Impfpflicht oder freie Entscheidung?

Eine Impfpflicht bedeutet nicht, dass Menschen zwangsweise geimpft werden. Aber für Menschen in Gesundheitsberufen sollte eine Covid-19-Impfung Berufsvoraussetzung sein.

Illustration: Ein Mann läuft vor einer Spritze davon
Kommt die Impfpflicht? © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Erfolgsgeschichte. Durch Impfungen konnten einige der größten Bedrohungen der Menschheit eingedämmt oder sogar ausgerottet werden. Zum Beispiel die Pocken.
  • Impfparadox. Impfungen sind sich selbst ihr größter Gegner: Weil sie so gut wirken, sehen viele Menschen keine Notwendigkeit mehr, sich impfen zu lassen.
  • Fürsorgepflicht. Gerade im Gesundheitsbereich gibt es eine ethische Verpflichtung zu impfen: Die Patienten müssen vor zusätzlichen Risiken geschützt werden.
  • Kollektiver Schutz. Wirkliche Impfgerechtigkeit heißt aber auch, Impfungen global zu ermöglichen und vor allem ärmere Länder mit Impfstoffen zu unterstützen.

Es wird gesagt, dass die Geschichte der Impfung, so wie wir sie kennen, mit Lady Mary Wortley Montagu, einer englischen Aristokratin, im frühen 18. Jahrhundert beginnt. Mary Wortley Montague war die Frau des damaligen englischen Botschafters in Konstantinopel und lernte im osmanischen Reich die sogenannte Variolation kennen: Eine Immunisierung gegen die Pocken, die seit dem Altertum in Asien praktiziert wurde.

Bei dieser Form der Impfung wird das Sekret von leicht an Pocken erkrankten Menschen in die Haut gesunder Menschen eingeritzt. Das führt zu einer milden Form der Erkrankung und damit zu einer bleibenden Immunität gegen die gefürchteten Pocken. Mary Wortley Montague brachte diese Methode zurück nach England. Und damit auf den europäischen Kontinent.

Maria Theresias „Inokulationshäuser“

Maria Theresia, die selbst die Pocken überlebt hatte und deren Familie sehr schwer durch die Erkrankung gelitten hatte, ließ den Niederländer Jan Ingen-Housz diese Impfmethode in den österreichischen Erblanden durchführen. Die Impfungen fanden in eigens eingerichteten „Inokulationshäusern“ statt, in denen die so Infizierten bleiben mussten, bis sie die milde induzierte Krankheit überstanden hatten.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einer weiteren Entwicklung der Impfung: Die Vakzination – die Verwendung des Pustelsekretes von für den Menschen ungefährlichen Kuhpocken – löste die Variolation ab. Sie wurde von Eduard Jenner erstmals durchgeführt und in Folge in allen Ländern der Welt angewendet. Die Pocken waren eine der größten gesundheitlichen Bedrohungen der Menschheit, Ursache für schwerste Erkrankungen und eine immense Anzahl an Todesfällen. Selbst die, die Pocken überlebten, waren ihr Leben lang durch Narben gezeichnet.

Erst im Jahr 1979 konnte die Erkrankung vollständig besiegt werden. Bis heute sind die Pocken die einzige Infektionserkrankung, bei der die Ausrottung tatsächlich mittels Impfung gelungen ist.

Eine Erfolgsgeschichte

Impfungen sind eine andauernde Erfolgsgeschichte: Keine andere Errungenschaft und keine andere medizinische Maßnahme haben eine derartige Auswirkung auf unsere Gesundheit, unseren heutigen Lebensstandard und Lebenserwartung. Die Impfung ist aber in gewisser Weise auch ihr eigener „Feind“, denn durch ihre Wirkung sind Krankheiten wie beispielsweise Polio, Keuchhusten, Masern oder Mumps kaum mehr sichtbar. Daher fehlt vielen Menschen auch der Anreiz, sich selbst oder die eigenen Kinder zu impfen - was in den vergangenen Jahren letztlich wieder zu einem Anstieg von gefährlichen Erkrankungen wie den Masern geführt hat.

Impfungen sind eine andauernde Erfolgsgeschichte - aber sie sind auch ihr eigener Feind.

Gleichzeitig waren Impfungen von Anfang an von einer Ablehnung begleitet. Diese seit Jahren wieder zunehmende Skepsis gegen Impfungen wird verstärkt durch Desinformation, Verschwörungstheorien und Falschmeldungen, heute vor allem befeuert durch sozialen Medien. Tatsache ist, dass heute viele Kinder keinen vollständigen Impfschutz gegen vermeidbare, potentiell gefährliche Infektionserkrankungen aufweisen.

Impfen gegen von Mensch zu Mensch übertragbare Infektionserkrankungen wurde daher in den vergangenen Jahren ein wichtiges Thema, auch in der bioethischen Diskussion. Impfungen haben meistens eine doppelte Wirkung: Sie dienen einerseits dem Schutz des Einzelnen, andererseits aber auch dem Schutz der Bevölkerung als Ganzes.

