Krieg kann man nicht können

So wie ein Soldat bald nicht mehr weiß, wer er ist, verlieren auch Gesellschaften im Krieg ihre Identität. Ein Essay über die Sinnlosigkeit des Krieges.

Die Mutter eines ukrainischen Offiziers weint während der Beerdigungszeremonie ihres Sohnes in Lwiw, März 2022
17. März 2022 in Lwiw: Eine Mutter weint um ihren Sohn, einen Offizier der ukrainischen Armee. © Getty Images

Wer kann Krieg? Wie geht Krieg? Auf diese Fragen fehlen uns derzeit die Antworten. Dabei haben wir gewichtige Literatur zur Verfügung, die Auskunft gibt. Angefangen bei Thukydides, der vor 2500 Jahren in seinem Werk Der Peloponnesische Krieg nicht nur beschreibt, wie Krieg geht, sondern vor allem nachdrücklich schildert, was er anrichtet.

Oder der 100 Jahre ältere Sunzi, ein chinesischer General und Philosoph, der in seinem Werk Die Kunst des Krieges klare Anleitung gibt, wie ein solcher zu führen sei, und zum Schluss kommt, dass jeder Krieg, soll er das Ziel, Herrschaft auszuüben, erreichen, immer ein totaler ist und dass deshalb der Entscheidung, ihn zu führen, gründliche, leidenschaftslose Überlegungen vorausgehen sollen. Der Krieg sei „der Weg zum Weiterbestehen oder zum Untergang“.

In der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebte Carl von Clausewitz, der erste moderne Kriegstheoretiker. Er war preußischer Generalmajor und schrieb das Standardwerk Vom Kriege, in dem er die ebenso einfache wie bemerkenswerte Definition vorlegt: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“

Bemerkenswert ist diese Definition, weil sie impliziert, dass sowohl die Politik immer den Krieg als auch der Krieg immer die Politik als Option enthält. Das heißt, dass die Politik immer darauf achten muss, ab wann ihr kriegerischer Anteil zu groß und damit gefährlich wird; aber auch – und das ist die gute Nachricht –, dass der Krieg immer zur Politik zurückkehren kann, was mit Hilfe der Diplomatie ja nicht selten geschieht.

Als Pazifist erzogen

Ich bin von meiner Mutter als Pazifist erzogen worden. Meine Mutter hat weder den Thukydides gelesen noch den Sunzi und auch nicht den Clausewitz. Aber sie hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie stammte aus Franken, sie war durch das gespenstisch verwüstete Nürnberg geirrt, gemeinsam mit ihrer Freundin, auf der Suche nach deren Familie. Sie sagte zu mir: „Ich habe einen Sohn nicht geboren, damit er erschossen wird oder jemanden erschießt.“ Zusammen mit ihrem Glauben an einen guten Gott war dies das Fundament ihrer Lebensphilosophie.

Spanischer Bürgerkrieg: Flüchtende an der spanisch-französischen Grenze.
1939: Vor dem Spanischen Bürgerkrieg Flüchtende in Perthus an der spanisch-französischen Grenze. © Getty Images

Als ich gemustert wurde, das war eine Zeit in Österreich, als es für einen jungen Mann noch nicht möglich war, den Ersatzdienst zu leisten. Also habe ich den Militärdienst verweigert – aus Gewissensgründen. Das ging nur nach einer eingehenden Prüfung. Ich sollte definieren, was Gewissen heißt, und sollte beweisen, dass ich eines habe. Zwischen der Liebe zum Vaterland und der Liebe zu meiner Mutter habe ich mich für meine Mutter entschieden. Das ist mir leicht gefallen.

Auch deshalb, weil in meinem Kopf Krieg nicht vorhanden war. Nicht in der unmittelbaren Nähe. In Vietnam, ja. Aber Vietnam war weit. Auf der Straße in Sprechchören für die Freiheit der Vietnamesen zu „kämpfen“ war lässig und leicht. Hinterher ging man ins Beisel und hat mit ernster Miene ein Bier getrunken und schwarzen Tabak geraucht. Und zu Hause habe ich mich in die Badewanne gelegt.

