„Österreich hat etwas, das mich zum Lächeln bringt“

Die Kunst müsse sich künftig überall mehr dem Markt öffnen, prophezeit die neue künstlerische Leiterin der diesjährigen viennacontemporary, Abaseh Mirvali. Dennoch sei eine Kunstmesse sehr viel mehr als bloß ein Ort für Verkäufe. 

Die neue künstlerische Leiterin der diesjährigen viennacontemporary, Abaseh Mirvali im Interview.
Die neue künstlerische Leiterin der diesjährigen viennacontemporary, Abaseh Mirvali im Interview. Wien, am 6. August 2025 im Glacis Beisl. © Gregor Kuntscher

Die viennacontemporary, Österreichs führende internationale Messe für zeitgenössische Kunst, hat eine neue künstlerische Leiterin. Im Interview mit dem Pragmaticus erzählt die weltweit renommierte Kuratorin und Museumsleiterin Abaseh Mirvali, warum die von 11. bis 14. September stattfindende Messe für Besucher und Aussteller ein ganz besonderes Erlebnis werden wird und weshalb sie nach zwei Jahrzehnten auf verschiedenen Kontinenten Österreich so liebt.

Der Pragmaticus: Frau Mirvali, nach zwei Jahrzehnten einer internationalen Karriere auf verschiedenen Kontinenten sind Sie jetzt in Wien gelandet. Kennen Sie Österreich ein wenig?

Abaseh Mirvali: Ich liebe Österreich. Ich weiß nicht genau, wie ich Ihnen erklären soll, warum, aber mich verbindet so vieles mit diesem Land. Mein Ex-Mann hat mich vor vielen Jahren nach Dorfgastein gebracht. Dort habe ich Schifahren gelernt, hat Spaß gemacht. Und ob Sie’s glauben oder nicht: Dort gab es die schönsten und saubersten Schafe, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie waren so prall und weiß und hübsch. Davor war ich ein Jahr in Usbekistan, ein Land voller kulturellem und historischem Reichtum aber mit ziemlich mageren Schafen. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, dort gibt es sicher auch schöne Schafe, aber die habe ich eben nie gesehen.

Österreich hat etwas, das mich zum Lächeln bringt. Ich freue mich, wenn ich einen Kuchen finde, der mir schmeckt. Es macht mich glücklich, wenn sich die Leute mit mir über Brot unterhalten. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber ich liebe es einfach, durch die Stadt zu spazieren.

Der erste Eindruck war also von Kuchen, Schifahren und Schafen geprägt, sehr österreichisch. Kamen Sie damals auch schon mit der Kunstszene in Kontakt?

Abaseh Mirvali: Erst während meiner Zeit als Direktorin des Jumex Museums in Mexiko, das die größte Sammlung zeitgenössischer Kunst in Lateinamerika beherbergt. Mitte der Nuller-Jahre habe ich bei einem Projekt im Hangar-7 dessen künstlerische Leiterin Lioba Reddeker unterstützt. Die Ausstellung konzentrierte sich auf zeitgenössische mexikanische Künstler und wurde von einem renommierten Koch aus Mexiko kulinarisch ergänzt. 2016 kuratierte ich dann einen eigenen Bereich für die viennacontemporary mit dem Titel „Solo Expanded“.

Im folgenden Jahr, 2017, nahm ich am renommierten Wiener Programm „curated by“ teil. Meine Ausstellung wurde in der Galerie Charim präsentiert und zeigte Dominik Steiger und Shirin Sabahi. Mit Lioba Reddeker war ich bis zum letzten Tag ihres Lebens eng verbunden. Ich kann Ihnen das nicht beschreiben, aber es ist, als hätte ich mich von Anfang an in Österreich verliebt, und Lioba wusste das. Und irgendwie stoße ich auch nach ihrem Tod immer wieder auf sie, beziehungsweise auf die Spuren, die sie hinterlassen hat. 

Die Kulturszene hier in Wien hat etwas Besonderes.

Sie finden es also nicht langweilig hier?

