Wenn Solidarität zum Zwang wird

Der Staat schränkte während der Pandemie viele Freiheiten der Bürger ein. Mit den Verordnungen bis hin zu einer Impfpflicht ging ein Appell zu Solidarität einher. Dieser Widerspruch von Zwang und Freiwilligkeit spaltete die Gesellschaft.*

Ein Aktivist zeigt eine riesige Spritzenattrappe mit der Aufschrift "Solidarität" während einer Demonstration vor dem Wirtschaftsministerium in Berlin, im März 2021. Der Aufruf gilt der Patentfreigabe auf Impfstoffe damit sie in der Dritten Welt leichter hergestellt werden können.
Solidarität war während der Pandemie eine häufige Aufforderung, gerichtet an unterschiedliche Adressaten: hier zeigt ein Aktivist eine riesige Spritzenattrappe vor dem Wirtschaftsministerium in Berlin, im März 2021. Der Aufruf gilt der Patentfreigabe auf Impfstoffe, damit sie in der Dritten Welt leichter hergestellt werden können. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Eingriff. Des Staat griff während der Pandemie im Namen der Gesundheitspolitik ohne Zeit zu Reflektieren ins Leben der Bürger ein.
  • Ablasshandel. Wenn der Begriff „Solidarität“ mit einer Impfpflicht einhergeht, wird er missbräuchlich verwendet.
  • Sinneswandel. Wir sollten mit dem Begriff der Solidarität viel sorgsamer umgehen: sie sollte auf gegenseitiger Anerkennung beruhen.
  • Vorsicht. Politik kann Zwangsmaßnahmen im Mantel des moralisch Richtigen präsentieren – dies gilt es immer genau zu hinterfragen.

Impfen ist ein „Akt der Solidarität“, war eines der Schlagworte, die von der Österreichischen Regierung im Verlauf der Pandemie geprägt wurden. In der Folge wurden neben den diversen Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungen, wie etwa die Verpflichtung zum Maskentragen, diverse Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ein Verbot zum Besuch in Spitälern und Altersheimen bis zu einem totalen Lockdown sogar ein Gesetz zur Impfpflicht eingeführt.

Damit wurde sowohl politischer als auch moralischer Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, denn wer möchte nicht solidarisch sein, sich der Gemeinschaft gegenüber anständig verhalten, anderen Gutes tun, Hilfe anbieten und Bedürftige unterstützen. Dass damit Freiheitsbeschränkungen einhergingen, ließ auf eine Art Ablasshandel schließen, mit dem sich innerhalb dieser Beschränkungen gewisse Freiheiten als Privilegien ergattern ließen.

Solidarität falsch verstanden

Dieser staatlich verordnete Appell zur Solidarität folgt freilich einer verkürzten, wenn nicht sogar missbräuchlichen Verwendung dieses Begriffes. Denn er bezieht sich auf jene Form der Solidarität, die sich innerhalb einer Gruppe im Verfolgen ihrer Interessen erschöpft.

Wird Solidarität verordnet, ist sie im ethischen Sinn keine Solidarität mehr, sondern Zwang.

Wenn man die ethische Dimension von Solidarität in den Fokus rückt, die auch die Bereitschaft einschließt, auf eigene Vorteile zugunsten anderer zu verzichten, ist Solidarität der Ausdruck einer inneren Haltung, die vom Individuum geistig durchdrungen und freiwillig als Selbstverpflichtung angenommen werden muss, nicht aber von außen verordnet werden kann. Wird Solidarität verordnet, ist sie im ethischen Sinn keine Solidarität mehr, sondern Zwang. Dieser aber führt zu genau jener Spaltung der Gesellschaft, zu Abgrenzung und Ausgrenzung, die ursprünglich vermieden werden sollte und dem Begriff Solidarität im weiteren Sinn zuwider läuft. Moralisch betrachtet darf Solidarität nicht gegen die persönliche Freiheit des Einzelnen ausgespielt werden.

