„Die Kunst hilft beim Überleben“
Russland versucht, die Identität der Ukraine und damit auch ihre Kunst zu zerstören. Ein Interview mit Kulturmanagerin Yana Barinova über Kunst im Krieg.
Die Kulturmanagerin Yana Barinova war bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Direktorin der Kulturabteilung von Kiew. 2022 flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Tochter nach Wien, wo sie nun bei der Vienna Contemporary für International Development und bei der Erste-Stiftung für European Policies and Ukrainian Relations tätig ist. Im Interview spricht sie über die Bedeutung der Kunst während des Krieges, über den Schutz von Kunstwerken und das kulturelle Kapital der Ukraine.
Im Westen stellt man eine gewisse Kriegsmüdigkeit fest. Ist der Schaffensdrang der ukrainischen Künstler in der Ukraine und im Exil ungebrochen?
Yana Barinova: Der Krieg demotiviert natürlich alle Ukrainer. Doch er gibt den Illustratoren, Fotografen und Installationskünstlern auch neue Impulse, sie reflektieren die Fragilität des Lebens mit ihren Mitteln. Ein Krieg fügt deinem Leben eine Dimension hinzu, die du nicht kanntest. Diese Extremsituation treibt vieles an, darunter auch die Kunst. Sie spiegelt unser (Innen-)Leben wider und erkundet, was Diplomatie und Politik nicht ausdrücken können. Ukrainische Kunst erlebt einen Boom. Die internationale Kunstwelt ist sehr interessiert.
Müssen sich die Künstler auf den Krieg beziehen, um überhaupt gesehen zu werden?
Es gibt bekannte Namen wie Sergiy Maidukov, die sagen, sie könnten nur noch den Krieg porträtieren. Das ist auch wichtig, denn Maidukovs Illustrationen dokumentieren, wie wir diesen Krieg wahrnehmen. Das sichert aber nicht die internationale Aufmerksamkeit, das Publikum ist sehr divers. Manche Menschen wollen die Grausamkeiten nicht sehen. Sie suchen nach metaphorischem und poetischem künstlerischem Ausdruck. Das hat sich aber mit der Zeit geändert. Gleich nach Kriegsausbruch hat sich die Welt natürlich dafür interessiert, was passiert, und hielt nach diesen Inhalten und persönlichen Zeugnissen wie Tagebüchern aus besetzten Gebieten Ausschau. Aber jetzt, wo der Krieg leider unser Alltag geworden ist, kehren auch die Künstler wieder zu ihren ursprünglichen Narrativen, Techniken und Stilen zurück – und manche ringen überhaupt mit dem Krieg, indem sie so tun, als wäre nichts. Ich habe im November 2022 im Wiener Künstlerhaus eine Ausstellung mit dreizehn ukrainischen Künstlern kuratiert. Manche hatten eine Verlagerung zum Kriegsnarrativ vollzogen, zeigten Trauer, Leid und Schmerz. Manche waren bei ihrem positiven, bunten Pop-up-Stil geblieben. Andere wiederum hatten begonnen, ihren Körper in ihre Kunst einzubringen. Krieg spürt man ja auch ganz stark mit dem eigenen Körper und daran, wie er sich verändert. Betroffen waren sie aber alle gleichermaßen.
Führen die unterschiedlichen Zugänge in der Kunstszene zu Diskussionen?
Kaum. Denn es braucht beispielsweise auch jene Bands, die weiterhin fröhliche Musik über Freundschaft und Liebe machen. Müssten wir uns rund um die Uhr mit dem Krieg beschäftigen, würden wir verrückt werden. Aber es gibt definitiv einen Riss zwischen jenen Künstlern, die in der Ukraine blieben, und jenen, die gingen. Die Kluft wird größer, je länger der Krieg andauert. Die Diskussionen zwischen Staatsbeamten sind da aber deutlich härter, wie ich selbst erfahren musste.
Wie Putin Geschichte umschreibt
Der Krieg beeinflusst die Kunst. Welche Wirkung hat die Kunst auf den Krieg?
Eine ganz entscheidende, denn dies ist kein Kampf Waffe gegen Waffe, sondern ein Krieg der Narrative, Identitäten, Werte und kulturellen Herkunft. Ich bewundere die Künstler, die das verstanden haben und trotz der widrigen Umstände weiterarbeiten. Die Kunst konnte nicht die Belagerung von Mariupol oder den Genozid in Butscha verhindern. Aber berührende, patriotische Lieder sowie Gedichte und Popkultur erinnern die armen Soldaten daran, wofür sie kämpfen. Die Kunst hilft beim Überleben.
Betreibt Putin bewusst kulturellen Genozid?
Definitiv.
Russland greift Museen, Kirchen, aber auch Orte des Gedenkens wie das Holocaust-Zentrum Babyn Yar an, das Sie fünf Jahre lang geleitet haben. Wie versucht man konkret, das kulturelle Erbe zu retten?
