Wie die Schweiz ihre Gletscher verliert

Innerhalb von nur zwanzig Jahren haben die Schweizer Gletscher ein Drittel ihrer Masse verloren. Für das Wasser der Schweiz ist das eine katastrophale Nachricht. Besteht noch Hoffnung für die Gletscher der Alpen?

Ansicht eines Schneefeldes auf einem Gletscher mit Blick auf eine Gebirgskette bei strahlend blauem Himmel.
Der Rhône-Gletscher in den Schweizer Alpen im Sommer 2021 auf rund 3.200 Meter Seehöhe. © Loris Compagno
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Auf den Punkt gebracht

  • Beschleunigung. Die Gletscher der Schweiz haben 2003, 2011, 2017 und 2022 besonders viel an Masse verloren und nicht wieder aufholen können.
  • Wasserkreislauf. Die Gletscher sind Wasserspeicher und unersetzlich für Landwirtschaft und Energieversorgung des gesamten Alpenraums.
  • Grenzen der Technik. Vliese und künstliche Beschneiung können den Schwund der Gletscher nicht aufhalten, auch wenn die Erhitzung jetzt stoppt.
  • Eine Chance noch. Da sich die Alpen stärker erwärmen, als das globale Mittel, muss die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur auf 1,5 Grad Celsius begrenzt bleiben.

Nach dem trockenen Winter 2021/22 und dem extrem warmen Sommer war es fast zu erwarten: die Gletscher haben gelitten wie noch nie. Im Jahr 2022 haben die Gletscher in der Schweiz rund drei Kubikkilometer Eis verloren – mehr als sechs Prozent des verbleibenden Volumens. Der Verlust würde ausreichen, um einhundert Fussballfelder mit einer 4,5 Kilometer dicken Eisschicht zu bedecken.

2022 ist ein Jahr der Extreme: Verglichen mit den bisherigen Rekordjahren 2003, 2011 und 2017, als die Schweizer Gletscher rund drei Prozent ihres Eisvolumens verloren, weist 2022 eine satte Verdoppelung des Eisverlustes aus!

Ansicht eines Gletschers im Nebel auf felsigem Grund in einem Gebirge.
Gletscher bei Gletsch in der Schweiz im Juli 2022. Das Wort Gletscher stammt vom schweizdeutschen Wort „glezer“ oder walisisch „glacer“. Im Tirolerischen sagt man „fern“, im bayerischen und österreichischen auch „kees“. © Getty Images

In bestimmten Regionen schmolzen sogar auf 3.000 Meter Seehöhe vier bis sechs Meter Eis. Solche Werte hat man seit Messbeginn 1914 noch nie gemessen. In diesen Höhen sollte die Schmelze entweder gering oder sogar abwesend sein, da das Eis fast das ganze Jahr über schneebedeckt bleiben sollte.

Hitze und Saharastaub

Die Gründe für die rekordhohen Eisverluste sind vielfältig: Der Sommer war von mehreren langen Hitzewellen und viel Sonnenschein geprägt. Zugleich war der Winter 2021/22 vielerorts extrem trocken und lieferte viel weniger Schnee als in einem typischen Winter. Schnee ist wie eine Decke, die den Gletscher vor warmen Temperaturen schützt. Wenn diese Decke dünn ist und schnell abschmilzt, ist das Gletschereis früher und entsprechend länger warmen Lufttemperaturen ausgesetzt.

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Zahlen & Fakten

Dazu kamen im letzten Spätwinter große Mengen an Saharastaub in die Alpen. Der orange Sand, der den Winterhimmel teilweise zum tagelangen Sonnenuntergang verkommen liess, verdunkelte die Schneeoberfläche. Statt das einfallende Sonnenlicht direkt zurück in das Weltall zu reflektieren, absorbierte der dunkle Sand die Wärme und beschleunigte so die Schmelze abermals.

Als Glaziologen hätten wir solche extremen Schmelzwerte nicht schon jetzt – bei 1,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau – erwartet, sondern eher in der Zukunft, wenn die globale Durchschnittstemperatur noch höher sein wird. Das Jahr 2022 zeigt uns wieder einmal deutlich, wie heimtückisch der Klimawandel ist.

