Was die Demokratie zum Überleben braucht

Drei für das Bestehen von Demokratie wesentliche Voraussetzungen sind Wohlstand, Mündigkeit und Einwurzelung. Sie drohen in Zeiten von Zuwanderung, Wokeismus und Leistungsfeindlichkeit zu verdunsten.

Die Illustration zeigt das Wort Demokratie, das von einer Hand mit einem Radiergummi am Ende eines Stiftes wegradiert wird.
Damit eine Demokratie bestehen kann braucht es Wohlstand, Mündigkeit und Einwurzelung. Diese wesentlichen Voraussetzungen sind jedoch gefährdet. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Demokratie. Demokratie braucht Wohlstand, Mündigkeit und Einwurzelung. Diese sind gefährdet, was die Stabilität des Rechtsstaats bedroht.
  • Wohlstand. Wohlstand ist entscheidend. Ein Wohlstandsverlust kann sie destabilisieren, und übermäßige Sozialpolitik kann die Finanzen belasten.
  • Mündigkeit. Es erfordert mündige Bürger. Emotional geleitete und von Social Media beeinflusste Wertungen gefährden diese Mündigkeit.
  • Einwurzelung. Einwurzelung bedeutet kulturelle Zugehörigkeit. Der Verlust dieses Fundaments kann die Gesellschaft spalten.

Wie gelingt es, den Staat, den Thomas Hobbes noch als mächtigen Dämon, als Leviathan beschrieb, vor Willkür zu bewahren und an das Recht zu binden? Ein Recht, das in der Monarchie vom Herrscher, in der Aristokratie, der Meritokratie, der Oligarchie von durch die Kriterien der Herkunft, der Leistung, des Reichtums bevorzugten Gruppen, in der Demokratie jedoch vom Demos, vom gesamten Volk ausgeht. Somit ist der Demos, der sich der Macht des Staates beugt, in der Demokratie zugleich jener Demos, der die Macht des Staates bändigt – eine auf den ersten Blick höchst instabile Konstellation.

Tatsächlich hängt der Bestand des demokratischen Rechtsstaates nach einem berühmten Wort des Verfassungsrichters und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen ab, die er selbst nicht garantieren kann. Welche Voraussetzungen sind gemeint? Drei aus meiner Sicht wesentliche seien genannt: Wohlstand, Mündigkeit und Einwurzelung.

Demokratie und Wohlstand

Geschichtliche Erfahrung lehrt, dass allein in Gesellschaften, in denen die überwiegende Mehrzahl frei von der Gefährdung bitterer Armut lebt, ein demokratisches Staatswesen gedeihen kann. Dabei war der Wohlstand in den griechischen Stadtstaaten und im antiken Rom, verharmlosend formuliert, bloß geliehen: rechtlose und von demokratischen Verfahren ausgeschlossene Sklaven sorgten für ihn. Darum sind die antiken Staatsformen zwar im damaligen, nicht aber im heutigen Sinne Demokratien.

Erst mit dem Erwachen der Städte und des freien Unternehmertums in der Neuzeit, erst mit dem Entstehen eines Finanzwesens, das Investitionen und Gewinnverwertung erlaubt, erst mit den medizinischen, naturwissenschaftlichen und vor allem mit den technischen Errungenschaften, die in der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts gipfelten, wurden die Bedingungen geschaffen, die Wohlstand für alle ermöglichen.

Wohlstand und vor allem die Aussicht, diesen in Zukunft zu mehren, sind die Triebfedern der Leistungsbereitschaft. Arbeit wird nicht wie in der Sklavengesellschaft als Fron, sondern als hohes Gut empfunden, weil sie einem selbst und der Gesellschaft Fortschritt und erhöhten Wohlstand verheißt. Soziale Gesinnung allein ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Bürger zu schwach ausgeprägt, um das Bestehen eines Staates zu sichern, der allen das Streben nach Glück ermöglicht. Die gemeinsamen Interessen nach Mehrung des Wohlstands und die realistische Aussicht ihrer Verwirklichung bilden hingegen das solide Fundament dafür. Dementsprechend brächte ein gravierender Wohlstandsverlust dieses Fundament ins Wanken, sogar zum Einsturz.

