Der Staat sind wir!

Viermal pro Jahr stimmen die Schweizer über jede wichtige politische Frage ab. Das zwingt die Parteien zu permanenter Überzeugungsarbeit. Die direkte Demokratie ist nicht perfekt, aber von immenser Bedeutung für die politische Kultur.

Bürger von Appenzell Innerrhoden geben 2012 am Hauptplatz ihre Stimme per Handzeichen ab.
Direkter und offener geht Demokratie kaum: Bürger von Appenzell Innerrhoden geben alljährlich bei der Landsgemeinde am Hauptplatz ihre Stimme per Handzeichen ab. © Getty Images

Es schmeichelt Schweizerinnen und Schweizern immer sehr, wenn ihre Demokratie zum Vorbild erhoben wird. Tatsächlich ist der Leistungsausweis beeindruckend – von der Finanz- und Wirtschaftspolitik bis hin zum Umgang mit Minderheiten. Doch es wäre verfehlt, das politische System als ideal und über alle Zweifel erhaben darzustellen. So gelang es der Schweiz in über 30 Jahren nicht, ein solides Verhältnis zur EU zu schaffen. 

Das spricht nicht für ein fehlerfreies helvetisches System. Auch das Ringen um ein dem 21. Jahrhundert – und der im letzten Jahr ausgerufenen Zeitenwende – angemessenes Neutralitätsverständnis zeigt, dass grundsätzliche Diskussionen in einer direkten Demokratie nicht einfach zu führen sind. 

Dennoch – oder gerade deswegen – lohnt es sich, die Vorzüge der Schweizer Politik auszuleuchten. Zentrale Eigenheit sind die viermal jährlich stattfindenden Volksabstimmungen. Dabei ist beinahe unerheblich, wie viel Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung teilnehmen; das Ergebnis zählt, und es ist umzusetzen.

Direkte Demokratie bringt nicht immer die von der informierten Elite erwünschten Resultate.

Meiner Erfahrung nach bringt die direkte Demokratie nicht immer die von der informierten Elite erwünschten Resultate. Doch für die politische Kultur ist dieses System von größter Bedeutung. In der Schweiz müssen sich alle Parteien permanent um die Zustimmung der Bürger bemühen – und das macht den großen Unterschied. 

Politische Befindlichkeiten

Abstimmungen über Sachfragen – ob es um die Zulassung spezifischer Pestizide oder um die Änderung von Unternehmenssteuern geht – erfordern durchaus eine gewisse Sachkenntnis. Ebenso gewiss aber ist, dass nicht alle, die an Abstimmungen teilnehmen, ihre Entscheidung auf der Basis eingehender Recherche und Prüfung aller Für und Wider treffen.

Ein erheblicher Teil der politischen Meinungsbildung, das zeigt die Forschung hinlänglich, basiert auf „Prädispositionen“. Also festen Meinungen zu bestimmten Themen einerseits und der Erschließung spezifischer Fragestellungen über eigene Alltagserfahrungen. Eine große Rolle spielt außerdem die politische Psychologie – also die Tatsache, dass Menschen eher links oder rechts, progressiv oder konservativ, offen oder verschlossen, experimentierfreudig oder ängstlich sind. 

Die politischen Eliten sind gezwungen, ihre Überlegungen und Gründe für oder gegen bestimmte Vorhaben wiederholt und nachvollziehbar darzulegen. 

Damit sind Volksabstimmungen nicht bloß sauber begründbare Schlussfolgerungen aufgrund einer eingehenden Analyse der Sachlage, wie sie beispielsweise ein Expertengremium vornehmen könnte, sondern punktuelle, aber ziemlich zuverlässige Manifestationen der politischen Befindlichkeit und des Vertrauens in die politischen Behörden oder Parteien.

Dennoch können, auch das zeigt die Forschung, Informationen und Abstimmungskommunikation durchaus zu einer Neubeurteilung führen und eine ursprüngliche Stimmabsicht umkehren. Deshalb zwingt die direkte Demokratie – und darin liegt ihr spezifischer Wert – die politischen Eliten dazu, ihre Überlegungen und Gründe für oder gegen bestimmte Vorhaben wiederholt und nachvollziehbar darzulegen. 

