Auf dem Weg zum Richterstaat?

Gerichtsentscheidungen auf europäischer Ebene sorgen vermehrt für Debatten. Hebeln die Richter insbesondere in Migrations- und Klimafragen die Gewaltenteilung aus und drängen sie nationale Entscheidungen zurück?

Die Illustration zeigt einen Richter mit einem Gesetzbuch unter dem Arm, der von oben herab aus dem Himmel auf die Menschen von unten schaut, die auf der Erde stehen, die mit der EU-Flagge überzogen ist.
Der Europäische Gerichtshof gerät immer öfter in die Kritik. Viele Entscheidungen sind umstritten. Mischen sich die Juristen zu stark in nationale politische Entscheidungen ein? © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Richter-Bashing. Kritik an Gerichtsentscheidungen ist oft zu einfach, aber notwendig für die Gewaltenteilung.
  • Richterstaat. Supranationale Organisationen entfernen sich mit manchen Entscheidungen vom politischen Willen der Gesetzgeber.
  • Folgen. Demokratisch nicht legitimierte Richter gefährden Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.
  • Gesetzgebung. Gesetzgeber sollten klare Regelungen schaffen und nicht die Verantwortung an Gerichte abgeben.

Man macht es sich zu einfach, Richter-Bashing zu betreiben, wenn Höchstgerichte Entscheidungen fällen, die nicht auf allgemeinen Beifall stoßen. Umgekehrt darf man aber Kritik an Gerichtsentscheidungen nicht rundweg zurückweisen. Felix Frankfurter, Richter am Supreme Court der USA, der 1882 in eine österreich-ungarische jüdische Familie geboren wurde und nach einem bewegten Leben 1962 in Washington, D. C. starb, hat eine kritische Auseinandersetzung mit der Judikatur explizit in einem Text gefordert, den das berühmte Chicago Law Journal auch im 21. Jahrhundert auf der ersten Seite zeigt.

Darin heißt es: „Judges as persons, or courts as institutions, are entitled to no greater immunity from criticism than other persons or institutions.“ Dies diene dazu, Gerichten ihre grundsätzlichen Grenzen aufzuzeigen: „Judges must be kept mindful of their limitations and of their ultimate public responsibility by a vigorous stream of criticism expressed with candor however blunt.“ Damit sind grundlegende Fragen der Gewaltenteilung angesprochen.

Wie einfach war doch die Idee Montesquieus: Nach seiner Lehre war es Aufgabe der Rechtsprechung, den „Geist der Gesetze“ sichtbar zu machen. Durch den Richter als „Mund des Gesetzes“ sollte eine dem Einzelfall gerechte Lösung ermöglicht und gleichzeitig der Anspruch des Gesetzes gewahrt werden. Dieses Konzept prägte auch das Demokratieverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts: Durch die Bindung an das Gesetz wurde der willkürlichen Machtausübung der Vollziehungsorgane im Interesse der Freiheit des Einzelnen Schranken gesetzt.

Seit Montesquieu hat sich viel verändert. Durch Grundrechte ist gerichtlicher Minderheitenschutz gewährleistet, und in der Rechtsprechung durch supranationale Gerichtshöfe wie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird auch über die staatliche Gesetzgebung durch überstaatliche Instanzen gerichtet. Diese Gerichte können den Spielraum der Parlamente einschränken beziehungsweise sie zur Erlassung von Regelungen zwingen, ohne dass es ein innerstaatliches Korrektiv wie eine Verfassungsmehrheit gibt.

Von großer Tragweite ist dabei, wie EGMR und EuGH verstärkt als rechtssetzende Organe wahrgenommen werden, insbesondere, wenn sie in der Rechtsanwendung von anerkanntem Normverständnis abgehen, „um geänderten gesellschaftlichen Entwicklungen und internationalen Tendenzen Rechnung zu tragen“. Eine derartige „Anpassung“ mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Konflikte und internationale Trends wurde etwa in Fragen der Abtreibung oder der Bedeutung der Ehe als Rechtsinstitut auch unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten heftig diskutiert und ist methodisch fragwürdig und angreifbar, unter anderem wenn die Grundlage angenommener europaweiter Wertungen nicht transparent und nachvollziehbar ist.

