Deutschland: Naivität oder Größenwahn
Oberlehrertum für die ganze Welt, doch unfähig, die eigenen Probleme zu lösen – so skizziert der Publizist Henryk M. Broder seine Heimat in einer Zeit der Krisen.
Neulich in einem ICE von Berlin nach Augsburg. Der Zug hat ausnahmsweise keine Verspätung, das findet sogar der Zugchef dermaßen erstaunlich, dass er kurz vor der Einfahrt in Erfurt über die Sprechanlage bekannt gibt: „Wir werden pünktlich in Erfurt ankommen. Wir bitten dafür um Entschuldigung.“
Ich sitze am Fenster, lasse die Landschaften an mir vorbeiziehen und überlege, ob es in der deutschen Geschichte eine Gestalt gibt, die für Deutschland repräsentativ wäre, einen Protodeutschen, männlich, weiblich oder divers, der/die/das verkörpert, was Deutschland ausmacht – gestern, heute und vielleicht auch morgen.
„Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.“
Richard Wagner
Natürlich fällt mir als Erstes Adolf Hitler ein. Aber das ist nur ein unkontrollierter Reflex. Der Mann war, was gerne vergessen wird, kein Deutscher, sondern ein Österreicher. Von Hitler ist es nur ein Katzensprung zu Richard Wagner, in dessen Werk man etliche Elemente erkennt, aus denen sich die deutsche DNA zusammensetzt: das Dramatische, das Düstere, das Heroische, das Wehleidige und der Hang zum Scheitern. Aber Wagner hat auch einen genialen Satz von ewiger Gültigkeit hinterlassen: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.“
Und für diesen einen Satz verzeihe ich ihm alles, was er jemals komponiert und geschrieben hat, sogar die anti-semitische Hetzschrift „Das Judenthum und die Musik“, in der er unter anderem feststellt: „Hören wir einen Juden sprechen, so verletzt uns unbewusst aller Mangel rein menschlichen Ausdrucks in seiner Rede“ – und das ist noch eine der harmloseren Stellen.
Untaugliche Vorbilder
Wagner war ein lupenreiner Antisemit. Trotzdem – oder deswegen – will ich ihn nicht zu einem Protodeutschen erheben. Während der Zug fahrplanmäßig Erfurt verlässt, überlege ich, wer sonst noch in Frage käme.
Martin – „Hier stehe ich und kann nicht anders“ – Luther, der große Reformator? Leider war er auch ein großer Antisemit, der die Juden zuerst umwarb, damit sie seinen Glauben annehmen. Und als die Juden sich ihm verweigerten, da gab er seinen Glaubensbrüdern den „wohlgemeinten Rat“, dass man „ihre Synagogen oder Schulen anzünde, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und überschütte, sodass kein Mensch für alle Zeiten weder Stein noch Schlacke davon sehe …“ und auch die Häuser der Juden „abbrechen und zerstören (sollte), denn sie treiben darin genau das gleiche wie in ihren Synagogen“.
So überlegte ich hin und her, dachte zwischendurch auch an Heino – „Eigentlich war ich ja der erste Grüne, ich habe schon immer über Wiesen und Wälder gesungen …“ – und Ernst Jünger – „Wenn es gilt, in Masse über einen Einzelnen herzufallen, sind die Deutschen immer dabei; es muss nur ungefährlich sein …“ –, war aber von keinem meiner Einfälle wirklich angetan. Es war mir alles zu kleinteilig. Ich suchte nach dem Generalnenner, einem Begriff oder einer Metapher, der/die kurz, prägnant, inklusiv und selbsterklärend sein sollte.
Größenwahn und Komplexe
Wenige Minuten bevor der ICE – immer noch pünktlich – in Mannheim einlief, wusste ich plötzlich, wonach ich suchte. Es war ein Geistesblitz, dem keine elektrostatische Aufladung vorausging, einfach so, aus heiterem Himmel über Rheinland-Pfalz. Der Begriff oder die Metapher, nach dem/der ich suchte, war: Scheinriese!