Vor dem Volk bestehen

„Politics“, der Kampf um Vorlagen und Abstimmungsresultate, findet daher nie nur innerhalb der politischen Elite statt. Vielmehr befindet sich die helvetische Republik in einem politischen Dauerdiskurs. Zwar gilt in der Schweiz wie überall die Losung „Nach der Wahl ist vor der Wahl“, aber eben auch „Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung“. Jede Vorlage der Regierung muss im Parlament bestehen; darin unterscheidet sich die Schweiz nicht von parlamentarischen Demokratien.

Darüber hinaus aber muss jede parlamentarische Debatte auch vor dem Volk bestehen. Auch jede Gesetzesänderung kann von einer Partei oder einer spezifischen Interessenvertretung dem Volk zum Referendum vorgelegt werden. Dass eine Vorlage im Parlament mehrheitsfähig, sprich „referendumsfähig“ sein muss, gehört zu den Kernregeln der schweizerischen Demokratie. 

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Zahlen & Fakten

Zu Recht gibt es derzeit einen Diskurs darüber, in welchem Maße diese zwar bewährten, aber in die Jahre gekommenen institutionellen Einrichtungen noch zeitgemäß sind. Dazu gehört etwa die Frage, ob nicht angesichts des Bevölkerungswachstums und der technologischen Möglichkeiten die notwendige Zahl an Unterschriften für die Einreichung einer Volksinitiative und die Ergreifung eines Gesetzesreferendums erheblich nach oben korrigiert werden müsste. Letztmalig festgesetzt wurde diese Zahl 1977, sechs Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts. 

Bezüglich der Transparenz bei der Parteienfinanzierung will sich die Schweiz nicht so richtig bewegen. Und inwiefern noch von einem Milizparlament und dessen einzigartiger Nähe zur Bevölkerung gesprochen werden kann, ist ebenfalls fraglich. Schließlich gibt es immer mehr Mitglieder des Parlaments, die außerhalb der Vergütung für ihre politischen Mandate keinen Lohn auf dem Markt erwirtschaften. 

Nicht jede Stimme zählt

Eine ganze Reihe von Überlegungen widmet sich außerdem der Frage, wie man die Demokratie „elektronischer“ handhaben könnte – ein Thema, das angesichts von Fake News und der Manipulierbarkeit digitaler Plattformen aus guten Gründen nicht allzu hastig vorangetrieben wird. 

Schließlich gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, ob und auf welcher Ebene in der Schweiz wohnhaften Ausländerinnen und Ausländern ein Stimm- und Wahlrecht zugestanden werden soll. Letztlich drehen sich all diese Debatten um eine Frage: In welchem Maß vermag diese direkte Demokratie noch die gesamte Bevölkerung miteinzubeziehen oder eben nicht? Einfacher formuliert: Ist die direkte Demokratie noch das, was sie einmal war?

Kaum diskutiert wird jedoch, ob Elemente dessen, was im angrenzenden Ausland unter dem Titel „Bürgerbeteiligung“ initiiert wird, nicht auch der Schweiz gut anstünden. Mit Blick auf ein paar jüngere Entscheide wäre das anzudenken. Beispielsweise wird dem Bundesrat vorgeworfen, mit dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU einen wichtigen Volksentscheid verunmöglicht zu haben.

Tatsächlich gab es vor dem Scheitern dieses Abkommens ein jahrelanges Zu- oder vielmehr Abschieben der Zuständigkeiten zwischen Bundesrat und Parlament. Selbst das eigens für dieses Abkommen anberaumte, weil rechtlich nicht zwingende, breite Konsultationsverfahren gab am Ende nur den üblichen Akteuren die Gelegenheit, ihre bereits bekannte Position zur EU abermals öffentlichkeitswirksam darzulegen. Nur die Bevölkerung hatte keine Gelegenheit, sich zu äußern.

Die beste aller Welten?

