Die Illusion vom humanen Krieg
Während Russland gegen die Ukraine einen brutalen Angriffskrieg führt, setzen die USA auf „humane“ Kriege. Doch selbst wenn internationale Regeln befolgt werden, bedeutet der Begriff letztlich nichts als eine Verharmlosung von Gewalt.
Auf den Punkt gebracht
- Pazifistische Vorkämpferin. Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner setzte Ende des 19. Jahrhunderts große Hoffnungen in die USA als Friedensbringer.
- Krieg statt Frieden. Die USA entschieden sich jedoch für einen anderen Weg: Sie stärkten das Bild eines Krieges, der sich an Regeln hält – und deshalb „human“ sei.
- Zeitalter der Drohnen. Ausgerechnet Friedensnobelpreisträger Barack Obama eskalierte den US-amerikanischen Drohnenkrieg als humane Kriegsführung.
- Ein Albtraum. Obamas Nachfolger Trump und Biden behalten diesen Kurs bei. Human ist an dieser Art der Kriegsführung nach wie vor nichts – im Gegenteil.
Bertha von Suttner starb im Sommer 1914; nur wenige Tage, bevor die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand den Ersten Weltkrieg auslöste. Anlässlich ihres Todes erinnerten die Redakteure von The Nation in New York City an Suttners Roman „Die Waffen nieder!“ (1889), den umwälzendsten Aufruf zum Frieden, den die Welt je gesehen hatte: „Kein anderer Friedensaufruf hat so viele Bekehrte gewonnen und einen so großen Einfluss auf alle Teile des Erdballs ausgeübt“, schrieben sie.
Das stimmte. Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Chinic und Tettau wurde 1843 in den böhmischen Adel hineingeboren und arbeitete als Sekretärin des Magnaten Alfred Nobel, bevor sie heiratete und ihren epochemachenden Roman schrieb. Anfang des 20. Jahrhunderts war sie eine Zeit lang die berühmteste Frau der Welt. Niemand weiß, was der Auslöser für ihr Engagement war. Sie erklärte später, dass es eher darum ging, das Richtige zur richtigen Zeit zu sagen: „Der Blitzschlag ist nur möglich, wenn die Luft mit Elektrizität geladen ist.“
Pazifismus versus Humanisierung
Was Suttner hasste, war die zu ihrer Zeit aufkommende Kampagne, die Unvermeidbarkeit des Krieges zu akzeptieren und ihn stattdessen menschlicher zu gestalten. Als Suttner erfuhr, dass Henry Dunant den ersten Friedensnobelpreis für das Jahr 1901 erhalten könnte, schritt sie zur Tat. Warum wurde der Gründer des Internationalen Roten Kreuzes überhaupt nur in Betracht gezogen? „In Nobels Testament steht keine einzige Silbe über ‚humanitäre‘ Dinge“, schrieb Suttner an ihren Freund Alfred Fried, einen Wiener Kollegen, der nach Deutschland gegangen war, um dort die wichtigste pazifistische Zeitung der damaligen Zeit zu leiten. (1905 erhielt sie den Friedensnobelpreis, Fried folgte ihr 1911.) Nach der Wahl Dunants versuchte Suttner, den Schaden zu begrenzen, indem sie Dunant als Friedensaktivisten darstellte und seine Beiträge zur Humanisierung des Krieges herunterspielte.
Suttner wäre sehr unglücklich darüber, wie der Frieden in unserer Zeit verschmäht wird und stattdessen eine Rhetorik der Humanisierung des Krieges bei Aktivisten und Publikum triumphiert. Und als Autorin von „Die Barbarisierung der Luft“ (1912) wäre sie noch unglücklicher darüber, dass der ehemalige US-Präsident Barack Obama diese Entwicklung durch bewaffnete Drohnen herbeigeführt hat. Ihre Vision der Vereinigten Staaten war die eines Friedensstifters gewesen.
Nein, Amerika ist nicht zurück
„Ich möchte einen Moment bei dem Thema Amerika verweilen“, sagte sie bei der Verleihung des Nobelpreises im April 1906 vor einer überfüllten Konzerthalle in Oslo. „Dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, neue und kühne Pläne von enormer Fantasie und Tragweite zu verwirklichen und dabei oft die einfachsten Methoden anzuwenden. Mit anderen Worten, es ist eine Nation, die idealistisch in ihren Konzepten und praktisch in ihrer Ausführung ist. Wir glauben, dass die moderne Friedensbewegung in Amerika alle Chancen hat, starke Unterstützung zu finden und eine klare Formel für die Umsetzung ihrer Ziele zu finden.“
Als Suttner 1912, ein Jahr vor ihrem Besuch in San Francisco, die Einführung des Frauenwahlrechts in Kalifornien feierte, wertete sie dies als ein weiteres Zeichen dafür, dass die Amerikaner „den Löwen des europäischen Militarismus und das blutende Lamm des Volkes zur Ruhe bringen“ würden.