Ja, Deutschland ist ein Scheinriese, wie Herr Tur Tur in der Kindergeschichte „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende. Je weiter man sich von ihm entfernt, umso größer erscheint er, und je näher man ihm kommt, umso kleiner wird er. Das macht einen Scheinriesen aus, er trotzt allen Regeln der Optik und der Physik.
Deutschland war schon immer ein Scheinriese, sogar als es sich noch „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ erstreckte, geplagt von der Angst, zu kurz zu kommen, übervorteilt zu werden, nicht das zu bekommen, was ihm zustand.
Am 6. Dezember 1897 hielt der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt des Deutschen Kaiserreiches, Bernhard von Bülow, im Reichstag eine Rede zur deutschen Kolonialpolitik, in der er u. a. diesen Satz sagte: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“
Deutschland als Oberlehrer
Der Platz an der Sonne lag damals in Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, in Togo und Kamerun, in Deutsch-Neuguinea und Tsingtau, einem Gebiet von der Größe des Bodensees an der chinesischen Ostküste, wo das Deutsche Reich einen Flottenstützpunkt für die Kaiserliche Marine in Ostasien bauen wollte. Das war nicht wenig, aber viel weniger, als England und Frankreich akquiriert hatten, und deswegen zu wenig für das Deutsche Kaiserreich und sein King-Size-Ego.
Das wirtschaftliche Erbe Angela Merkels
Die deutsche Kolonialzeit ist seit über 100 Jahren vorbei, der deutsche Kolonialgeist aber hat alle Krisen und Katastrophen überlebt und erweist sich als unbesiegbar.
Zwar muss sich niemand auf eine Reise nach Afrika oder Asien machen, um dort den Einheimischen Manieren und andere deutsche Tugenden beizubringen. Es genügt ein Platz in einer der Talkshows oder einem kommunalen Arbeitskreis über die mit der Zuwanderung verknüpften „Herausforderungen“ – das neue Ersatzwort für „Probleme“.
Der deutsche Kolonialgeist hat alle Krisen und Katastrophen überlebt und erweist sich als unbesiegbar.
Die Formel, mit der fast jeder Politiker, egal welcher Provenienz, eine Grundsatzrede anfängt, lautet „Gerade wir als Deutsche …“ Gemeint ist aber nicht „Gerade wir als Deutsche sind angesichts unserer Geschichte zu Demut und Dankbarkeit verpflichtet“, nein, es ist das Gegenteil: „Wir als Deutsche müssen darauf achten, dass andere Völker unsere Fehler nicht wiederholen. Wir wissen ja, wie so etwas endet.“
Es gibt noch Länder, deren moralische Standards nicht so weit entwickelt sind, wie das in der Bundesrepublik der Fall ist; die Botschaft richtet sich an die Anhänger von Kaczyński, Orbán, Marine Le Pen, Giorgia Meloni, die Schwedendemokraten, die Wahren Finnen und alle, die in Deutschland als „Rechtspopulisten“ gelten, die man eigentlich von der Teilnahme an Wahlen ausschließen müsste.
Moralinsaure Besserwisser
Das Problem wäre keines oder schlimmstenfalls ein marginales, wenn die deutschen Wähler das Recht hätten, an Wahlen in anderen Ländern teilzunehmen. Sie würden für ein EU-konformes Wahlergebnis sorgen und den Europäern die Angst vor einer „reaktionären Achse Polen-Ungarn-Italien“ nehmen – so beschrieb eine ARD-Reporterin die heraufziehende Gefahr, nachdem Giorgia Meloni vom italienischen Staatspräsidenten den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen hatte.
Wir als Deutsche müssen darauf achten, dass andere Völker unsere Fehler nicht wiederholen. Wir wissen ja, wie so was endet.