Kampfbegriff mit Tradition

Solidarität als Kampfbegriff einer Gruppe hat politische Tradition, besonders in den Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen. Dies findet seine Berechtigung, wenn die Anerkennung der Bedürfnisse des Anderen auf ökonomischer Basis verweigert wird. Dies zeigt sich auch in der Transformation des Solidaritätsbegriffes vom rechtlichen Bereich (obligatio in solidum), was die Gegenseitigkeit der Haftung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft betrifft, hin zum politischen.

Während der Französischen Revolution wird in der Deklaration der Menschenrechte 1793  erstmals die Forderung eines Bürgerrechtes auf staatliche Unterstützung erhoben, auf „öffentliche Unterstützung der unglücklichen Mitglieder der Gesellschaft“ als „heilige Pflicht“. Neben den politischen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit wird auch Brüderlichkeit (eigentlich Geschwisterlichkeit) verlangt, womit die moralische Dimension in einem nicht religiösen Sinn zusätzlich gestärkt wird.

Die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts ruft ihrerseits Sozialgesetzgebungen hervor, die durch den späteren Wohlfahrtsstaat erweitert werden. Allerdings ist diese Entwicklung nicht in erster Linie von moralischen Beweggründen getragen, sondern dient vor allem dazu, soziale Unruhen zu vermeiden und die wirtschaftliche Produktivität nicht zu gefährden. Waren es bis zur Französischen Revolution die herrschenden Schichten, die Akkumulation von Macht betrieben, ist durch die fortschreitende Kapitalisierung nun auch das Bürgertum in die Lage versetzt, Macht zu generieren.

Ethisches Spannungsfeld

Die nach wie vor offene Debatte über die Vor- und Nachteile des Sozialstaates gründet in einer fundamentalen Spannung zwischen einer politisch-liberalen Kultur und einem sozial orientierten Kommunitarismus, die sich beide entscheidend auf ökonomische Gegebenheiten beziehen. Die inzwischen global gewordene freie Marktwirtschaft wird in dieser Diskussion jeweils verschieden bewertet.

Eine Überbetonung des Gemeinwohls ist ebenso gefährlich wie eine Überbetonung des Individualismus.

Vereinfacht dargestellt, geht die liberale Auffassung von der Überzeugung aus, dass die Förderung des individuellen Wohles zugleich auch eine indirekte des Gemeinwohles nach sich ziehe, während die kommunitaristische Position bei der Förderung des Gemeinwohles ansetzt, welche das individuelle Wohl indirekt mit befördere. Beide Ansätze beinhalten also eine Wechselwirkung zwischen dem Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft. In jedem Fall ist sowohl eine Überbetonung des Gemeinwohls ebenso gefährlich wie eine Überbetonung des Individualismus.

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Zahlen & Fakten

Solidarität im ethischen Sinn kann vielleicht nur in kleinen Schritten praktisch vollzogen werden. Hier könnte die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Soziologen Ferdinand Tönnies postulierte Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft hilfreich sein. Gemeinschaft ist für Tönnies ein lebendiger Organismus und gründet in einem dauerhaften Zusammenleben in kleinen, familienähnlichen Gruppierungen, während Gesellschaft einem mechanischen Aggregat von Individuen gleichzusetzen sei.

Eingriff ins Leben

Der aus der christlichen Soziallehre stammende Begriff der Person meint keineswegs einen schrankenlosen, atomisierten Individualismus, sondern impliziert Selbstsein und Selbstverantwortung aus der Beziehung zum Anderen. In Berufung auf Schöpfung und Gleichheit aller Menschen vor Gott wird hier eine Solidarität gefordert, die zumindest im Unterschied zu Nächstenliebe und Wohltätigkeit einen normativen Charakter aufweist.

Eine Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl bedeutet nicht das Aufgehen in einem anonymisierten Gesellschaftsbegriff, den schon die Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts negativ bewertet hat. Von Gustave Le Bon über Gabriel de Tarde bis zu Sigmund Freud wurde auf die Gefahr der Entindividualisierung und Verarmung des Ich hingewiesen, wie dies später auch Elias Canetti und Hermann Broch in ihren Werken beschrieben haben.

