Was wir von der Natur lernen können

In 3,8 Milliarden Jahren hat die Evolution Lebensformen entwickelt, die perfekt an ihre Umwelt angepasst sind. Ingenieure versuchen, diese Vorarbeit zu nutzen, und übernehmen Ideen aus der Biologie für ressourcenschonende und umweltfreundliche Technologien.

Die Illustration zeigt einen Bioniker, der in einen Laptop tippt, während er auf eine Tafel mit Formel schaut. Eine Sonnenblume fungiert mit einem Zeigestock als Lehrer. Das Bild illustriert einen Artikel über Bionik.
Die Bionik versucht nicht, die Ideen von anderen Unternehmen zu klauen, sondern die genialen Einfälle der Natur zu nutzen. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Große Erfahrung. Seit 3,8 Milliarden produziert das Leben auf der Erde Lösungen für effiziente Energiegewinnung und rückstandslose Ressourcennutzung.
  • Beste Plagiate. Forscher versuchen, die besten Tricks der Natur nachzuahmen. Denn das Wissen der Natur ist „vielleicht größer als wir jemals denken können“.
  • Große Sprünge. Ernsthaft umgesetzt könnten bionische Lösungen zu einer neuen, nachhaltigen Wirtschaftsweise führen.
  • Mutige Idee. Prinzipiell ist es möglich, Pflanzen so zu programmieren, dass sie komplexe Produkte hervorbringen. Zum Beispiel Handys zum Pflücken.

Die Bionik nimmt im Bereich der Technik eine besondere Stellung ein. Sie ist im Prinzip eine Art Industriespionage. Aber keine Sorge, hier wird es nicht kriminell, im Gegenteil – denn die Bionik versucht nicht, die Ideen von anderen Unternehmen zu klauen, sondern die genialen Einfälle der Natur.

Das Prinzip ist recht einfach: Leben auf der Erde existiert schon seit 3,8 Milliarden Jahren. In dieser langen Zeit gab es immer wieder Probleme zu lösen, die unseren technischen Herausforderungen sehr ähnlich sind: Wie baue ich möglichst leicht und stabil, wie speichere ich Energie, wie kann ich meine Umwelt am besten wahrnehmen, wie verteidige ich mich effizient, wie schütze ich mich und die Familie, und wie schaffe ich das alles auf eine Weise, dass meine Kinder und Enkel einen Überlebensvorteil haben?

In diesem Sinne setzt sich die Bezeichnung Bionik aus den Worten Biologie und Technik zusammen. Das weist schon auf das Selbstverständnis dieses Zugangs hin und auch auf die Komplexität dieses Bereichs. Um der Natur ihre oft gut versteckten Lösungen zu entreißen, sollten Bioniker Generalisten sein; sie sollten die Biologie verstehen, die zugrunde liegenden Prinzipien abstrahieren und diese in die Technik übertragen können. Sie sind im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb, in dem vor allem Spezialisten gefördert werden, eine Ausnahme. Mich stört das nicht, denn ehrlich gesagt macht die Arbeit in der Natur und mit der belebten Natur einfach Freude.

Altes Wissen …

Bionik ist in der Lage, Menschen die Natur näherzubringen. Kinder lieben Beispiele von starken Spinnen und schillernden Schmetterlingen, und immer wieder erreichen Meldungen aus der Bionikforschung die globale Öffentlichkeit – mit Eigenschaften und Möglichkeiten, die wir uns nicht hätten träumen lassen.

So erschien erst im Vorjahr in der populärwissenschaftlichen deutschen Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft ein Artikel über Garnelen, die durch intelligente Strukturierung kleiner, regelmäßig auf ihrer Schale angeordneter Kügelchen die Quantenmechanik austricksen. Mit einer hauchdünnen Materialschicht zaubert diese Spezies ein strahlendes Weiß auf seine Hülle, das es nach den Regeln der klassischen Physik gar nicht geben dürfte.

