Die Gewalt an den Grenzen

Wenn das Asylrecht an den Grenzen nichts gilt, zerstört das die Demokratie im „Inneren“ der EU. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger über die Achillesferse Migration.

„Les émigrants“ von Honoré Daumien, 1857. Eine Gruppe von Menschen flüchtet in der hereinbrechenden Dunkelheit über einen Pass. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Asyl, Migration und Grenzen.
Les émigrants von Honoré Daumien, 1857. © Getty Images

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger analysiert, welche Folgen die gewaltsame Schließung der EU-Außengrenzen für die Menschen innerhalb dieser Grenzen hat – für EU-Bürger, die aus den Medien von Pushbacks und Abschiebungen erfahren und für jene, die diese durchführen. Asyl und Migration seien die Achillesferse Europas, sagt Kohlenberger, denn der „Gürtel der Gewalt“, der Europa umgibt, hat Folgen für die demokratischen Rechte von EU-Bürgern und für die geopolitische Geltung Europas.

Frau Kohlenberger, was beschäftigt Sie gerade?

Judith Kohlenberger: Ich beschäftige mich mit einer These aus der Fluchtforschung, nämlich jener, dass das, was an den Grenzen passiert, das Innere nicht unberührt lässt: Die Zahl der Toten an der EU-Außengrenze geht jährlich in die Tausende. Nicht nur im Mittelmeer sterben Menschen bei ihrem Versuch, nach Europa zu kommen, sondern auch auf der sogenannten Balkanroute. Man kann sagen, Europa ist von einem Gürtel der Gewalt umgeben. Um zu verstehen, was dies mit den Aufnahmegesellschaften macht, bin ich gerade dabei, Interviews mit unterschiedlichen Ebenen in der Aufnahmegesellschaft zu führen.

Welche Grenzen sind besonders betroffen?

Praktisch alle. Menschen, die auf ihrer Flucht die EU-Grenze erreichen, aber keinen Asylantrag stellen sollen, müssen aktiv zurückgedrängt werden – sie gehen ja nicht freiwillig zurück. Es gibt Pushbacks nicht nur im Mittelmeer, sondern entlang der gesamten Balkanroute, in Griechenland, in Ungarn, an der Grenze von Deutschland und Österreich, an der polnischen Grenze zu Belarus, wo in den letzten Jahren Migranten und Migrantinnen im Konflikt zwischen der EU und Belarus, mit Putin im Hintergrund, als Druckmittel eingesetzt wurden. Dabei kam es zu vielen Toten im Grenzraum. Ein besonderer Ort der Gewalt sind auch die Grenzflüsse. Ich habe zum Beispiel mit einem Pathologen gesprochen, der am Evros, das ist der Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, die Toten zu identifizieren versucht.

Mit welchen Gruppen konnten Sie bisher außerdem noch darüber sprechen?

Es gibt viele unterschiedliche Akteure, die direkt oder mittelbar betroffen sind. Ich habe Interviews beispielsweise mit Grenzpolizisten, mit Grundwehrdienern, mit Flüchtlingshelfern in Deutschland und Österreich, auf den griechischen Inseln und auf der Balkanroute, mit Justizwachebeamten, mit Anwälten, Psychologen etc. geführt. Ich will damit den Blick weg von den Geflüchteten hin zur „Gegenseite“ lenken, zur aufnehmenden Seite, um nachzuzeichnen, wie die Gewalt an den Grenzen diese verändert.

1. Asyl und Gewalt

Les Fugitifs von Honoré Daumier (ca. 1860-70). Das Bild zeigt eine nur schemenhaft zu erkennende Gruppe von Menschen, die zu Fuß flüchtet. Eine Person sitzt schwer beladen auf einem weißen Pferd. Im Hintergrund scheint eine Stadt zu brennen. Das Bild ist Teil eines Interviews mit Judith Kohlenberger über Asyl.
Les Fugitifs von Honoré Daumier, ca. 1860-70 © Getty Images

Welche Form hat die Gewalt an den Grenzen?

Es gibt Belege für Treibjagden mit Hunden, etwa in Kroatien, wo auch die vermummte Polizei im Verdacht steht, Migranten zu prügeln. Es gibt Fälle von Kidnapping, von sexueller Ausbeutung. An der serbisch-mazedonischen Grenze mussten sich Migranten bis auf die Unterwäsche ausziehen, sie wurden dann zurückgeprügelt. Es gibt die Fälle, wo Schiffe abgedrängt werden, oder Menschen werden in die Wüste deportiert wie im Fall von Tunesien. Neben dieser aktiven Gewalt gibt es das, was in der Forschung als „Politik des Sterbenlassens“ bekannt ist. Es wird nicht aktiv Gewalt angewendet, aber sie ist in einer passiven Form ein fester Bestandteil der Grenzverwaltung Europas, die bewirkt, dass Menschen an der Grenze nicht ihr Recht bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Sie werden der Witterung, ihren Krankheiten oder dem Hunger überlassen und kommen so zu Tode.