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Diese Gefahr ist nicht leichtfertig von der Hand zu weisen. Die Ansprüche an den zum Sozialstaat mutierten Leviathan drohen diesen zu überfordern. Gute Sozialpolitik konzentriert sich auf zwei Aufgaben: Auch den Ärmeren ein angemessen gutes Leben zu sichern, wenn möglich, durch deren eigene Anstrengung oder, wenn dies unverschuldet ausgeschlossen ist, durch solidarische Maßnahmen. Und realistische Angebote eines Aufstiegs bereitzustellen. Tatsächlich aber geraten in der überbordenden Sozialpolitik eines vom Willen seiner Wähler abhängigen Staates die Umverteilungen aus den Fugen und es werden, nicht zuletzt dem Wählerfang zuliebe, Zuschüsse vergeben, die sich wirtschaftlich à la longue nicht rechtfertigen lassen und die Staatsfinanzen über jedes vernünftige Maß hinaus belasten.

Ein hoch verschuldeter Staat besitzt nur dann noch Überlebenskraft, wenn die Zukunftschancen seiner Wirtschaft intakt sind. Niemand kann garantieren, dass dies immer der Fall ist. Und sollte es nicht so sein, verlören die gemeinsamen Interessen nach Mehrung des Wohlstands ihren Halt. Eine wesentliche Bedingung für den Bestand der Demokratie bräche ein.

Demokratie und Mündigkeit

Demokratie, soll sie gedeihen, verlangt nach mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Der Leviathan des Thomas Hobbes brauchte sie noch nicht. Ihm genügte, dass sie Untertanen waren. Wenn aber in der Demokratie der Demos sich anschickt, den Leviathan zu zähmen, und zwar so, dass er seine auf Erden unüberbietbare Macht zum Wohle seiner Bürger ausübt, muss sich dieser Demos von seiner Untertanenrolle lösen und die Macht des Leviathan zu seinen Gunsten lenken. Dies kann er nur, wenn er aus der, wie Immanuel Kant sagte, „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ heraustritt, er „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ weiß.

Indizien deuten allerdings darauf hin, dass Kants Idee der Aufklärung in Vergessenheit gerät und in einer vom Wokeismus durchdrungenen, von sogenannten Social Media beherrschten und von stupiden Influencern gelenkten Welt der Rückzug in die wohlige Unmündigkeit wie eine Seuche um sich greift.

Die Scheu der sich in die Höhle ihrer Vorurteile verkriechenden Unmündigen vor der gleißenden Aufklärung zeigt sich am deutlichsten im Ersetzen des klaren Denkens durch gefühlsbetonte Wertungen nach seltsam puritanisch anmutenden Maßstäben. Aus der konstruktiven Auseinandersetzung in einem Wettstreit von Ideen und Interessen entstehen regelrechte Glaubenskämpfe. Nicht Argumente zählen, sondern das bloße Empfinden, auf der angeblich „guten“ Seite zu stehen. Die durch Folgerichtigkeit überzeugende Rede wird von der moralisierenden Aufrüttlung abgelöst.

Die Korrektheit, die Angemessenheit, die Billigkeit, die zu erreichen das Bestreben der öffentlichen Debatten sein sollten, werden aus den Augen verloren, weil der Blick allein auf die „Wahrheit“ gerichtet ist, in deren Alleinbesitz sich der Unmündige wähnt, weil sie in sein aus woken Vorurteilen gebasteltes Weltbild passt, dem er kritiklos verfallen ist. Auf diese Weise gerät Demokratie, je mehr sie in inbrünstig vorgetragenen Worten scheinbar verteidigt wird, in Todesgefahr.

Demokratie und Einwurzelung

Dieses eigenartige Wort ist die Übersetzung des französischen Enracinement, womit die eminente Philosophin Simone Weil eines ihrer bedeutendsten Bücher betitelte. Die Bürgerinnen und Bürger eines Staates bilden nur dann einen ihn gut leitenden Demos, wenn sie sich diesem Staate zugehörig und verpflichtet fühlen und wissen. Simone Weil würde sagen: in ihm eingewurzelt sind.

Auf welchem Boden, um beim Bild zu bleiben, fassen diese Wurzeln Fuß? Was ist mit anderen Worten die Basis für die Zugehörigkeit und Verpflichtung dem Staat gegenüber?

