Vom Rechtsstaat zum Richterstaat

Bei den großen Fragen unserer Zeit wie Sicherheit, Klima und Migration stehen sich oft unterschiedliche Lager gegenüber. Problematisch wird es, wenn dabei Demokratie durch Justiz und Aktivismus ausgehebelt wird.

Das Österreichische Parlament in Wien. Das Bild illustriert den Artikel „Vom Rechtsstaat zum Richterstaat“.
Parlament, Regierung und Justiz haben ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, um im Sinne der Wähler zu entscheiden. Allerdings zeichnen sich in jüngerer Zeit mehrere Prozesse ab, in denen die jeweils anderen Gewalten für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden. © Getty Images

Noch haben die Demokratien nicht bewiesen, dass sie großen Herausforderungen, die nicht einfach mit Geld oder Wählergeschenken gelöst werden können, gewachsen sind. Denn wenn es um die großen Fragen der Gegenwart geht – Klima, Migration, Sicherheit –, kehren die ideologischen Grabenkämpfe mit voller Wucht zurück. Dies auch deshalb, weil sich neue Probleme nicht immer mit traditionellen Maßnahmen befriedigend lösen lassen.

Die neuen großen Themen polarisieren. Das ist wenig verwunderlich, legen sie doch unsere Ziel- und Wertekonflikte besonders schonungslos offen: Wollen wir unseren Wohlstand wahren – oder das Klima mit teuren Maßnahmen „retten“? Wollen wir allen Migranten bei uns eine Chance geben – oder unsere Bürgerinnen und Bürger vor einschlägigen Sicherheitsrisiken schützen?

Notwendige Debatten

Fragen wie diese erfordern umfassende Debatten auf den verschiedensten Ebenen. Weil sie so schwierig sind, aber dennoch beantwortet werden müssen, haben Demokratien ein paar zentrale Institutionen und Verfahren entwickelt, über die Meinungen, Präferenzen, Ansprüche und Sorgen zusammengetragen, aggregiert und Entscheidungen zugeführt werden können, und zwar in jeweils dafür vorgesehenen Foren – von Kommissionssitzungen im kleinen Kreis über gewählte Parlamente bis hin zur breiten Öffentlichkeit. Und ja, zuweilen haben auch die Gerichte noch mitzureden. Die zentrale Einrichtung hierfür heißt Gewaltenteilung: Parlament, Regierung und Justiz haben ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, um im Sinne der Wähler zu entscheiden.

Allerdings zeichnen sich in jüngerer Zeit gleich mehrere Prozesse ab, in denen diese Arbeitsteilung strapaziert und die jeweils anderen Gewalten für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden.

Richterliche Gesetzgebung

Klimaurteile sind ein Beispiel für eine Spielart des politischen Aktivismus, der sich in den letzten Jahren etabliert hat. Auch die Schweiz war konfrontiert mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der die Klage der „KlimaSeniorinnen“, eines von Greenpeace gegründeten Vereins, gutgeheißen hatte. Die Schweiz wies die Klage zurück, unter Hinweis darauf, dass Parlament und Volk bereits mehrmals über Klimapolitik abgestimmt hätten und die Eidgenossenschaft die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfülle.

Wer Entscheidungen in einer Demokratie nicht mag, müsste sie oder das Volk abschaffen.

Der Schweizer Bundesrichter Thomas Stadelmann sprach auch von „richterlichem Aktivismus“, der Gesetze schafft statt interpretiert, indem er, wie hier, den Klimaschutz implizit zum Menschenrecht erhebt. Eine solche Ausweitung ist tatsächlich problematisch – vor allem, wenn man davon ausgeht, dass der Klimawandel menschengemacht ist.

Im Grunde verklagt das Gericht damit Menschen, die in einer Demokratie – und dazu noch in einer direkten – politische Entscheidungen fällen. Anders gesagt: Wer mit demokratischen Entscheidungen nicht einverstanden ist, müsste entweder die Demokratie abschaffen oder das Volk.

Ein anderes Beispiel ist die Nutzung der technologischen Möglichkeiten, um parlamentarische Prozesse auszuhebeln – so ebenfalls kürzlich in der Schweiz geschehen. Just in dem Moment, in dem die kleine Kammer damit beginnen sollte, schärfere Migrationsregeln – konkret: einen erschwerten Familiennachzug – zu debattieren, vermeldete das links-grüne Lager eine Sensation: Innerhalb von 24 Stunden hätten rund 120.000 Personen einen Appell unterzeichnet, der den Rat zum Innehalten auffordere. Dass der Appell von derselben Person problemlos mehrmals und auch von nicht Stimmberechtigten unterzeichnet werden konnte, war kein Anlass, dessen Gewicht zu hinterfragen.

Statt sich also innerhalb der vom Volk gewählten Kräfteverhältnisse der sachlichen Debatte zu widmen, wurde von der gewählten Minderheit im Rat flugs eine Scheinmehrheit aus der Bevölkerung organisiert, um den Prozess zu stoppen. Auch hier werden demokratische Spielregeln ignoriert. Im Kern bedeutet ein solches Vorgehen nichts anderes, als dass gewählte Mehrheiten von der Minderheit nicht mehr als solche anerkannt werden. Man könnte von „parlamentarischem Aktivismus“ sprechen, bei dem die Ad-hoc-Demoskopie die Demokratie auszuhebeln versucht.

Neue Querelen um das Asylrecht

In Frankreich schließlich erntete der neue Innenminister Bruno Retailleau, der es mit Blick auf die innere Sicherheit ebenfalls für notwendig hält, das Asylrecht zu verschärfen, mit seiner Bemerkung, der Rechtsstaat sei weder unantastbar noch heilig, im Parlament einen Shitstorm. Mit seiner Bemerkung meinte er freilich nicht die Unantastbarkeit der Rechtsstaatlichkeit an sich, wie ihm unterstellt wurde, sondern die Antastbarkeit der Regeln, die innerhalb des Rechtsstaats gelten. Angeprangert wurde deshalb umgekehrt ein „menschenrechtlicher Absolutismus“, dem das abstrakte Individuum wichtiger sei als die realen Bürger. Eine ähnliche Reaktion erntete der EuGH jüngst aufgrund seines Urteils, wonach Afghaninnen aufgrund ihres Geschlechts und Herkunftslands automatisch Asyl erhalten sollen.

Wer aus einem Rechtsstaat einen Richterstaat machen will, schwächt die Demokratie.

Tatsächlich verlangen die eingangs genannten Herausforderungen eine neuerliche Abwägung der Präferenzen zwischen Gesellschaft und Individuum sowie zwischen eigenen Rechten und jenen von anderen. Die Balance zu halten zwischen grundlegenden Prinzipien und notwendigen Anpassungen, ist schwierig, aber dazu leben wir ja in einer Demokratie, in der wir alle, und die gewählten Politikerinnen und Politiker zuerst, zur zielführenden Mitwirkung aufgefordert sind.

Die Demokratie wird geschwächt

Niemand ist so naiv, zu glauben, Interessenvertretern jeglicher Couleur ginge es in der Demokratie nur um die Sache und nicht auch um ihre Macht. Dass sie dazu ihre institutionellen Möglichkeiten nutzen oder gar ausreizen, liegt in der Natur der Sache. Dennoch muss sich, wer aus dem Rechtsstaat einen Richterstaat machen und die Demokratie auf Demoskopie reduzieren will, bewusst sein, dass er damit die Demokratie nicht stärkt, sondern schwächt. Und das ist in einer Zeit, in der die Demokratien von innen wie außen bedroht sind, fatal.

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