Um Nutzen aus der Bionik zu ziehen, sollten wir aber auch wissen, wie man sie richtig einsetzt. Denn für die graduelle Verbesserung bekannter Technikansätze sind Haus-und-Hof-Bioniker wohl zu teuer. Anders sieht es aus, wenn völlig neue Lösungsansätze und Technologien gesucht werden. Dann zahlt es sich aus, weltweit einige vielversprechende Forscher auf diesem Gebiet zur Verfügung zu haben. Sie können auf uraltes, erprobtes Wissen zurückgreifen; Wissen, das größer ist, als wir Menschen es derzeit haben, vielleicht sogar größer, als wir jemals denken können. Alien Technology at our fingertips? Ja!

… für neue Lösungen

Es gibt verschiedenste Zugänge, zu definieren, was Leben überhaupt ist. Darüber mögen sich Experten streiten. Wichtig ist mir vor allem die wunderbare, bewundernswerte Eigenschaft des Lebens, sich selbst am Leben zu erhalten. Über Milliarden von Jahren. Im Gegensatz dazu wendet die Menschheit ihre komplexeren Lösungen erst seit einigen Zehntausenden von Jahren an. Dadurch wurde zwar viel Gutes geschaffen, auf der anderen Seite aber auch Raubbau betrieben, der angesichts von acht Milliarden Konsumenten nicht mehr nachhaltig sein kann.

Unsere Zivilisation braucht positive Technologien, die!der Biosphäre nicht schaden, sondern ihr im besten Fall sogar nutzen.

Der Überlebenskampf der Menschheit auf diesem kleinen Planeten mit seinem nur hauchdünnen Firnis von Leben schränkt die Möglichkeiten zukünftiger Generationen, ebenfalls ein gutes Leben zu führen, zunehmend ein.

Um nachhaltig erfolgreich zu sein, braucht unsere Zivilisation daher positive Technologien – also Prozesse, die der Biosphäre nicht schaden, sondern neutral sind oder ihr im besten Fall sogar nützen. Und hier kann die belebte Natur als massive Inspiration dienen.

Der bedeutende deutsche Bioniker Werner Nachtigall führt in seinem Buch Vorbild Natur – Bionik-Design für funktionelles Gestalten (Springer 1997) zehn Grundprinzipien natürlicher Systeme an, die eine Vorbildfunktion für die Technik wahrnehmen können. Das Buch ist schon im vergangenen Jahrtausend erschienen, hat von seiner Aktualität jedoch nichts eingebüßt.

Die zehn Grundprinzipien der Bionik:

  • integrierte statt additive Konstruktion
  • Optimierung des Ganzen statt Maximierung eines Einzelelements
  • Multifunktionalität statt Monofunktionalität
  • Feinabstimmung gegenüber der Umwelt
  • Energieeinsparung statt Energieverschwendung
  • direkte und indirekte Nutzung der Sonnenenergie
  • zeitliche Limitierung statt unnötiger Haltbarkeit
  • totale Rezyklierung statt Abfallanhäufung
  • Vernetzung statt Linearität
  • Entwicklung durch Versuch und Irrtum

Dies führt zu unserer Forschung an der TU Wien. Im Rahmen der Theorie und Anwendung der Bionik denken wir Biologie und Technik gemeinsam. Auf diese Weise können wir einen weiten Bogen spannen – von den theoretischen Grundlagen bis hin zur technischen Anwendung in der Praxis. So lässt sich die Wirksamkeit des bionischen Ideentransfers sehr gut zeigen.

Zu den inspirierenden Organismen unserer Arbeit zählen Zikaden, Schliafhansln, Rotkraut und Eichengallen: Kleinste Strukturen auf Zikadenflügeln gaben uns die Inspiration für die Entwicklung eines mechanischen Bakterizids, das auf Oberflächen auch gegen multiresistente Krankenhauskeime wirken soll. Schliafhansln (Hordeum murinum, eine Gerstenart) brachten uns auf die Idee, störende Autobahngeräusche und Vibrationen durch Energy Harvesting in nutzbare Energie zu konvertieren. Vom Rotkraut bekommen wir die ungiftigen, ja sogar essbaren Wachskristalle und machen daraus Beschichtungen, die als artenspezifische Insektenvertreibungsmittel Verwendung finden sollen. Und die Eichengallen, die derzeit im Fokus unserer Forschung stehen, könnten unseren Zugang zur Produktion von Gütern komplett revolutionieren.