Die Schweizer Initiative „Klimaseniorinnen“.
Die Schweizer Initiative „Klimaseniorinnen“ freut sich über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er räumte den Aktivisten das Recht auf Verbandsklagen ein. © Getty Images

Tendenziell besteht bei alledem die Gefahr, dass sich die Gerichte vom politischen Willen der gesetzgebenden Organe entfernen: Wenn beispielsweise der EGMR wie im Fall der Schweizer Klimakläger Umweltorganisationen ein bisher nicht verankertes Klagerecht in Grundrechtsfragen einräumt, kann man dem Eindruck, dass Richter sich an die Stelle von Gesetzgebern setzen, wenig entgegnen; und wenn Abschiebungen innerhalb der EU für unzulässig erklärt werden, wenn Kinder im Zielland nicht angemessen untergebracht sind, erhöht dies den Aufwand in Ländern mit hohem Schutzniveau, belohnt Mitgliedsstaaten, die ihre kinderschutzrechtlichen Verpflichtungen nicht einhalten, und stärkt die Skepsis gegenüber den Gerichten.

Rechtsstaat auf Abwegen?

Wenn sich dadurch der Eindruck verschärft, dass die Gerichte die Gesetzgeber vor sich hertreiben, verwundert nicht, dass plakative Parolen Gehör finden: Wer kennt nicht den Slogan vom Richterstaat, der an die Stelle des Gesetzesstaats getreten sei, oder die Idee, dass die Gerichte in die Schranken gewiesen werden sollten, weil das Recht der Politik zu folgen habe? Schon der frühere deutsche Regierungschef Helmut Kohl hat vor der Tendenz gewarnt, „vom Rechtsstaat immer kräftiger in Richtung auf den Rechtsmittelstaat voran zuschreiten“. Und wenn dann noch darauf hingewiesen wird, dass Richter ohne demokratische Legitimation die Geschicke lenken, stehen plötzlich Grundfragen der demokratischen Organisation und Rechtsstaatlichkeit des Gemeinwesens auf dem Prüfstand.

Man kann dem Eindruck, dass Richter sich an die Stelle von Gesetzgebern setzen, wenig entgegnen.

Um zu vermeiden, dass Populismus siegt und rechtsstaatliche Errungenschaften infrage gestellt werden, sind dabei mehrere Akteure gefordert: Zunächst ist die politische und legistische Praxis der gesetzgebenden Instanzen sowohl im Inland als auch auf der europäischen Ebene zu verbessern. Gesetzgeber sollten den politischen Willen in klare Regelungen gießen und der Versuchung widerstehen, ihre gestaltende Verantwortung auf die Gerichte abzuschieben.

Dabei ist insbesondere bei Regelungen der Europäischen Union die legistische Technik abzulehnen, Gesetze mit Erwägungsgründen zu versehen, die mit den Normen unvereinbar sind. Wenn Erwägungen in ihrer Gesamtheit oft länger als der eigentliche Regelungstext sind, zeigt dies, dass der politische Prozess unausgegoren ist und dass daher das Gesetzgebungsorgan seine Aufgabe nicht erfüllt hat. Hier entsteht zwangsläufig Richterrecht, obwohl diese Entwicklung für die Gewaltenteilung problematisch ist.

Hausaufgaben der Gerichte

In weiterer Folge sind auch Gerichte aufgerufen, stärker als bisher auch Gemeinwohl- und Systemaspekte zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere im Europarecht möglich, indem auf die Grundsätze des Primärrechts zurückgegriffen wird, wie dies jüngst der ehemalige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier für die Judikatur zu Migrationsfragen empfohlen hat: Würde man die in Artikel 4, Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union normierte Verpflichtung der Union, „die jeweilige nationale Identität der Mitgliedsstaaten zu achten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt“, als Grundlage und Grenze der Interpretation von Richtlinien und Verordnungen anerkennen, könnten manche Entscheidungen anders aussehen.