Der Verlust beginnt früher als erwartet

Die Erwärmung ist weder konstant, noch ist sie für einzelne Jahre vorhersehbar, da sich gerade Extremereignisse häufen. Das heißt, dass es für viel längere Perioden als bisher bekannt äußerst warm und trocken sein kann. Extreme Jahre sind für Klimamodelle schwer vorherzusagen, und die Gletschermodelle – die auf den Klimamodellen basieren – neigen deshalb dazu, solche extremen Jahre zu unterschätzen.

Ein Geröllfeld mit einer winzig kleinen Eisfläche hoch oben auf einem Berg mit Blick in ein Tal.
Was bleibt, ist Geröll: Der Gletscher auf dem Watzmann in Deutschland ist 2022 verschwunden. © Getty Images

Aber nicht nur die Rekordjahre sind ein Problem für Gletscher, sondern vielmehr der generelle Trend. In den letzten zwanzig Jahren haben Schweizer Gletscher jedes einzelne Jahr an Eismasse verloren. Insgesamt ist in diesen zwanzig Jahren ein Drittel des Schweizer Gletschervolumens weggeschmolzen.

Wenn wir einen Blick über den Rand unseres Tellers werfen, zeigt sich die globale Situation nicht weniger dramatisch. Die globale Erwärmung macht vor Landesgrenzen nicht halt, und so schmelzen nicht nur Schweizer Gletscher immer schneller, sondern alle Gletscher der Welt erfahren dasselbe Schicksal. In den letzten zwanzig Jahren sind weltweit rund 5000 Kubikkilometer Gletschereis verloren gegangen, das bedeutet, wir haben innerhalb von nur zwanzig Jahren bereits 160.000 Fußballfelder, die mit einer 4,5 Kilometer dicken Eisschicht bedeckt sind, verloren.

Die globale Dimension

Simulationen zeigen, dass das Eisvolumen aller Gletscher der Welt (ohne Grönland und Antarktis) bis zum Ende des Jahrhunderts zwischen 18 und 36 Prozent abnehmen wird. Ob es 18 oder 36 Prozent sind, hängt davon ab, ob wir den Anstieg der globalen Erwärmung auf zwei Grad Celsius beschränken oder einen Temperaturanstieg um vier Grad Celsius akzeptieren. Die Temperaturspanne entspricht einem Anstieg des Meeresspiegels von 80 bis 160 mm.

Bei diesem Meeresspiegelanstieg wird es allerdings nicht bleiben, da die Schmelze des Grönland-Eises und der Antarktis noch hinzukommen ebenso wie die wärmebedingte Expansion des Wassers: Je mehr die Ozeane sich erwärmen, desto mehr dehnen sie sich aus. Das Schmelzen aller Gletscher der Erde würde den Meeresspiegel um rund 40 Zentimeter anheben; das Schmelzen des Grönlandeises würde sieben Meter beitragen, das Schmelzen des Antarktikeises rund sechzig Meter.

Wie aus diesen Szenarien hervorgeht, bestehen große Unterschiede zwischen einer globalen Erwärmung von plus zwei Grad Celsius und plus vier Grad Celsius. Welches das realistischere Szenario ist, hängt von unseren zukünftigen Treibhausgasemissionen ab: Um den globalen Temperaturanstieg auf plus zwei Grad Celsius zu limitieren, müssen die Treibhausgasemissionen vor 2050 halbiert und bis 2080 vollständig eingedämmt werden. Eine Erwärmung von plus vier Grad wird erwartet, falls wir die Klimakrise ignorieren.

Foto einer Moos- und Graslandschaft vor einem schneebedeckten Berg dazwischen das Meer. Das Foto wurde in der Antarktis aufgenommen.
Der Wanda-Gletscher auf der König George-Insel in der Antarktis im Januar 2020. Die Gletscher gehören mit dem Meereis, den Eisschilden und dem Festlandeis zur Kryossphäre der Erde und sind mögliche Kipppunkte des Klimasystems der Erde. © Getty Images

Wichtig zu betonen ist, dass diese Temperaturanstiege jene der globalen Durchschnittstemperatur beschreiben. Zum einen kann die lokale Temperaturerhöhung viel markanter sein, zum anderen werden extreme Hitzerekorde diese Anstiege um ein vielfaches übersteigen. In den Alpen muss man die globale Temperatur etwa mit einem Faktor von zwei multiplizieren, damit man die lokale Temperaturänderung bekommt. Das bedeutet, eine globale Klimaerwärmung um plus vier Grad Celsius entspricht etwa einer lokalen Erwärmung von rund plus acht Grad Celsius. Die Folgen für Gletscher, Ökologie und Landwirtschaft wären zweifelsohne gravierend.