Abaseh Mirvali: Nein. Hier schließen sich so viele Leute begeistert zusammen. Und das wiederum begeistert mich. Die Kulturszene hier in Wien hat etwas Besonderes. Vielleicht bin ich deshalb zu diesem Job gekommen. Weil ich weiß, wie besonders die Menschen hier sind.

Womit wir bei Ihrer neuen Aufgabe wären. Als künstlerische Leiterin haben Sie sicher eine konkrete Vorstellung davon, was Sie mit der Messe erreichen wollen.

Abaseh Mirvali: Ich bin erst seit Mai hier, das ist eine sehr kurze Zeit für die Vorbereitung. Und es ist etwas ganz anderes, ob ich unabhängig kuratiere, als Direktorin eines Museums arbeite oder bei einer Messe, wo ich Verantwortung gegenüber 97 Galerien habe, die für ihre Stände bezahlt haben, und für fünf Institutionen, die Stadt Wien und die Republik Österreich, die uns finanziell unterstützen. Wir haben daher viel Zeit mit dem Grundriss verbracht, weil ich möchte, dass jede Galerie das Gefühl hat, dass sie gleich wichtig ist, unabhängig von ihrer Größe oder davon, ob sie neu oder etabliert ist oder in einem kuratierten Bereich oder einem nicht kuratierten Bereich ausstellt. 

Um den Verkauf zu optimieren?

Abaseh Mirvali: Nicht nur. Die meisten Leute verstehen eine Messe als einen kommerziellen Veranstaltungsort, aber es ist so viel mehr. Ich komme aus dem institutionellen Bereich und habe mein ganzes Leben als Museumsdirektorin und Kuratorin gearbeitet, daher war mir selbst nicht bewusst, was alles in die Vorbereitung einer Messe einfließt, die so vielschichtig und nuanciert ist, und für jeden etwas bietet. Kunsthistoriker sollen sich genauso angesprochen fühlen wie Anfänger, die einfach nur eine tolle Zeit bei einem gesellschaftlichen Ereignis verbringen möchten. 

Was erwartet uns also heuer auf der viennacontemporary?

Abaseh Mirvali: Mein Ansatz beruht auf architektonischem Denken und räumlicher Kohärenz. Mit der Architektin Claudia Cavallar konnten wir einen neuen architektonischen Masterplan für die Messe entwickeln. Die Haupthalle rückt nicht nur die Galerien in den Vordergrund, sondern integriert auch Presse, VIP-Bereiche, Ausstellungsräume und andere wichtige Elemente in einen einheitlichen Ablauf. Das Ergebnis ist ein stimmiges und elegantes Erlebnis, das die Präsenz jeder Galerie verstärkt und gleichzeitig die Gesamtatmosphäre der Messe aufwertet.

Die neue künstlerische Leiterin der diesjährigen viennacontemporary, Abaseh Mirvali im Interview mit Der Pragmaticus-Redakteur Thomas Eppinger.
Die neue künstlerische Leiterin der diesjährigen viennacontemporary, Abaseh Mirvali im Interview mit Der Pragmaticus-Redakteur Thomas Eppinger. Wien, am 6. August 2025 im Glacis Beisl. © Gregor Kuntscher

Die Ausstellung der Erste Stiftung hat nun einen eigenen 250 Quadratmeter großen Raum im Obergeschoss erhalten, was ihre Bedeutung unterstreicht und sowohl der Vision des Kurators als auch den teilnehmenden Künstlern den richtigen Rahmen bietet. Durch die Unterbringung der Ausstellung in einem eigenen Umfeld können sich die Besucher nun mit den Werken auseinandersetzen, ohne sich zu fragen, ob sie Teil der kommerziellen Präsentationen sind, was ein konzentrierteres und bedeutungsvolleres Erlebnis ermöglicht

Wie eng verläuft die Zusammenarbeit mit den Galerien? 

Abaseh Mirvali: In diesem Jahr habe ich meine Erfahrung als Kuratorin und Museumsdirektorin eingebracht, um unsere Galerien und Sammler bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Ich möchte sinnvolle Verbindungen zwischen Sammlern und den Werken, die unsere teilnehmenden Galerien präsentieren, fördern. Wenn ein Sammler nach einem Werk sucht, das derzeit nicht ausgestellt ist, stehe ich mit Rat und Tat zur Seite – sei es bei der Beschaffung des Werks, bei der Beauftragung oder bei der Vermittlung von Kontakten. Wir sind hier, um den Galerien beim Abschluss von Verkäufen zu helfen. Das ist Teil unserer Mission.