Im Zuge der großen Einwanderungswellen seit 2015 von Ländern, die der Islam prägt, nach Europa stellt sich diese Frage in voller Schärfe, und Bassam Tibi, der berühmte syrisch-deutsche Sozialwissenschaftler und Vertreter eines aufgeklärten Islam entwickelte die Idee, die Zugehörigkeit und Verpflichtung dem Staat gegenüber an der von ihm so genannten Leitkultur zu verorten. Besonders glücklich gewählt ist dieser Begriff nicht. Es wäre wohl besser, von der Lebensart zu sprechen, die dafür sorgt, dass sich die Bürger dem Staat zugehörig und verpflichtet fühlen. Gute Lebensart erlaubt Einwurzelung.

Es ist in meinen Augen die Lebensart des einfach klingenden, aber tiefen Wortes „Leben und leben lassen“, von dem Stefan Zweig in seiner Welt von gestern schrieb, es erschiene ihm humaner als alle kategorischen Imperative. Es ist nämlich die Lebensart, die auf Jerusalem, Athen, Rom wurzelt, die das Christentum vermittelte und die von der europäischen Aufklärung durchdrungen ist.

Sie wurzelt auf Rom, denn der römischen Antike verdanken wir das Rechts- und das Staatswesen, die Res publica. Sie wurzelt auf Athen, denn der griechischen Antike verdanken wir Kunst und Wissenschaft, die Philosophie. Sie wurzelt auf Jerusalem, denn dem Judentum verdanken wir die Idee der Ebenbildlichkeit eines jeden Menschen mit Gott: dass alle Menschen gleich geschaffen sind.

All dies sog das Christentum in sich auf und verbreitete es, teils veredelt, teils verfälscht, teils katholisch, teils reformiert, machtvoll in alle Winkel der Welt. Mit dem Verblassen dieser Macht begann der Austritt der Menschen aus ihrer zuvor gehegten Unmündigkeit: die Aufklärung mit einer Fülle geistiger, technischer, künstlerischer Errungenschaften brach sich Bahn.

Im Worte „Leben und leben lassen“ ist all dies gebündelt: Ich will leben, in der Fülle leben, sinnstiftend leben, gewissenhaft leben. Wenn möglich vorbildhaft, in jedem Fall aber unaufdringlich. Denn allen, denen ich begegne, billige ich vorbehaltlos den gleichen Willen zu. Diese Wechselseitigkeit ist das Um und Auf.
Gegenwärtig ist uns der Sinn dieses Wortes völlig entwichen.

Die Krise der geistigen Situation unserer geschichtsverlorenen Zeit ist, dass die Wurzeln unserer Heimat und Herkunft verdorren. Dann hängt das Wort „Leben und leben lassen“ in der Luft, verkommt zum banalen Spruch. Dann aber gibt es auch nicht mehr den breiten Konsens aller, von dem das Bestehen der Demokratie abhängt. Dann zerfällt die Gesellschaft in unversöhnliche, weil einander nicht mehr zuhören wollende Gruppierungen, die Interessen vertreten, die denen des Staatsganzen zuwiderlaufen. Dann ist Leviathan, der sich einer nicht mehr funktionierenden Demokratie ausgeliefert hat, von tödlichem Siechtum bedroht.

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Conclusio

Wohlstand. Das Streben der Menschheit, ihre Lebensumstände zu verbessern, verstärkt das Bedürfnis nach staatlicher Absicherung und sozialem Ausgleich. Geht Wohlstand verloren, werden Solidarität, Gemeinwohl und Rechtsstaat beeinträchtigt.
Mündigkeit. Der Vormarsch einer auf Empfindungen basierenden Moral schränkt das selbstständige Denken und die Kritikfähigkeit ein. Anstelle eines Wettstreits der besten Ideen treten Vorurteile und dekretierte „Wahrheiten“.
Einwurzelung. Die Zugehörigkeit zu einem Staat hängt stark mit der Identität und der Akzeptanz der jeweiligen Lebensart zusammen. Sie wurde durch die Zuwanderung aus islamisch geprägten Regionen infrage gestellt.

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