Die Schweiz verliert ihre Wasserspeicher

Entsprechend sensibel reagieren auch die Schweizer Gletscher auf zukünftige Klimaszenarien. Eine Studie zeigt, dass auch kleine Variationen im globalen Klima sehr unterschiedliche Konsequenzen für die Schweizer Gletscher haben. Sollten wir die Erwärmung jetzt stoppen – also bei rund einem Grad globaler Erwärmung – würde bis Ende des Jahrhunderts trotzdem noch die Hälfte des Schweizer Gletschereises (Stand 2020) verschwinden. Bei einer Erwärmung von 1,5 Grad Celsius verschwänden etwa zwei Drittel des Eises, und bei zwei Grad Celsius etwa drei Viertel.

Gletscher sind natürliche Wasserspeicher, die dafür sorgen, dass das Wasser, das während des Winters als Schnee gefallen ist, über Jahre verteilt als Schmelze ins Tal gelangt. Die Folgen für den Wasserhaushalt der Schweiz sind je nach Temperaturerhöhung mehr oder weniger gravierend. Gletscher liefern insbesondere in heißen und trockenen Sommern Wasser für die tiefer gelegenen Täler Wasser, das insbesondere für die Landwirtschaft essentiell ist. Wenn die Gletscher in Zukunft kleiner sind oder komplett verschwinden, wird diese Wasserquelle entsprechend verringert.

Ansicht einer Berglandschaft in der Schweiz mit einem Gletscher im Hintergrund und einem Stausee mit großer Staumauer im Vordergrund.
Ein Versuch, das Wasser der Gletscher zu speichern: Stausee mit dem Oberaar-Gletscher im Hintergrund im Sommer 2022. © Getty Images

Der Abfluss von den Schweizer Gletschern im August wird bei einer globalen Erwärmung von einem Grad Celsius um 36 Prozent reduziert sein, bei 1,5 Grad Celsius um 44 Prozent und bei zwei Grad Celsius um 55 Prozent. Dies sollte insbesondere deswegen nachdenklich stimmen, da die zukünftigen Sommer noch wärmer und trockener sein werden als sie es heute schon sind. Diese Resultate zeigen auch, dass es sich lohnt, die globale Erwärmung auf das Minimum zu beschränken, obwohl alle drei Szenarien innerhalb der zwei Grad Grenze sind, die im Pariser Abkommen von 2015 festgelegt wurde.

Warum die Vliese für Gletscher keine Lösung sind

Um die Gletscher zu retten, werden immer wieder verschiedene lokale Maßnahmen diskutiert und manchmal auch umgesetzt. Können wir die Gletscher zum Beispiel einfach in Vlies einpacken?

Die weißen Vliese, die man vereinzelt in Skigebieten sieht, reflektieren die Sonnenstrahlung besser als das dreckige Eis. Auf diese Weise verringert sich die Schmelze. Diese lokalen Maßnahmen werden oft dort ergriffen, wo der Gletscher aus touristischen oder ökonomischen Gründe länger erhalten werden soll, da er zum Beispiel als Ski-Piste genutzt wird oder da er vielleicht eine künstliche Eisgrotte beherbergt, die Touristen anzieht.

Auf sehr kleinem Raum funktioniert diese Methode relativ gut: Es wurde gezeigt, dass das Eis unter dem Vlies etwa 60 Prozent weniger stark schmilzt als Eis ohne Vlies. Es wurde aber auch gezeigt, dass es praktisch unmöglich ist, diese Methode in großem Maßstab anzuwenden.

Erstens wären die Kosten exorbitant hoch. Zweitens sind die möglichen ökologischen Konsequenzen einer Zersetzung dieser Vliese in der Umwelt kaum bekannt, werden aber als negativ eingeschätzt, da diese Vliese Fasern verlieren, die durch Wind verfrachtet werden. Und zu guter Letzt ist ein Gletscher mit einem Vlies-Pulli – zumindest in den Augen der Autoren – kein richtiger Gletscher mehr und landschaftlich alles andere als attraktiv.