Kunden erwarten bei einer Messe ein stimmiges Gesamterlebnis. Geht auch die Liebe zur Kunst durch den Magen?

Abaseh Mirvali: Ja, wir sind ja in Wien! Darum möchten wir auch großartiges Essen aus Österreich und insbesondere aus der Stadt anbieten. Also kleinere Wiener Unternehmen, Manufakturen, mit wunderbaren Standplätzen. Sie werden in einer Art Marktplatz gruppiert, damit sie sich gegenseitig unterstützen können. Wir bieten sowohl österreichische als auch levantinische Küche an und werden eine Bar im Hauptbereich haben. In einem Land wie Österreich, wo es so fantastisches Gebäck, Kaffee und Essen gibt, muss das auch repräsentiert sein. Diese Messe soll in Zukunft die kulturelle Vielfalt widerspiegeln, die in der Stadt Wien und im Land Österreich zu finden ist.

Und auf welchen künstlerischen Fokus setzen Sie heuer?

Abaseh Mirvali: Angesichts unserer geografischen Lage und der Position Wiens ist es logisch, dass der Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa liegt. Obwohl einige der Künstler dieser Region weltweit einen hervorragenden Ruf genießen, ist sie insgesamt noch nicht so bekannt. Demgegenüber ist Lateinamerika stark in Mode. Unser größter Bereich in diesem Jahr ist „Emerging“, und wir haben wunderbare Galerien aus Korea bis Mexiko-Stadt.

Ich habe heuer drei außergewöhnliche Kuratoren eingeladen, deren Arbeit von intellektuellem Engagement und einem nuancierten regionalen Verständnis geprägt ist. Marcella Beccaria, die Chefkuratorin und Kuratorin der Sammlungen im Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, präsentiert „Realities Building“ in der Ausstellung STATEMENT der Erste Stiftung. Mit Schwerpunkt auf Film, Sound und Performance zeigen die Künstler dort kraftvolle, zeitgemäße Formen des Widerstands in einer zunehmend fragmentierten und überwachten Welt. Samantha Ozer, Kuratorin bei Canyon und Gründer von TONO, einer gemeinnützigen Organisation für zeitbasierte Kunst in Mexiko, kuratiert CONTEXT. Dieser Bereich stellt bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts aus West- sowie Mittel- und Osteuropa in den Mittelpunkt. Der Wiener Aliaksei Barysionak vervollständigt das Trio mit der ZONE1, die Nachwuchskünstlern unter 40 Jahren gewidmet ist, die in Österreich leben und arbeiten. 

Künstler gehören zu den sensibelsten Menschen für die Kämpfe an jedem Ort.

Kann eine Wiener Messe moderner Kunst den Krieg in der Ukraine ausblenden?

Abaseh Mirvali: STATEMENT hat algorithmische Kontrolle, digitale Desinformation und technologische Manipulation zum Thema, da spielen natürlich auch geopolitische Akteure eine Rolle. Und ich war beeindruckt, wie offen die Erste Stiftung in ihrer Ausstellung für eine politisch aufgeladene Sprache war. Aber wir sind nicht hier, um eine politische Aussage zu treffen. Die Künstler werden diese Aussage für uns treffen. Darum wird STATMENT eine sehr starke Ausstellung werden, aber wir müssen als Kuratoren nicht in Worte fassen, was die Künstler durch ihre Werke ohnehin wunderbar zum Ausdruck bringen.

Ist Kunst immer politisch?

Abaseh Mirvali: Kunst hatte schon immer eine soziale und politische Bedeutung für die Gesellschaft. Künstler und Menschen aus dem Kulturbereich gehören zu den sensibelsten Menschen für die Kämpfe an jedem Ort. Manche entscheiden sich dafür, eine politische oder soziale Botschaft zu vermitteln. Manche wollen einfach ein ästhetisches Werk schaffen, vielleicht hyperrealistisch oder auch extrem abstrakt. Andere wiederum betrachten die ökologischen Aspekte oder es geht ihnen rein um die Materialien, mit denen sie arbeiten, oder um den Prozess der Herstellung. Ich denke, dass Kunst in jeder ihrer Ausdrucksformen eher politisch ist. Aber das hängt davon ab, wie weit wir diesen Begriff fassen.