Was macht diese Situation an den Grenzen mit den Menschen, die dort arbeiten?

Ein ganz konkreter Effekt ist der Vertrauensverlust in den Staat und in sein Gewaltmonopol. Viele fragen sich, warum sie sich an Regeln halten sollen, wenn der Staat offen gegen die Grund- und Menschenrechte und gegen das Asylrecht verstößt. Einige erzählten, wie sie selbst beginnen, kleine Regelverstöße zu begehen, also falsch parken zum Beispiel. Manche Polizisten stellen die Sinnhaftigkeit ihres Tuns in Frage. Sie sagen, es sei ja wichtig, dass sie an der Grenze seien, aber im Grunde würde der Fluss an Menschen, die da ankommen, nie versiegen, weil die Ursache nicht behandelt werde. Und viele der Grundwehrdiener sehen, dass eben nicht die medial vermittelten Horden muskulöser Männer ankommen, sondern erschöpfte, unterkühlte Burschen, die so alt sind wie sie selbst.

Gibt es auch einen Gewöhnungseffekt im Sinne des Abstumpfens, weil man eh nichts ändern kann?

Das habe ich in den Gesprächen so nicht feststellen können. Beamte, die eine eigene Migrationsgeschichte haben, fragen sich, wie lang sie sich ihrer eigenen Rechte noch sicher sein können. Von Griechenland weiß man, dass für Pushbacks bewusst junge Kadetten von der Marineakademie eingesetzt werden, und man sagt ihnen sehr deutlich, sie sollen zu Hause nicht darüber sprechen, weil es natürlich gegen das Völkerrecht verstößt, was sie da tun müssen. Es kommt dann zu einer Traumatisierung aufgrund von moralischer Verwundung, moral injury, wie das in der Psychologie genannt wird. Moral injury betrifft auch Grenzschutzpolizisten und Beamte der Küstenwache. Sie wissen, was sie da tun, ist Unrecht, und es verstößt gegen ihr eigenes Rechtsgefühl.

2. Asyl und Demokratie

A Ride for Liberty – The Fugitive Slaves von Eastman Johnson, 1862. Das Bild zeigt eine Familie ehemaliger Sklaven, die auf einem Pferd flüchten. Das Bild ist Teil eines Interviews mit Judith Kohlenberger über Migration.
A Ride for Liberty – The Fugitive Slaves von Eastman Johnson, 1862. © Getty Images

Ihre Perspektive dreht die übliche Forschungsperspektive um. Ist das ein verbreiteter Ansatz in der Flucht- und Migrationsforschung?

Es ist Teil eines Ansatzes, der Migration und Flucht aus einer Demokratieperspektive betrachtet. Die These ist, dass an den Grenzen die Demokratie auf die Probe gestellt wird: Wie verhalten sich Anspruch und Wirklichkeit zueinander? Europa steht dem Anspruch nach für Freiheit und Sicherheit. Man grenzt sich etwa von Russland ab und sagt, bei uns gelten die Menschenrechte, es gibt keine Willkür. An der Grenze wird aber sichtbar, wie rasch dieser Anspruch unterwandert wird, nämlich von Europa selbst. Das Gefährliche daran ist, dass damit die Glaubwürdigkeit Europas als regulatorische Großmacht in Frage steht. Und Europa arbeitet Putin zu. Er sagt ja, die Redefreiheit, die Menschenrechte – das ist alles ein Fake. Er baut darauf, dass Europa sich selbst vorführt.

Was ja in den meisten Fällen auch prompt passiert. Putin hat ja nicht Unrecht, wenn er sagt, die Menschenrechte gelten in Europa offenbar nicht für alle Menschen. Auch die AfD redet abfällig von der „Werteunion“ während Staaten in Europa Zonen einrichten, wo Geflüchtete interniert werden können, oder die EU vereinbart selbst Deals wie jenen mit Tunesien.

Ja, Europa manövriert sich in eine widersprüchliche Haltung. Auf der einen Seite knüpft Europa seine wirtschaftlichen Investitionen an ganze Kataloge von Bedingungen für Drittstaaten, aber wenn es um das Asylrecht geht, dann gelten scheinbar verbriefte Rechte nicht mehr. Man sieht schon jetzt an der Blockbildung in Bezug auf den Ukrainekrieg, wohin das führt. Afrikanische Staaten, aber auch Indien, positionieren sich auf der Seite Russlands, auch mit dem Argument, die seien wenigstens ehrlich und würden keine „Doppelmoral“ leben. Diese Widersprüchlichkeit in Kombination mit dem neokolonialen Verhalten, alles, was man nicht will – von Geflüchteten über Geflügelreste bis zur abgetragenen Kleidung und Elektroschrott – in den globalen Süden auszulagern, ist die Achillesferse Europas. Die Verbündeten, die man gerne hätte, werden sich auf dieses Europa nicht einlassen können.