Kämpfen um der Freiheit willen
Es stimmt, dass in den 1940er Jahren eine Pax Americana geschaffen wurde, die den Frieden in Europa sicherte, auch wenn er während des Kalten Krieges sehr brüchig war. Aber die Amerikaner übernahmen auch die europäische Tradition, um der Freiheit willen in der ganzen Welt brutal zu kämpfen, koste es, was es wolle. Und im späten 20. Jahrhundert, nachdem sie genauso brutal gekämpft hatten wie die europäischen Imperialisten, tat Amerika etwas Neues – es humanisierte den Krieg. Die schlimmsten Befürchtungen Suttners wurden wahr – dank der Entscheidung amerikanischer Politiker, den Frieden zu verschmähen und sich stattdessen für einen „humanen“ Krieg einzusetzen.
Zahlen & Fakten
Barack Obama war das Symbol für diesen Wandel. Obama nahm seinen eigenen Friedensnobelpreis Ende 2009 in Oslo entgegen, am Ende seines ereignisreichen ersten Jahres als Präsident. Obama hatte in den Augen der Welt enorm davon profitiert, dass er nicht George W. Bush war, der für einen brutalen Krieg sorgte, den die transatlantischen Eliten in den Jahrzehnten zuvor als jenseits der moralischen Grenze angesehen hatten. Obama erkannte die neuen Bedingungen für die Anwendung von Gewalt und verpflichtete sich, Menschlichkeit als Legitimationsquelle für eine erschreckende neue Version des endlosen Krieges zu akzeptieren, die er mehr als jeder andere erfunden hat.
Der Aufstieg des Drohnenimperiums unter Obama
Obama war in seinem märchenhaften Wahlkampf 2008 als eine Art Anti-Kriegs-Kandidat angetreten, und als sich herausstellte, dass er in diesem und anderen Bereichen ein knallharter Pragmatiker war, waren viele seiner Anhänger überrascht. Obama weitete den „Krieg gegen den Terror“ in einem ungeheuren Ausmaß aus und machte ihn gleichzeitig für ein einheimisches Publikum auf eine Weise tragfähig, wie es sein Vorgänger nie getan hat – zum Teil, weil Obama den politischen Nutzen einer Umgestaltung der amerikanischen Kriegsführung in eine „humane“ Richtung verstanden hat.
Zahlen & Fakten
Bereits in den ersten Monaten des Jahres 2009, nachdem Obama seinen Amtseid abgelegt hatte, vollzog sich die erste Metamorphose des amerikanischen Krieges in eine „humane“ Form. Während die schlimmsten Sünden der vorangegangenen Regierung geleugnet wurden, beanspruchten Obamas Anwälte die Befugnis, den Krieg räumlich und zeitlich unbegrenzt fortzusetzen, und entwarfen einen formalen Rechtsrahmen für gezielte Tötungen. Der Aufstieg des bewaffneten Drohnenimperiums unter Obama war lediglich das Symbol für die Ausweitung und den Ausbau des endlosen Krieges.
Die Prämisse seiner Nobelpreisvorlesung war, dass der Terrorismus, den er privat (laut Interviews) als langweiliges regulatorisches Dilemma bezeichnete, so neu und bedrohlich sei, dass er ein „neues Nachdenken über die Begriffe des gerechten Krieges und die Gebote eines gerechten Friedens“ erfordere. Ungeachtet der Illusionen, die manche bei Obamas Kandidatur gehegt hatten, kam für einen Präsidenten, zumindest der Vereinigten Staaten, eine Anti-Kriegs-Haltung im Amt nicht in Frage – bei allem Respekt vor der Ablehnung des Krieges durch seinen Friedensnobelpreisträger-Vorgänger, Martin Luther King, der 1964 mit der Botschaft gewann, dass Gewalt „kein soziales Problem löst, sondern nur neue und kompliziertere schafft“.
Die USA als Vorreiter in der Kriegsführung
Aber weder King noch Suttner vor ihm (die Obama nicht erwähnte) hatten eine große Nation geführt. Obamas Rede zum Nobelpreis war eine brillante Selbstverteidigung, nicht nur in Bezug auf die Ethik seiner eigenen Rolle, sondern auch auf die amerikanische Gewalt in einer Welt, in der, wie er betonte, zu viele naiv nach Frieden verlangen.
„In vielen Ländern“, sagte Obama, „gibt es heute eine tiefe Ambivalenz gegenüber militärischen Aktionen, egal aus welchem Grund. Dazu gesellt sich zuweilen ein reflexartiges Misstrauen gegenüber Amerika, der einzigen militärischen Supermacht der Welt.“
Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein Vorreiter in der Kriegsführung bleiben müssen.