Haben Künstler in repressiven Gesellschaften überhaupt die Möglichkeit, sich auszudrücken?

Abaseh Mirvali: Künstler waren immer am widerstandsfähigsten, wenn es darum ging, Wege zu finden, ihre Meinung zu äußern. Viel besser als ich, viel besser als viele andere. Künstler, die unter dem derzeitigen Regime im Iran ausgebildet wurden, haben völlig andere Erfahrungen gemacht als ich, und viele haben dennoch Wege gefunden, sich zu artikulieren. 

War die Kunst an anderen Stationen Ihrer Karriere politischer als in Österreich?

Abaseh Mirvali: Mexiko hat mein Leben verändert. Ich habe die Politik aufgegeben, um mich ganz der Kunst in Mexiko zu widmen. Die Kultur dort ist wunderschön, tief in der alten Geschichte verwurzelt. Die Politik ist komplex, und man muss sich nur eines der Wandgemälde von Diego Rivera oder David Alfaro Siqueiros ansehen, um das zu verstehen. Die Wandgemälde der beiden sind politisch extrem aufgeladen. Gleichzeitig gibt es zum Beispiel die Subtilität eines Rufino Tamayo. Das Land hat eine unglaubliche Vielfalt. Kunst hängt freilich auch von der Perspektive ab, aus der man sie betrachtet. Als ich 2007 die Künstlerin Teresa Margolles mit einem Projekt bei Jumex beauftragt habe, wurden die von ihr behandelten Themen, mit Schwerpunkt auf Opfern der Gewalt der Kartelle, in der Öffentlichkeit noch nicht so breit diskutiert.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Die österreichische Kunstszene ist hoch subventioniert. Im Zuge der Budgetkonsolidierung könnte es zu drastischen Einschnitten kommen. Bereitet sich die Szene darauf vor? 

Abaseh Mirvali: Außerhalb des Kunstmarktes ist man sicher schneller in Entscheidungen, obwohl man viel mehr Risiko trägt. Ich hatte das Glück, eine Zeit lang in Taschkent zu leben, als sich Usbekistan gerade von der Sowjetunion loslöste. Mein Mann war dort Handelsattaché. So konnte ich eine Kultur im Wandel erleben. Dort habe ich mit Künstlern gearbeitet, die von einem System, das sie vollständig subventionierte, zu einem System ohne Subventionen in den freien Markt kamen, was für sie anfangs verheerend war. Und doch hat die Aufmerksamkeit für lokale Künstler und die Anerkennung ihrer Arbeit durch private Sammler dazu geführt, dass die Regierung die Bedeutung einer großen nationalen Kunstsammlung erkannt hat. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich bin also zuversichtlich. 

Kann Kunst ohne Kunstförderung überhaupt bestehen?

Abaseh Mirvali: Die Staaten sind zu hoch verschuldet, um Kunst auf Dauer wie in der Vergangenheit zu finanzieren. Die Kunst wird sich also überall mehr dem Markt öffnen müssen. Aber wir müssen auch der Bildung einen hohen Stellenwert einräumen. Und ich denke, dass die künstlerische Bildung dabei eine Schlüsselrolle spielt. So war das auch bei mir selbst. Meine Mutter hat mich zur Kunst gebracht. Als Kind wurde ich in Italien mit dem Versprechen auf ein Eis durch die Museen geschleppt. Ich glaube, meine Mutter ist sehr glücklich, dass all das Haareziehen in Rom doch etwas gebracht hat.

Unser Newsletter

Mehr Pragmaticus

Fakten gibt’s jetzt im Abo.

10 Mal im Jahr unabhängige Expertise, bequem in Ihrem Briefkasten. Die großen Fragen unserer Zeit, beantwortet von führenden Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.

Jetzt abonnieren