Zeit für Veränderungen

Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang „Revolution“? Viele werden mir zustimmen, dass sich die globale Zivilisation in einem kritischen Zustand befindet. Der Abbau und die Verarbeitung von Rohstoffen belasten das globale Ökosystem seit Jahrhunderten über Gebühr. Zwar glauben manche, dass die Grenzen des Möglichen noch weit entfernt seien. Doch auch solche Optimisten müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft diese Grenzen früher oder später erreichen wird.

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Zahlen & Fakten

Es soll also etwas anders werden, und das am besten ohne einen Umweg über den Mangel, der die Geschichte der Menschheit seit Anbeginn begleitet hat. Wie lässt sich das bewerkstelligen?

Der bisher übliche Produktionsansatz sieht so aus, dass verschiedenste Metalle und ausgefallene chemische Grundsubstanzen aus allen Ecken und Enden der Welt auf langen Transportwegen zu uns kommen. Diese werden dann mühsam verarbeitet, um schließlich nur sehr selten rezykliert zu werden. Es ist Zeit für eine neue Wirtschaft.

Vorbild Gallwespe

Die meisten biologischen Materialien werden hierarchisch an verschiedensten Stellen verwendet, leicht chemisch und stark strukturell verändert, abhängig davon, wo sie zum Einsatz kommen. Womit wir bei den bereits erwähnten Pflanzengallen wären.

Haben Sie schon einmal eine kugelrunde Verformung auf einem Eichenblatt gesehen? Genau das ist eine sogenannte Pflanzengalle. Sie entsteht, wenn eine Gallwespe ein Ei auf ein Eichenblatt legt. Die sich entwickelnde Larve veranlasst nun durch chemische Signale das Blatt dazu, ein Haus für sie zu bauen. Es entsteht eine sichere und komfortable Unterkunft, die von der Eiche sogar mit einer nährstoffreichen Innenschicht ausgestattet wird und die es dem Insekt erlaubt, zu wachsen und die Galle schlussendlich durch ein kreisrundes Ausflugloch zu verlassen. Der Baum wird dabei kaum in Mitleidenschaft gezogen, denn die Galle wächst nur, solange die Larve chemische Signale aussendet.

Haben wir doch den Mut, uns vorzustellen, dass es in fernerer Zukunft Handys geben könnte, die auf Bäumen wachsen.

Im Zuge der eingehenden Beschäftigung mit den verschiedenen Arten von Pflanzengallen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass dieser Prozess noch viel weiter gehen könnte. Das Ziel soll sein, Geräte so herzustellen, dass sie aus lokalen Materialien wachsen.

Während dies bei einfachen Verpackungen leicht vorstellbar ist, sollten wir so kühn sein und einen Schritt weiterdenken. Haben wir doch den Mut, uns vorzustellen, dass es in fernerer Zukunft Handys geben könnte, die auf Bäumen wachsen! Die Nutzer würden sie einfach pflücken und später, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wegwerfen. Nach dem Gebrauch könnte das Pflanzenhandy als Dünger für andere Produkte dienen.

Natürlich birgt auch diese Herangehensweise ihre ganz eigenen Risiken, weswegen wir von Anfang an eng mit Experten der Technikfolgenabschätzung zusammenarbeiten.

Fazit

Unser ganz eigenes Schlaraffenland ist am Horizont sichtbar – mit umweltfreundlichen Produkten, die auf Bäumen wachsen. Wir müssen es nur wirklich wollen!

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Conclusio

Vor 3,8 Milliarden Jahren regte sich erstes Leben auf der Erde. Seit damals läuft ein evolutionärer Prozess von Veränderung und Auswahl, in dem sich jene Konstruktionsformen durchsetzen, die am besten an die lokalen Herausforderungen angepasst sind. Auf diese Weise hat die Natur Methoden der Problemlösung geschaffen, die heute von Ingenieuren als Vorbilder herangezogen werden. Sie entwickeln mit diesem Ansatz beispielsweise clevere Computerprogramme, vielseitige Drohnen und Anlagen zur effizienten Wasserstoffproduktion. Vorbildlich ist die Natur nicht nur bei einzelnen Konstruktionen, sondern auch in ihren Konstruktionsprinzipien: Sie arbeitet energieeffizient, nutzt ausschließlich lokale Ressourcen – und nach dem Ende eines Lebenszyklus wird alles rückstandsfrei rezykliert.