Ein Bildschirm zeigt eine Gesichtserkennungstechnologie auf der einer Messe in Shanghai 2019. Geometrische Linien ziehen sich über das Gesicht einer Testperson, die vor einer Kamera steht.
Ein Bildschirm zeigt eine Gesichtserkennungstechnologie auf der einer Messe in Shanghai 2019. China überwacht seine Bürger mit landesweiten Kameras, deren Aufnahmen mit einer Datenbank von Gesichtern abgeglichen werden. © Getty Images

Geschwisterlichkeit leben

Heute wird die weitgehende Anonymisierung noch durch technologische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte verschärft, denn die Digitalisierung führte letztlich zu einem Verlust der realen Beziehungen zu Personen und Dingen. Folglich droht sie das Individuum auf eine Datenanhäufung und zu einem Sklaven von Algorithmen zu reduzieren. Gekoppelt mit staatlicher Macht, die immer mehr eine Art von Bio- und Körperpolitik betreibt und in einem nie gekannten Ausmaß durch biometrische Verfahren eine totale Kontrolle unseres Seins anstrebt, wird unser Körper immer mehr zu einem behandelbaren Objekt der Politik, er wird entsubjektiviert und kommerzialisiert.

Das Eingreifen des Staates vornehmlich in die Gesundheitspolitik ist zum Eingriff in das Leben selbst geworden. Die staatliche Macht ist, worauf schon Michel Foucault und Giorgio Agamben hingewiesen haben, zu einer regulativen, von Überwachen und Strafen geprägten, nahezu totalitär agierenden Institution geworden.

Solidarität bedarf ebenso der gegenseitigen Anerkennung wie einer Absage an Akkumulation zugunsten von Distribution. Wenn Solidarität aber exklusiv bleibt, also nur für bestimmte Gruppen oder Gesellschaften gilt, missbraucht man den Gedanken der Solidarität auch dahingehend, sich die Möglichkeit zu Akkumulation (von Macht, Geld, Produktionsmitteln, Natur) auf Kosten anderer offen zu halten. Dann ist es egal, ob man vom Individuum oder von der Gemeinschaft ausgeht. Einzig zielführend scheint zu sein, mit der Geschwisterlichkeit endlich Ernst zu machen und die wechselseitige Anerkennung in den Vordergrund zu rücken, indem man Akkumulation durch Distribution ersetzt. Als globales Anliegen bezieht letztere nicht nur bestimmte Gemeinschaften mit ein, sondern erstreckt sich auf alle Gesellschaften.

Planetare Solidarität

Ethisch betrachtet muss eine solche Anerkennung die gesamte sogenannte belebte und unbelebte Natur mit umfassen. Auch unser Planet als lebendige, sich entwickelnde Entität hat einen impliziten Anspruch auf Anerkennung. Wenn wir die Erde so verstehen, dass ihr aus ihrer Existenz ein ihr innewohnendes Eigenrecht erwächst, müssen wir vor allem unser wirtschaftliches Handeln und unseren Lebensstil dringend überdenken. Zumindest diese Tatsache lässt sich angesichts der Klimakatastrophe nicht mehr wegleugnen.

Wir sollten lernen, mit dem Begriff der Solidarität sorgsamer umzugehen, und vor allem vor den Neigungen der konzernhörigen Politik auf der Hut sein, Zwang mit der Redlichkeit des moralisch Richtigen zu bemänteln.

*Dieser Beitrag wurde gemeinsam mit der Philosophin Eva Horvatic verfasst.

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Conclusio

Während der Pandemie schränkte die Regierung viele Freiheiten im Namen der Gesundheit ein. Gleichzeitig wurde die Einhaltung der verordneten Maßnahmen mit einem Appell an Solidarität verknüpft. Jedoch erfordert Solidarität freiwillige Selbstverpflichtung, verordnete Solidarität gleicht einem Zwang. Mit der Impfpflicht griff die Regierung sogar ins Körperlicher der Bürger ein. Der Staat betreibt immer mehr eine Art von Bio- und Körperpolitik, unterstützt durch neue Technologien. In autoritären Staaten wie China ist die digitale Massenüberwachung längst Realität. Solche Entwicklungen erfordern Wachsamkeit der Bürger und eine kritische Einstellung, wenn moralische Begrünungen für Zwangsmaßnahmen herhalten.

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