Es ist noch nicht lange her, da hat der deutsche Scheinriese, vertreten durch Angela Merkel, die Generalparole „Wir schaffen das!“ ausgegeben. Die Flüchtlingskrise, die Energiewende, die Digitalisierung der Verwaltung, die Umstellung vom Individual- auf den öffentlichen Personennahverkehr. Ganz oben auf der To-do-Liste der Regierung Merkel stand auch der „Kampf gegen die Armut“, nicht in den „Problembezirken“ von Bremen, Duisburg und Mannheim, sondern in den Ländern der Subsahara. Man wollte nicht mehr an den Symptomen herumwerkeln, sondern die Ursachen der Armut angehen. Den Menschen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, damit sie bleiben, wo sie sind, statt sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu machen.
Geld an die Falschen
Unfähig oder nicht willens, die sogenannten „Ortskräfte“, die für die Bundeswehr oder die deutsche Botschaft in Kabul gearbeitet hatten, aus Afghanistan auszufliegen, stellte die Bundesregierung „600 Millionen Euro zusätzlich für humanitäre Zwecke in Afghanistan zur Verfügung“, teilte das Auswärtige Amt nach der Heimkehr der Taliban mit. Man habe dafür gesorgt, „dass die Hilfe nur humanitären Zwecken dient und nicht den Taliban zugutekommt“, eine Garantie, die den ihr zugrunde liegenden Verdacht eher bestätigte als ausräumte.
Wer aber glaubt, man könnte 600 Millionen Euro in Afghanistan verteilen, ohne dass die Taliban die Lieferketten anzapfen, der wird auch nichts dabei finden, dass die Bundesregierung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, der Volksrepublik China, mit vielen Millionen jährlich unter die Arme greift. 2020 waren es 473 Millionen Euro.
Denn offiziell gilt China als „Entwicklungsland“, obwohl es Deutschland auf vielen Gebieten überholt hat, etwa beim Bau von Kernkraftwerken und Telekommunikationsanlagen.
Der deutsche Scheinriese macht sich gerne etwas vor. Kanzler Scholz zum Beispiel behauptete noch Mitte Dezember letzten Jahres bei einem EU-Gipfel in Brüssel, Bau und Betrieb der Erdgaspipeline Nord Stream 2 seien ein rein „privatwirtschaftliches Vorhaben“, in das sich die Politik nicht einmischen sollte, und hielt an dieser Ansicht fest, bis er am 28. Februar dieses Jahres, also vier Tage nach dem Start der russischen „Sonderoperation“, in einer Bundestagsrede die „Zeitenwende“ ausrief.
Zeitenwende überall? Nicht in Deutschland
Sieben Monate und zwei Wochen später überraschte der Kanzler die Teilnehmer eines „Maschinenbau-Gipfels“ in Berlin mit der Behauptung, er sei sich „immer sicher“ gewesen, dass Putin keine Hemmungen haben würde, die russischen Energielieferungen „als Waffe“ zu nutzen. „Das war, ich glaube, das kann man hier sagen, zu einer Zeit, als die allermeisten das nicht für wahrscheinlich gehalten haben, aber ich habe es für möglich gehalten.“ Leider hat er es versäumt, seine Vorahnung beizeiten mit anderen zu teilen. Und so dauerte es eine Weile, bis das rein privatwirtschaftliche Vorhaben sich als ein putineskes Erpressungsmanöver erwiesen hatte. Was für eine Überraschung!
Naive Musterschüler
Es gibt nichts, was die Kluft zwischen dem Sein und dem Schein im Wesen des Scheinriesen so überzeugend verkörpert wie der Anspruch, die Welt vor den Folgen eines „menschengemachten Klimawandels“ retten zu müssen. Jeder Einwand, der deutsche Anteil an der Weltbevölkerung liege bei einem Prozent und am globalen CO²-Ausstoß bei zwei Prozent – verglichen mit China, Indien oder Indonesien sei das praktisch nichts –, wird mit dem Argument zurückgewiesen, „wir Deutschen“ müssten ein Vorbild sein und mit gutem Beispiel vorangehen, schon wegen „unserer Geschichte“.