Gerade weil nicht das übliche Vernehmlassungsverfahren – das frühzeitige Einholen der Positionen aller betroffenen Institutionen und Organisationen – gewählt, sondern eine neue Form des Abtastens erprobt wurde, wäre es sinnvoll gewesen, die Stimmberechtigten einzubeziehen. Beispielsweise hätte eine Gruppe von repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern im Sinne der deliberativen Demokratie – gut informiert und bestimmten Regeln folgend – einen Standpunkt erarbeiten können, der ebenfalls in die Konsultation eingeflossen wäre. Vielleicht hätte genau diese Stimme die gängigen Positionen auf wertvolle Weise ergänzt und die weiteren Debatten lösungsorientierter gestaltet.

Selbst wenn diese Überlegungen auf reiner Spekulation beruhen, ist das Konzept bedenkenswert – gerade für die Schweiz, die für sich in Anspruch nimmt, die beste Demokratie der Welt zu sein. Im Ausland gilt die Schweiz nicht immer als die beste aller Welten.

Volk oder Völkerrecht?

Besonders deutlich zeigt sich dies an den bangen Blicken, die sich nach bestimmten Volksentscheiden, meist zur Ausländerpolitik, auf die Schweiz richten. So waren etwa das Ja zum Minarettverbot im Jahr 2009 oder auch die Zustimmung zur Initiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ 2010 Verdikte, die von vielen als fremdenfeindlich angesehen wurden. 

Schüler auf der Straße in Lugano vor einem Plakat der Initiative für ein Verbot von Minaretten. Darauf zu sehen ist eine Illustration von der Schweiz bedeckt mit schwarzen Minaretten und einer Frauengestalt mit Burka und ein Schriftzug „Stop!“
Lugano 2019: Die Mehrheit der Schweizer stimmte für ein Verbot des Baus neuer Minarette. © Getty Images

Die Schlussfolgerung im Ausland daraus lautete: Man darf dem Volk nicht jedes Thema zur Abstimmung unterbreiten. Für gewisse Fragen ist es einfach zu ungebildet, zu kurzsichtig – um nicht zu sagen: zu dumm. Diese Einschätzung entbehrt nicht einer gewissen Ironie, schreibt sich doch die Demokratie auf die Fahne, dass „unter“ ihren Gesetzen nur Menschen leben, die diese selbst beschlossen haben. In der Tat wird es in der schweizerischen Demokratie immer dann brenzlig, wenn sich ein Volksentscheid mit international anerkanntem und von der Schweiz unterzeichnetem Recht beißt.

Die Erfahrung zeigt, dass auch dieses Problem zu bewältigen ist. Bisher wurde stets unter Einbeziehung der relevanten Akteure und mit entsprechenden Kompromissen ein Weg gefunden, dem Volksentscheid gerecht zu werden. Wenn dann immer noch nicht alle einverstanden sind, geht die Debatte eben in die Verlängerung. 

Unnachahmbares Vorbild

Die Schweiz als Vorbild für andere Länder? Das ist einfacher gesagt als getan. Nicht nur die Größe spielt eine Rolle. Jedes Land hat seine eigene Tradition. Einem ehemaligen K.-u.-k.-Reich wie Österreich die direkte Demokratie aufzudrücken oder dem Rechtsstaat Deutschland die Hoheit des Verfassungsgerichts zu entziehen, wäre etwa gleich schwierig, wie der Schweiz die direkte Demokratie zu nehmen. Insofern kann es in jedem Land nur darum gehen, kleine, notwendige Anpassungen vorzunehmen, welche die Demokratie stärken, ohne das gewachsene Gefüge aus den Angeln zu heben.

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Conclusio

In Deutschland oder Österreich kann eine Regierung nach der Wahl (fast) ein halbes Jahrzehnt ziemlich frei walten. Die direkte Demokratie in der Schweiz hingegen schränkt die Macht der Parteien ein. Sie müssen sich permanent um die Zustimmung der Bürger bemühen. Viermal im Jahr stimmen die Schweizer über diverse Maßnahmen von Steuererhöhungen bis Tierschutz ab. Angesichts des hohen und wachsenden Anteils an Ausländern ohne Stimmrecht stellt sich die Frage, wie repräsentativ das System noch ist. Eine Möglichkeit wäre, durch Bürgerbeteiligung zusätzliche Standpunkte vor dem Votum einfließen zu lassen. Die direkte Demokratie ist nicht auf andere Länder übertragbar, die Schweiz kann aber als Vorbild für kleine Anpassungen dienen.

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