Es gibt Listen mit Kunstwerken, die beim Schutz priorisiert werden. Darüber hinaus gibt es klare Protokolle, die besagen, was in den Keller kommt und was außer Landes gebracht werden soll. Kompliziert hingegen wird wohl der Restitutionsprozess nach dem Krieg werden.
Wobei der bereits im Gange ist. Zum Streit um das sogenannte Skythen-Gold von der Krimhalbinsel hat ein niederländisches Gericht entschieden, dass die Ausgrabungsgegenstände nach Kiew zurückkehren sollen und nicht auf die Krim. Ergibt eine Rückgabe von Kulturgütern in ein Kriegsland grundsätzlich Sinn?
In besonders gefährlichen Gebieten sollten weder Zivilisten noch Kunstobjekte sein. Doch es gibt Städte, in denen die Menschen ihr Leben möglichst normal weiterführen und das kulturelle Leben sehr lebendig, pulsierend und interessant ist, in denen auch viele neue Ausstellungen gezeigt werden. Hier ist es lebenswichtig, die eigene Herkunft und damit die Identität in Museen zu berühren. Denn nur so versteht man: Das ist mein Land, meine Geschichte, das sind meine Helden und Werte. Das schafft ein Zugehörigkeitsgefühl. Es ist nicht mehr abstrakt, wenn man es sieht. Es ist daher wichtig, authentische Kunstobjekte nach Möglichkeit auszustellen. Es gibt aber auch die andere Front, dabei handelt es sich um internationale Ausstellungen, Lobbying, Beratung, Bewerbung der ukrainischen Kunstprodukte. Die politisch Verantwortlichen in der Ukraine sollten weiter an dem Masterplan feilen: Was zeigen wir im Land, was im Ausland? Was ist unsere Marke, unsere Botschaft?
Museumsmitarbeiter riskierten in den ersten Monaten der Invasion nicht selten ihr Leben, um eigenhändig wertvolle Kunstwerke zu verstecken. Lag das an ihrer persönlichen Beziehung zu den Objekten, oder wussten sie um deren eigentliche Bedeutung für die Identität des Landes?
Beides. Sie nahmen ein sehr hohes Risiko auf sich, denn ursprünglich sollte Kiew ja innerhalb von drei Tagen eingenommen werden. Ohne das notwendige Material zu haben, haben sie die Werke versorgt und in die Keller gebracht. Aus Liebe zum Schatz und für seinen höheren Wert.
Wovon leben die Künstler, gerade in den umkämpften Gebieten?
Kunst kennt keine Grenzen oder Sprachbarrieren, insofern ist es für sie einfacher, Geld zu verdienen und einen Teil davon auch an das Militär zu spenden. Ein ehemaliger Bankangestellter aus Mykolajiw hat es da schon schwerer.
Die Kryptotechnologie NFT wurde bereits eingesetzt, um ukrainische Kunst zu sichern – aber auch zu verkaufen.
Letztes Jahr hat die Vienna Contemporary acht ukrainische Künstler mit acht internationalen NFTKünstlern zusammengebracht. Diese Tandems sollten neue NFT-Kunstwerke kreieren. Das war eine echte Herausforderung, denn nicht alle Künstler in der Ukraine sind mit dieser Technik vertraut. Und der Markt an NFT-Sammlern ist nicht besonders groß.
Der Internationale Museumsrat (ICOM) und Interpol haben eine Liste mit den fünfzig wichtigsten Kunstwerken erstellt, die es zu sichern gilt. Könnte Europa mehr tun, um ukrainische Kunstwerke zu schützen?
Natürlich, allerdings müsste die Ukraine auch noch viel deutlicher kommunizieren, was sie braucht. Das sind freilich zusätzliche Anstrengungen in Zeiten, in denen es manchmal kein Licht gibt und man fünf Nächte nicht schläft. Und ich verstehe auch, wenn ausländische Museen unsere Kunst nicht einfach nur deshalb aufnehmen und ausstellen wollen, weil sie ukrainisch ist. Sie muss in deren Gesamtkonzept und Sammlung passen. Die Lösung liegt in Arbeitsgruppen aus Botschaftern und Mediatoren, die diesen Prozess zwischen ukrainischen und internationalen Institutionen begleiten.
Wie der Krieg ausgehen wird, ist unklar. Hat die Ukraine das kulturelle Schlachtfeld bereits für sich entschieden?
Nein, wir stehen erst am Anfang. Das sieht man auch daran, dass wir unsere Helden wie Kandinsky und Malewitsch gerade erst für uns entdecken.
Künstler, die der russischen Avantgarde zugeschrieben wurden, werden jetzt als Ukrainer wiederentdeckt.