Der alles dominierende Klimarettungswahn erfüllt die gleiche Funktion wie die zwei großen staatstragenden Ideen, Nationalsozialismus und Kommunismus, die das Land buchstäblich ruiniert haben: Er sorgt für sozialen Zusammenhalt, gibt dem Leben jenseits von Konsum, Karaoke und Cuba Libre einen Sinn und der Jugend die Gelegenheit, sich zu bewähren. Was früher die freiwillige Meldung an die Ost- oder Westfront war, das ist heute die Teilnahme an einer Autobahnblockade im Kreise von Gleichgesinnten, die sich auf der Fahrbahn festkleben. Was früher die Meldung an die Ost- oder Westfront war, ist heute die Teilnahme an einer Autobahnblockade.
In einem Land, in dem die Benutzung der U-Bahn ohne Fahrschein als „Beförderungserschleichung“ den Täter ins Gefängnis bringen kann, wird diskutiert, ob die Ziele der „Letzten Generation“ die von ihr eingesetzten Mittel rechtfertigen, ob es moralisch geboten sein könnte, Tausende von Menschen als Geiseln zu nehmen, um die Öffentlichkeit „für den Klimawandel zu sensibilisieren“, wie die in solchen Fällen gern benutzte Hohlformel lautet. Die Ansicht, „wir alle“ müssten dem Klima zuliebe Opfer bringen und auf das Autofahren verzichten, gewinnt an Zustimmung; dass wir den Russen entgegenkommen sollten, damit sie uns wieder mit Gas beliefern, allerdings auch.
Dekadenz für Minderleister
Die jüngste Abgeordnete im Deutschen Bundestag ist eine 24 Jahre alte Grüne namens Emilia Fester. Bevor sie sich der Politik zuwandte, arbeitete sie als Regieassistentin an einem Hamburger Kinder- und Jugendtheater. Im Mai dieses Jahres gab sie dem „Spiegel“ ein Interview, in dem sie unter anderem sagte, sie müsse 80 Stunden in der Woche arbeiten und habe keine Zeit mehr für Hobbys. „Letztendlich opfere ich auch meine eigene Jugend für diesen Job auf.“
Was sie zu erwähnen vergaß, war der Lohn ihrer Leiden, eine „Abgeordnetenentschädigung“ von 10.000 Euro monatlich, eine steuerfreie monatliche Kostenpauschale von 4.400 Euro etwa für „Fahrten in Ausübung des Mandats, soweit sie nicht erstattet werden, und sonstige Kosten für andere mandatsbedingte Aufwendungen (Repräsentation, Einladungen, Wahlkreisbetreuung)“; dazu eine weitere Kostenpauschale von 12.000 Euro jährlich für die Ausstattung des Wahlkreisbüros mit Büromaterial, Laptops, Fachbüchern, Handys, Schreibgeräten und Briefpapier.
Von der Krise in die Katastrophe
Eine 24 Jahre junge Abgeordnete, deren Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bis jetzt eher dürftig war, die wie eine Hofdame rundum versorgt wird und darüber klagt, dass sie ihre Jugend für diesen Job opfert, müsste sofort in die Produktion geschickt oder wenigstens an eine Aldi-Kasse versetzt werden.
Dass dies nicht passiert, ist kein Beleg für Fortschritt, Liberalität oder Nachwuchspflege, es zeugt nur von einem Übergang aus der Krise in die Katastrophe. Das Peter-Prinzip, wonach in einer Hierarchie jeder Beschäftigte dazu neigt, „bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen“, gilt nicht nur für privatwirtschaftliche Unternehmen wie Wirecard oder Nord Stream, es regelt auch die Berufung an staatliche Außenposten wie die „Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung“ oder den „Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“, zwei Fantasy-Jobs wie aus einem Märchen für Erwachsene von Michael Ende.
Im Reich der Scheinriesen ist genug Platz für alle.