Wie wirkt sich das auf die Demokratie im Inneren aus?

Es gibt einige Evidenz, dass sich Einschränkungen von demokratischen Rechten einzelner Gruppen sukzessive ausweiten. Wie man aktuell in Ungarn und zuvor in Polen beobachten konnte, beginnt die Erosion von Demokratie bei den schwächsten Gliedern einer Gesellschaft, zum Beispiel bei Geflüchteten, und greift dann sukzessive auf etabliertere Gruppen der Gesellschaft über, etwa auf Grundrechte wie Medien- und Redefreiheit. Und schließlich stehen dann alle Rechte zur Disposition – auch solche, die durch die Staatsbürgerschaft eigentlich garantiert sind. Je „normaler“ die Einschränkungen werden, desto leichter lässt sich auch die gesellschaftliche Mitte für extreme Einschränkungen gewinnen.

Politologen wie Thomas Biebricher haben analysiert, dass den Demokratien vor allem diese konservative Mitte fehlt, weil konservative Kräfte zunehmend Positionen der extremen Rechten einnehmen. Damit fehle eine mäßigende Kraft. Sind auch die Gewalt an den Grenzen und die Debatten über Asyl ein Indikator, dass Gesellschaften heute polarisierter sind als früher, weil es kaum noch Positionen der Mitte gibt?

Was die Forschung dazu jedenfalls feststellt, ist eine Verrohung des Diskurses, eine Gewöhnung an Gewalt. Eine Gesellschaft, die nur durch Gewalt vermeintlich geschützt werden kann, verroht, denn irgendjemand muss diese Gewalt ja anwenden. Das ist der kritische Punkt in der Flüchtlings- und Integrationsdebatte. Die Antwort auf die Gewalt ist immer mehr Gewalt, immer mehr Sicherung, immer mehr Ausgrenzung und mehr Auslagerung.

3. Asyl und Politik

Flucht aus Malaga im Spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939).
Flucht aus Malaga im Spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939). © Getty Images

Gewalt oder Demokratieverlust sind selten Themen, wenn es um Migration geht. Warum ist das so, denken Sie?

Ein Grund ist sicher, dass viele politische Akteure gelernt haben, dass sie mit dieser ungelösten Migrationsfrage Wahlen gewinnen können. Das Thema polarisiert so stark, dass es inzwischen nicht einmal mehr gelingt, Fakten außer Streit zu stellen. Und zum zweiten haben nicht alle ein genuines Interesse daran, das Problem zu lösen und zu einem anderen System zu kommen. Für sie ist es besser, wenn im Unklaren bleibt, was an den Grenzen passiert. Es ist eine „Politik der Angst“, wie die Linguistin Ruth Wodak es bezeichnet, eine Politik, die ein unterschwelliges Bedrohungsgefühl stets aufrecht erhalten soll. Und wenn es eine Bedrohung gibt, dann braucht man eben eine Festung, in der man sich einschließt. Dadurch wirkt alles, was außerhalb der dicken Mauern steht, aber erst recht bedrohlich – andernfalls müsste man sich nicht davor schützen.

Die Expertise der Migrationsforschung kommt im medialen Diskurs kaum vor.

Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem Stand der Forschung und der politischen und öffentlichen Debatte. In der etablierten Migrationsforschung wird man zum Beispiel sehr wenige finden, die der Meinung sind, durch Auslagerung löse sich das Migrationsproblem, diese ein zwei Stimmen sind aber im medialen Diskurs überlaut hörbar. Und so geht die Debatte und auch die Asylpolitik in eine Richtung, die durch die Forschung nicht gedeckt ist. Da müssen wir uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon fragen, wo wir in der Kommunikation versagt haben.

Über Judith Kohlenberger

Portraitfoto Judith Kohlenberger bei der Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises im Juni 2023 in Hamburg.
Judith Kohlenberger. © Getty Images

Judith Kohlenberger forscht an der Wirtschaftsuniversität Wien zu den Themen Asyl- und Migrationspolitik. Sie ist die Autorin mehrerer Bücher, darunter das Buch Das Fluchtparadox, das 2023 mit dem Sachbuchpreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Für den Pragmaticus hat sie die Zuwanderungspolitik Österreichs analysiert.

Über diese Serie

„Was beschäftigt Sie gerade?“ ist eine Interviewreihe des Pragmaticus, in der unsere Expertinnen und Experten von ihrer Forschung und allem, was sie beschäftigt, erzählen. Die Themen und der Umfang des Gesprächs sind offen.

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