Barack Obama
Wie die Redakteure der New York Times in ihrer Würdigung von Obamas Rhetorik betonten, „hat er die weit verbreitete Ambivalenz und Abneigung“ gegenüber dem Afghanistankrieg auch unter den Amerikanern direkt in Frage gestellt.
In seiner wortgewaltigen Begründung für den Einsatz amerikanischer Militärmacht in einem neuen Zeitalter bestand die rettende Gnade vielleicht darin, dass Obama auf humanistischen Zwängen bestand. Er zitierte Dunant als seinen verehrten Vorgänger und fügte hinzu: „Ich bin davon überzeugt, dass die Einhaltung von Standards, internationalen Standards, diejenigen stärkt, die dies tun, und diejenigen isoliert und schwächt, die dies nicht tun.“ Obama war sich sicher: „Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein Vorreiter in der Kriegsführung bleiben müssen.“
Die Barbarisierung des Himmels
Ohne Suttner zu erwähnen, hat Obama den Himmel barbarisiert, egal wie „human“ er die Bombardierung aus der Luft gestalten wollte. Allein in seinem ersten Jahr hat er mehr bewaffnete Drohnen eingesetzt als Bush während seiner gesamten Präsidentschaft. Am Ende von Obamas Amtszeit hatten Drohnen fast zehnmal mehr Anschläge verübt als unter seinem Vorgänger, mit vielen Tausenden von Toten. Die Luftwaffe bildete inzwischen mehr Drohnen- als Flugzeugpiloten aus, und die Drohnenaktivitäten waren vom Nahen Osten und Südasien tief in den afrikanischen Kontinent ausgedehnt worden.
Krieg kann man nicht können
Obama musste die schädlichen politischen Angriffe vermeiden, die sein Vorgänger wegen der Behandlung von Gefangenen in Abu Ghraib und Guantánamo sowie in den Black Sites (Anm.: geheime Gefängnisse der USA, die nicht auf deren Territorium liegen) der CIA erlitten hatte. Wenn niemand gefangen genommen wurde, konnte auch niemand misshandelt werden. Doch abgesehen von diesen Faktoren vertrat Obama das Ideal der Humanität in der Kriegsführung – nicht nur, weil es das Gesetz verlangt, sondern als ein moralisch legitimes und legitimierendes Unterfangen.
Die räumliche oder zeitliche Ausdehnung des „Krieges gegen den Terror“ durch gezielte Tötungen fand in der Öffentlichkeit zunächst wenig Beachtung. Die Welt hatte mit Entsetzen reagiert, als Bushs nationale Sicherheitsstrategie im Jahr 2002 unverblümt die Notwendigkeit einer präventiven Selbstverteidigung ohne unmittelbare Bedrohung behauptet hatte. In einem von Skeptikern als absurd empfundenen Widerspruch beriefen sich Obamas Anwälte nun auf die „verlängerte Unmittelbarkeit“ von Bedrohungen, die ihrer Meinung nach Gewalt rechtfertigten. Gezielte Tötungen waren nicht nur im Rahmen der Selbstverteidigung erlaubt, sondern Obama machte auch die Rechtmäßigkeit einer präventiven Tötung geltend.
Suttners Traum ist geplatzt
Auch Obamas einstiger Vizepräsident, der jetzige US-Präsident Joseph Biden, hat diese Einstellung bis heute nicht aufgegeben. Bei der Begründung seiner Entscheidung, 20 Jahre nach dem 11. September 2001 die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, versprach Biden, er werde Obamas sauberere, aber globale Form des Anti-Terror-Kriegs fortsetzen.
Es stellt sich heraus, dass Bertha von Suttner eine Prophetin war. Sie träumte vom amerikanischen Frieden, fürchtete aber auch eine Nutzbarmachung der Idee von „humanen Kriegen“. Sie bleibt unser Albtraum.
Conclusio
Zwei Friedensnobelpreisträger und ihre diametral unterschiedlichen Ansichten: Während Bertha von Suttner vom Pazifismus träumte, war US-Präsident Barack Obama davon überzeugt, dass die USA „ein Vorreiter in der Kriegsführung bleiben müssen“. Statt die USA zum Friedensstifter in der Welt zu machen, setzte er auf einen Ausbau der „humanen“ Kriegsführung: durch Präzisionsschläge und den regelkonformen Krieg gegen den Terror. Inzwischen ist klar, dass die Dunkelziffer ziviler Opfer von U.S.-Drohnenangriffen weitaus höher sind, als angegeben, und dass von „sauberen“ Kriegen keine Rede sein kann. Dennoch setzt Obamas einstiger Vizepräsident Joe Biden die eingeschlagene Linie fort. Für Bertha von Suttner wäre sie ein Albtraum gewesen.