dem Sturz der Taliban eine Demokratie in Afghanistan aufzubauen, scheiterte schon früh – und aus mehreren Gründen.
- Andauernde Unsicherheit. Die drei größten Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat, sind Korruption, Armut und lokale Stammesfehden.
- Westliches Versagen. Der Abzug der US-Truppen gab Afghanistan den Taliban preis. Die Chance auf nachhaltigen Frieden wurde auch seitens des Präsidenten vertan.
Am 7. Oktober 2001, vier Wochen nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon, wendet sich Präsident George W. Bush an die Nation: „Auf meinen Befehl hin haben US-Streitkräfte Schläge gegen terroristische Lager von al-Qaida und militärische Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen.“ Mehrere andere Nationen, darunter das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland, Australien und Kanada, unterstützten den Schlag der Vereinigten Staaten. „Wir werden vom kollektiven Willen der Welt unterstützt“, sagt Bush.
Heute, zwanzig Jahre später, wissen wir: Was 2001 als militärische Strafexpedition und Befreiung von al-Qaida-Terror und Taliban-Diktatur geplant war, wurde zu einem sieglosen zwanzigjährigen Krieg – dem längsten Krieg der Amerikaner. Warum Bush den Krieg begann, ist nicht restlos geklärt. Vermutlich fühlte er sich gezwungen, das in der amerikanischen Kultur verwurzelte Bedürfnis nach Vergeltung zu befriedigen – jedenfalls auch.
157.000 sinnlose Tode
Sein „Krieg gegen den Terror“, die gescheiterte Politik des „regime change and nation building“, gefordert und provoziert durch den islamistischen Expansionismus und Terror, stürzten die US-Außenpolitik in ein selbst verschuldetes Dilemma und Afghanistan in eine weitere Katastrophe nach den blutigen Jahren des Krieges gegen die sowjetische Besetzung des Landes in den Jahren 1979 bis 1989.
Der Krieg begann, nachdem die vom pakistanischen Geheimdienst diskret unterstützten Taliban sich geweigert hatten, Osama bin Laden, den al-Qaida-Chef und Drahtzieher der 9/11-Anschläge, an die USA auszuliefern. Die Bilanz des Kriegs: Kriegskosten von zwei Billionen US-Dollar, 157.000 Tote, davon 43.000 Zivilisten und 3.500 Soldaten internationaler Truppen, darunter 2.300 Amerikaner, 2,5 Millionen Afghanen weltweit auf der Flucht.
Auf der von der UNO organisierten Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg in Bonn im Dezember 2001, an der auch vier Delegationen verschiedener afghanischer Oppositionsgruppen teilnahmen, sollte der Aufbau demokratischer Verhältnisse in Afghanistan vorbereitet werden. Eine fatale Fehleinschätzung der USA und ihrer NATO-Verbündeten: Der zum Übergangsregierungschef bestimmte und 2004 zum ersten Präsidenten gewählte Hamid Karzai, ein treuer Gefolgsmann der USA, der bis 2014 amtierte, schuf ein prowestliches System mit einem Netzwerk aus Bestechung, Vetternwirtschaft und Korruption. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Ein Staat, der keiner ist
Um das heutige Afghanistan besser verstehen zu können, muss man den Film noch weiter zurückspulen. Nach dem vollständigen Abzug der Sowjetarmee 1989 versank das Land in einem Bürgerkrieg. Die Fronten dieser inner-afghanischen Kämpfe verlaufen hauptsächlich zwischen Stadt und Land; auch heute noch bestimmen Stammesstrukturen den Alltag und das Zusammenleben in Afghanistan. Der traditionelle Rechts- und Ehrenkodex paschtunischer Clans, das sogenannte paschtunwali, hat starken Einfluss auf die Taliban. Die Paschtunen sind mit 40 Prozent die größte Volksgruppe, sie leben nach jahrhundertelang gepflegter Tradition: Familienzusammenhalt, Gastfreundschaft, aber auch Blutrache prägen ihre Moral.
Der traditionelle Rechts- und Ehrenkodex paschtunischer Clans hat starken Einfluss auf die Taliban.
Mit 27 Prozent sind die Tadschiken die zweitgrößte Gruppe des Landes, gefolgt von Hazara, Usbeken, Aimaken, Turkmenen, Belutschen und Nuristani. In den Provinzen herrschen regionale und lokale Machthaber. Die Beziehungen zwischen der Hauptstadt und dem Land werden durch persönliche Loyalitäten, Stammesinteressen und religiöse Gesetze bestimmt. Die ständig wechselnden Koalitionen und Fehden sind mitverantwortlich für die landesweite Unsicherheit und Willkür.