Graue Plastikplanen liegen auf einem blau schimmernden Eis auf einem felsigen Unergrund.
Gletscherabdeckung an der Zunge des Rhône-Gletschers zum Erhalt der künstlichen Eisgrotte, die eine Touristen-Attraktion ist. © Matthias Huss

Eine zweite lokale Maßnahme, die in der Schweiz diskutiert wird ist, dass man Teile eines Gletschers mit Kunstschnee beschneit. Dies ist ein Projekt, das eventuell auf dem Morteratschgletscher im Engadin umgesetzt werden soll. Auch diese Variante ist mit extremen Kostenaufwand verbunden, und rettet den Gletscher langfristig auch nicht.

Computersimulationen zeigen, dass eine künstliche Beschneiung des Gletschers nur ganz lokal das Eis schützen würde. Da die Beschneiung im unteren Teil des Gletschers – im sogenannten Zehrgebiet – stattfände, würde dadurch lediglich das Eis der Gletscherzunge vor dem Abschmelzen geschützt werden. Um einen Gletscher langfristig zu erhalten, müsste im Nährgebiet künstlich Schnee eingebracht werden. Dies ist auf Grund der Höhe und des Geländes aber logistisch unmöglich. Nach ein paar Jahrzehnten würde man also lediglich einen einsamen Klumpen Toteis in der Mitte eines Tals haben, der vom Rest des Gletschers abgelöst ist. Der aktive Gletscher würde sich einfach weiter in die Höhe zurückziehen.

Die einzige Lösung, die funktioniert

Die einzige funktionierende Lösung, um die Gletscher in der Schweiz und weltweit zu retten, ist unsere Treibhausgasemissionen rapide zu reduzieren und mittelfristig auszusetzen. Von dieser Lösung profitieren nicht nur Gletscher, sondern auch Ökosysteme und die Menschheit als Ganzes, da damit eine ganze Palette an negativen Konsequenzen eingedämmt werden kann: ein steigender Meeresspiegel, der Verlust von Vegetation und Lebensräumen, häufigere und stärkere Waldbrände, extremere Niederschläge und Tropenstürme, mehr Hitzetage, mehr Hitzenächte, Ausbreitung von Parasiten und ähnliche Folgen mehr.

Falls man rechtzeitig (also ab sofort) gezielt die richtige Maßnahmen ergreift um den Klimawandel zu stoppen, wird es auf einer etwas längeren Zeit-Skala sogar möglich sein, einen Teil des verlorenen Gletschereises wieder zurückzugewinnen. Es gibt Simulationen die zeigen, wie die Gletscher ab 2100 langsam wieder wachsen könnten, falls, und gewisse optimistische Klimaszenarien suggerieren dies, ab 2100 gar eine leichte Abkühlung einsetzt.

Zu betonen ist dabei allerdings, dass diese optimistischen Klimaszenarien auf der Annahme einer sofortigen Reduktion der Treibhausgase basieren und annehmen, dass es technologisch möglich sein wird, einen Teil der emittierten Treibhausgase aus der Atmosphäre zu entfernen. Von diesen Technologien sind wir heute aber noch sehr weit entfernt.

Foto eines Gletschersees in einer Gebirgslandschaft mit Wolken.
Der Stei-Gletscher in der Schweiz mit dem Stei-See 2015. © Getty Images

Was diese Szenarien aber zeigen, ist, dass wir unsere Gletscher noch nicht komplett verloren haben. Noch haben wir eine Wahl: Wir können heute noch entscheiden, was wir mit dem Klima und mit den Gletschern machen möchten.

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Conclusio

Die Gletscher der Schweiz haben in den letzten zwanzig Jahren ein Drittel ihres Volumens verloren. Mit zunehmender globaler Erhitzung beschleunigt sich der Schwund und kann nicht mehr kompensiert werden, da in den Sommermonaten zu viel Eis schmilzt. Der Wasserkreislauf gerät damit aus dem Gleichgewicht, da Gletscher zu den wichtigsten natürlichen Wasserspeichern gehören und als solche für die Landwirtschaft und die Energieversorgung der Schweiz essentiell sind. Um zu verhindern, dass die Gletscher ganz verschwinden, ist es notwendig, innerhalb des Limits einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad zu bleiben. Treibhausgasemissionen müssen umgehend deutlich reduziert werden.

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