Krieg, der die Seele bedroht

Als Russland die Ukraine überfiel, lief ich an den ersten Tagen herum und hatte ein schlechtes Gewissen und wusste nicht warum. Als hätte ich bisher falsch gelebt. Habe ich aber nicht. Und wenn, wen geht es etwas an? Dann wusste ich auf einmal, woher das schlechte Gewissen rührte. Daher, dass ich mein ganzes Leben lang immer als Individuum gefühlt hatte.

Wenn, dann kann man lernen, was alles nicht Krieg ist, nämlich: Vernunft, Ausdauer, Kompromiss.

Natürlich war ich immer wieder zornig gewesen über die Politik und die Wirtschaft und die Kultur und so weiter. Aber eine seelische Wunde, das Gefühl verlassen worden zu sein, das Gefühl gekränkt worden zu sein, beleidigt worden zu sein, nicht mehr geliebt zu werden diese Gefühle hatte ich nur als individuelle Empfindungen erlebt. Ich habe an keinem gemeinschaftlichen Gefühl teilgenommen. Die Empfindung, dass meine Seele bedroht wird – wer hätte meine Seele bedrohen können? Der da und der da und vielleicht noch die da. Einzelne Menschen. Aber nicht ein Weltgeschehen.

Nun ist in unserer Nähe ein Krieg begonnen worden. Er tut mir nicht weh. Noch nicht. Aber er steht vor mir, nahe. Er bedroht – oder nein, er könnte meine Seele bedrohen. Und nun habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ein Leben gelebt habe, in dem meine innigsten Gefühle Individuen galten und nur Individuen, dem da und dem da und der da. An einer Stelle seines Buches schreibt Thukydides, der Soldat weiß bald nicht mehr, wer er ist. Das Individuum wird weich und droht zu versickern.

Krieg bedeutet Flucht

Meine Großmutter hat zwei Weltkriege miterlebt. Während meiner Kindheit und Jugend wohnte sie bei uns, sechzehn Jahre lang. Sie weigerte sich, ihre Wäsche und ihre kleinen Dinge in einem Kasten abzulegen. Alles war in ihren zwei Koffern, einem kleinen und einem großen. Dort lag, fein zusammengefaltet, ihre Wäsche, eine Mappe mit ihren Dokumenten war im kleinen Koffer, ein Flachmann mit Kognak, eine Tafel Schokolade, ein Toilettenbeutel, in einem Etui ihre vergoldete Brosche, Scheine in drei verschiedenen Währungen, Schilling, D-Mark, Dollar. Sie war bereit, jederzeit aufzubrechen. Wohin auch immer. Als Kind dachte ich: Wenn du gehst, nimm mich mit! Aber ich dachte nicht an Flucht und Vertreibung, ich dachte an Abenteuer.

Flucht vor dem Krieg: Ein Junge in einem Zug in der Ukraine.
Frühjahr 2022: Flucht vor dem Krieg in der Ukraine. © Getty Images

Ich kann nicht Krieg. Ich lerne ihn auch nicht mehr. Wer sollte mein Lehrer sein? Ich habe den Thukydides gelesen – in ihm den sogenannten „Melier-Dialog“, ein einmaliges, bezwingendes Zeugnis brutalster Macht, wie die Athener die Insel Melos besetzen –, ich habe immer wieder die Aphorismen des Sunzi studiert, die uns in ihrer Eiseskälte wachrütteln, ich habe im Clausewitz gelesen, diesem Buch voller Hoffnung und Optimismus, das der Kunst der Waffenführung die Kunst der Rhetorik entgegenhält – Krieg gelernt habe ich aus allen drei Büchern nicht.

Wenn, dann kann man lernen, was alles nicht Krieg ist, nämlich: Vernunft, Ausdauer, Kompromiss, die Kunst, dem anderen nicht das Gesicht zu nehmen, die Kunst, den anderen wissen zu lassen, dass auch wir bluten, wenn man uns sticht, dass auch wir lachen, wenn man uns kitzelt, und dass auch wir sterben, wenn man uns tötet.

„Ich habe meinen Sohn nicht zur Welt gebracht, damit er erschossen wird oder einen anderen erschießt.“ – Keinen hunderttausend Worten wäre es gelungen, meine Mutter von dieser schönen Philosophie abzubringen.