Ja, die Narrative müssen überdacht werden. Das ist ein wichtiger Prozess der Abtrennung, aber auch der Heilung. Es ist schade, dass wir das erst durch den Krieg verstanden haben: Unsere Kultur hat Bedeutung, und wir sollten sie in die ganze Welt hinaustragen. Hätten wir das vor zehn, fünfzehn Jahren verstanden, wären wir jetzt in einer anderen Situation. Wir verfügen über ein großes kulturelles Kapital, das wir aber nie beworben haben.
War das eine politische Entscheidung?
Es war der Mangel an politischem Appetit.
Die First Lady der Ukraine, Olena Zelenska, sagte, jetzt werde die Kultur des Landes stärker als jemals zuvor.
Und trotzdem gibt es dafür kein Budget. Ich sehe die guten Absichten, die First Lady hat viele Ausstellungseröffnungen besucht. Aber Kultur braucht mehr. Sie braucht Beratung, Mitarbeiter und Geld. Es sollte zum Prestige werden, in Museen und im Kulturministerium zu arbeiten. Kunst hat nie Priorität gehabt, mit dem Krieg schon gar nicht mehr. Jetzt kann man nur die Künstler im Exil unterstützen, reisen und von internationalen Experten internationale Standards lernen. Alle Flüchtlinge sind ein Plus für die Ukraine, um das Land wiederaufzubauen. Ich integriere sie in all meine Projekte. Ich bin mir sicher, unser Kunstmarkt kann nach dem Krieg gut etabliert werden. Doch wir müssen investieren, denn für den kommerziellen Erfolg braucht es auch Galerien und Kritiker. Viele der notwendigen Strukturen gibt es im Land nicht.
Die Vienna Contemporary hat sich einvernehmlich von ihrem russischen Financier getrennt, um einer schiefen Optik vorzubeugen. Gleichzeitig hat Österreich immer noch den Ruf eines Handlangers Russlands, das Wirtschaftsmagazin The Economist spricht von „nützlichen Idioten“. Setzt man hier den richtigen Fokus?
Die Vienna Contemporary war immer ein Treffpunkt von Ost und West. Doch jetzt gibt es im Osten einen Krieg, das ist eine Herausforderung. Natürlich ist diese Trennung von der russischen Vergangenheit – die wohlgemerkt vor meiner Zeit erfolgte – ein schmerzhafter, aber richtiger Prozess. Denn als russischer Geschäftsmann muss er in seiner Heimat Steuern abführen, die diesen Genozid finanzieren. Jedes verantwortungsbewusste europäische Unternehmen hat seine Geschäfte in Russland gestoppt. Russische Galerien nehmen nun nicht mehr an der Vienna Contemporary teil – dafür vermehrt ukrainische. Und wir haben Formate implementiert, bei denen wir mit dem Publikum die Themen unserer Zeit diskutieren, dieses Jahr geht es um kulturelle Heimatlosigkeit.
Die Ukraine möchte der EU beitreten. Wäre es konsequent, die Landeskunst als europäisch und nicht wie bisher als „Eastern Art“ zu vermarkten?
Damit werde ich zum ersten Mal konfrontiert – ich muss darüber nachdenken.
Der faschistische Unabhängigkeitskämpfer Stepan Bandera findet sich auch jetzt noch in der ukrainischen Popkultur wieder. Manche Maler setzen bewusst die mit ihm assoziierten Farben Rot und Schwarz ein. Wie denken Sie darüber?
Es ist ein normaler und gesunder Prozess, dass die Ukraine beginnt, ihre Geschichte, ihre Glorifizierungen und ihre Helden zu erkunden und zu überdenken. Natürlich bin ich gegen ultrarechte Bewegungen, doch Bandera ist ein wichtiger Teil der ukrainischen Geschichte und trug zur nationalen Idee bei. Als jemand, der für das Holocaust-Zentrum Babyn Yar gearbeitet hat, kann ich sagen: Geschichte ist kompliziert. Wie jedes andere Land auch haben wir Helden und Kollaborateure. Kein Land steht nach einem Krieg gut da. Neben dem Babyn-Yar-Zentrum und der Holodomor-Gedenkstätte werden wir eines Tages auch für diesen Krieg Museen haben. Der Schlüssel liegt in zwei Prinzipien: die Wahrheit zu erzählen und jedes Opfers zu gedenken. Sind wir reif genug, uns unserer Geschichte zu stellen? Die Ukraine ist gerade einmal 32 Jahre alt, ich bin quasi mit ihr aufgewachsen. Da liegt noch sehr viel Reflexion vor uns und Streben nach einem Übereinkommen in der Gesellschaft darüber, was wir wie in Erinnerung behalten.
Über Yana Barinova
Yana Barinova leitete die ukrainische Holocaust-Gedenkstätte Babyn Yar und war anschließend Kiews Kulturstadträtin, bevor der russische Angriffskrieg sie nach Wien brachte. Die studierte Philosophin und Ökonomin aus Odessa ist selbst russischsprachig, ihre jüdische Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs verfolgt.