Nationale Identität wird ignoriert

Österreich hat beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner besonderen Geschichte zugunsten der Angehörigen protestantischer Kirchen den Karfreitag und in zahlreichen Kollektivverträgen zugunsten der Angehörigen der israelitischen Kultusgemeinde Jom Kippur als Feiertage mit entsprechendem Entgeltfortzahlungsanspruch festgelegt. Dass diese Privilegien für krasse Minderheiten, denen in der Vergangenheit enormes Unrecht angetan wurde, als Diskriminierung der Mehrheit qualifiziert wurden, war keineswegs zwingend. Vielmehr hätte der Europäische Gerichtshof diese Bestimmungen als Teil der nationalen Identität akzeptieren können.

Dass auch die rechtlichen „allgemeinen Grundsätze und Grundrechte“ vom EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung als Teil des Gemeinschaftsrechts seit Jahrzehnten anerkannt sind, könnte der Judikatur ebenfalls als Basis dafür dienen, in Einzelfallentscheidungen übergeordnete Aspekte einfließen zu lassen.

Der eigentliche Ort für gesellschaftliche Weichenstellungen sollte das Parlament sein.

Versuche von Staaten, Asylwerber in Drittstaaten zu verbringen, um dort korrekte Asylverfahren durchzuführen, hätten unter Berufung auf den Grundsatz, dass Staatlichkeit das Recht umfasst, ungeordnete Zuwanderung von Menschen auf ein Territorium zu verhindern, akzeptiert werden können. Und schließlich ist Zurückhaltung auch von Einzelnen und Pressure Groups in der Gesamtgesellschaft gefordert: Wenn die Gerichte zu Schauplätzen von politischen Auseinandersetzungen gemacht werden, die im Parlament zu entscheiden wären, ist ein gewaltenteilendes Rechtssystem schlichtweg überfordert. Selbst wenn strategische Musterprozesse erfolgreich sind, tragen sie dazu bei, dass das Vertrauen in einen zentralen Baustein der Demokratie verloren geht: Der eigentliche Ort für gesellschaftliche Weichenstellungen sollte doch das Parlament sein!

Innere Balance in Gefahr

In letzter Konsequenz hat der eingangs erwähnte Höchstrichter Frankfurter angedeutet, dass Zurückhaltung in der Wahrnehmung der je eigenen Befugnisse erforderlich ist, wenn ein gewaltenteilendes System nicht seine innere Balance verlieren soll.

In einer Demokratie müssen Gerichte, die der Gesetzgebung Schranken setzen können, nicht nur die Grundrechte Einzelner gegenüber der Gesetzgebung, sondern auch die Gestaltungsspielräume demokratischer Gesetzgebung gegenüber Einzelinteressen sicherstellen.

Gerade das Europarecht gibt ausreichend dogmatische Grundlagen dafür, innerstaatliche Rechtstraditionen zu achten, ohne die europäischen Regeln zu verletzen. Die Ausgewogenheit von Individualinteresse und gesellschaftlicher Kohäsion zu gewährleisten, ist Aufgabe aller Staatsgewalten.

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Conclusio

Richterstaat. Supranationale Organisationen, insbesondere der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, entfernen sich mit manchen Entscheidungen vom politischen Willen der Gesetzgeber.
Konsequenzen. Wenn demokratisch nicht legitimierte Richter wichtige Lebensbereiche gestalten, stehen Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit auf dem Prüfstand. Populistische Strömungen erhalten dadurch Munition.
Rezepte. Die Gesetzgeber müssen klare Regeln mit weniger Interpretationsspielraum erlassen. Der EuGH sollte den Grundsatz der EU, nationale Identitäten der Mitgliedsstaaten zu achten, in ihren Entscheidungen berücksichtigen.

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