19 Milliarden Dollar – gestohlen
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Ein Drittel der Bevölkerung ist abhängig von humanitärer Hilfe; 80 Prozent der Einwohner leben von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. Die verarmte Landbevölkerung hilft sich mit für sie bescheidenen Einkommen aus der Drogenwirtschaft, die ein Achtel des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Afghanistan ist der weltgrößte Haschisch-Produzent: 90 Prozent der Weltproduktion an Opium und 80 Prozent des Heroins stammen aus dem Land am Hindukusch. Alle Konfliktparteien profitieren davon: 2016 verdienten die Taliban nach UNO-Statistiken 160 Millionen US-Dollar mit Drogengeschäften, deren Gesamtwert allerdings drei Milliarden US-Dollar betrug.
Nach den Dürrejahren 2018 und 2019 verschärft seit dem Frühjahr 2020 die Pandemie die Dauerkrise im Land. Covid-19 vertieft die großen sozialen Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Tagelöhner finden in den Städten keine Arbeit mehr; Grenzschließungen führen zu Lebensmittelknappheit. Afghanistan droht eine Hungerkatastrophe. Ohne ausländische Hilfe können das Land und die Regierung in Kabul nicht überleben.
Zahlen & Fakten
- Seit 2001 kostete der Afghanistan-Krieg 2 Billionen US-Dollar Kriegskosten.
- 2,5 Millionen Afghanen befinden sich weltweit auf der Flucht.
- 80 Prozent der Einwohner Afghanistans müssen von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben.
- 2016 verdienten die Taliban nach UNO-Statistiken 160 Millionen US-Dollar mit Drogengeschäften.
- Zwischen 2011 und 2021 sind 19 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern in dunklen Quellen versickert.
Die internationale Gemeinschaft sagte bis 2024 weitere zwölf Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern zu. Wenig davon kam bisher bei den Menschen an, für die das Geld bestimmt war: In den vergangenen zehn Jahren sind 19 Milliarden US-Dollar versickert.
Das Versagen des Westens
Nun hat US-Präsident Joe Biden auch die letzten US-Truppen abgezogen – ein selbstkritisch-blamables Eingeständnis, dass es auch nach zwanzig Jahren Krieg nicht gelungen ist, am Hindukusch ein westlich geprägtes System aufzubauen. Nach zwei Jahrzehnten Krieg herrscht in Kabul wieder eine Taliban-Regierung; Ex-Präsident Aschraf Ghani ist aus dem Land geflohen.
Der Westen hat seine Möglichkeiten ausgeschöpft, Afghanistan seine Ordnungsprinzipien und Wertvorstellungen aufzuzwingen.
Das Endspiel hat begonnen. China wird die Taliban unterstützen – eine Folge des Dauerkonflikts Pekings mit Washington, in dem China seinen Anspruch auf Weltführerschaft in der indopazifischen und eurasischen Region demonstriert. Der Westen hat seine Möglichkeiten ausgeschöpft, Afghanistan seine Ordnungsprinzipien und Wertvorstellungen aufzuzwingen. Die Regierung in Kabul und die Taliban hätten wenn überhaupt, dann nur gemeinsam ein Ende der Kämpfe aushandeln können, doch mit Ghanis Flucht wurde auch diese Chance vertan.
Die Bevölkerung Afghanistans hat während der letzten 20 Jahre vergeblich auf politische Führer gewartet, die den Mut und die Fähigkeit haben, das Gemeinwohl über Eigeninteressen zu stellen und die Voraussetzungen für eine Zukunft in Sicherheit zu schaffen. Heute ist die Lage für die Menschen prekärer denn je: Jede Aussicht auf Stabilität, Frieden und Rechtsstaatlichkeit ist geschwunden.
Conclusio
Der längste Krieg, den die USA je führten, hat eine schreckliche Bilanz: zwei Billionen US-Dollar Kosten, 157.000 Tote, davon 43.000 Zivilisten und 3.500 Soldaten der internationalen Truppen, 2,5 Millionen Afghanen auf der Flucht. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Erde und seit Jahrzehnten in Konflikte verwickelt. Der Alltag der Menschen wird von Stammesstrukturen bestimmt; die ehemalige Regierung hatte nur wenig Einfluss auf lokale Machthaber. Der Westen hat seine Möglichkeiten in Afghanistan ausgeschöpft – und er hat versagt.