Recht auf angemessene medizinische Versorgung

Ein wichtiges ethisches Prinzip beim Thema Impfen ist die Autonomie des Einzelnen. In Bezug auf Eltern und ihre Kinder betrifft dies die elterliche Autonomie, ihre Kinder nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Dabei ist allerdings das Kindeswohl im Sinne des Nichtschadensprinzips zu beachten: Kinder haben ein Recht auf angemessene medizinische Versorgung nach dem anerkannten Stand des medizinischen Wissens, und dazu gehören auch prophylaktische Maßnahmen wie Schutzimpfungen. Eltern müssen ihre Kinder vor körperlichen Schäden bewahren, auch vor solchen von vermeidbaren Infektionen. Manchmal unterschätzen Eltern das Risiko von möglichen Spätfolgen und Schäden, die beim Durchmachen einer Kinderkrankheit, wie etwa den Masern, entstehen können. Hier ist eine objektive Information essentiell; Eltern sollten vor Eintritt ihrer Kinder in Kindergarten und Schule fachlich umfassend informiert werden.

Eltern haben also die Verpflichtung, Schaden von ihren Kindern abzuwenden, da sie als verantwortliche Personen eine Garantenstellung innehaben. In der gleichen Art und Weise haben auch Angehörige der Gesundheitsberufe – also Ärzte und Ärztinnen, Pflegepersonal und alle anderen mit der Behandlung von Kranken tätigen Berufe – ebenso eine Garantenstellung gegenüber den von ihnen betreuten Patienten und Patientinnen. Das bedeutet, dass sie Vorkehrungen treffen müssen, von ihnen betreute Patienten mit einer Infektion nicht anzustecken und die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern. Auch die Träger von Krankenanstalten trifft hier eine besondere Fürsorgepflicht. Niemand darf in einem Krankenhaus, das er zur Behandlung einer Krankheit aufsucht, mit einer potenziell gefährlichen Erkrankung angesteckt werden!

Ethische Verpflichtung zum Impfen

Die österreichische Bioethikkommission hat bereits im Jahr 2015 eine Stellungnahme „Impfen - ethische Aspekte“ verabschiedet, in der sie zum einhelligen Schluss kommt, dass Angehörige der Gesundheitsberufe nach dem Nicht-Schadensprinzip die ethische Verpflichtung trifft, sich impfen zu lassen, weil diese eben mit der Betreuung von vulnerablen Personen zu tun haben. Menschen, die sich in Behandlung in eine medizinische Einrichtung begeben, müssen darauf vertrauen können, dass ihnen daraus kein Schaden erwächst.

In einer weiteren Stellungnahme „Ethische Fragen einer Impfung gegen Covid-19“ aus November 2020 kommt die Bioethikkommission zu der Empfehlung, dass eine Impfung gegen Covid-19 für den Zeitraum der Pandemie als Berufsvoraussetzung für Gesundheits- und Pflegepersonal sowie auch weitere Berufsgruppen „mit intensivem Körperkontakt zu Menschen verschiedener Vulnerabilität anzusehen ist.“ Diese Stellungnahme wurde durch eine spezifisch für die Gruppe des Gesundheits- und Pflegepersonal diskutierte und veröffentlichte Empfehlung „Impfung gegen COVID-19 als Berufsausübungserfordernis für die Gruppe der Pflege- und Gesundheitsberufe“ im Mai 2021 ergänzt.

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Zahlen & Fakten

Die Public-Health-Ethik ist auf den Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der relationalen Autonomie gegründet. Das bedeutet, dass eine Gesellschaft das Recht hat, sich vor einer Epidemie, die ihre Angehörigen gefährdet, zu schützen. Dieser Grundsatz ist in Österreich auch in Paragraph 17 des Epidemie-Gesetz verankert, in dem die Einführung einer Impfpflicht für das Gesundheitspersonal ermöglicht wird.

In der Corona-Pandemie war und ist besonders das exponierte Gesundheitspersonal betroffen, eine große Anzahl von Ärzten und Ärztinnen, sowie Angehörigen der Pflege sind schwer erkrankt und auch gestorben. Die Daten aus dem Frühjahr 2020 aus Italien, aus dem Vereinigten Königreich und aus den USA waren erschreckend. Gemäß dem Prinzip „Helft den Helfern“ war es daher geboten, diese Berufsgruppe prioritär zu impfen. Nicht nur, um die von ihnen betreuten Patienten, sondern auch sich selbst zu schützen, nicht zuletzt auch um das Gesundheitssystem insgesamt funktionsfähig zu erhalten.

Impfpflicht oder freie Entscheidung?

Unter welchen Umständen kann überhaupt eine Verpflichtung, sich impfen zu lassen, gerechtfertigt sein? Folgende Voraussetzungen müssen gegeben sein:

  • die Folgen einer Erkrankung müssen schwer sein,
  • der Eingriff in die körperliche Integrität muss im Vergleich dazu leicht sein (ein kleiner Stich),
  • der Nutzen der Impfung für die Gesellschaft insgesamt muss groß sein.

Das bedeutet, dass eine Impfpflicht immer nur „ultima ratio“, also letztes Mittel, sein kann. Wenn die Menschen motiviert werden können, sich der Impfung zu unterziehen, wird man keine Verpflichtung gesetzlicher Natur benötigen. Wichtig ist, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Dass also der Eingriff in die persönliche Integrität harmlos ist, die zu vermeidende Erkrankung aber gefährlich und damit der Nutzen für alle groß.

Außerdem sollte man die – häufig miteinander vermengten – Begrifflichkeiten klarstellen. Der Begriff „Impfpflicht“ ist missverständlich. Oftmals spricht man von „Pflicht“, meint aber nur sinngemäß eine „Voraussetzung“. So sollte eine Ärztin, die auf einer Transplantationsstation tätig ist, gegen alle ansteckenden Infektionen mittels Impfung geschützt sein, damit sie ihre Patienten nicht gefährdet. Hier kann man von einer Berufsvoraussetzung sprechen, genauso wie Hygienemaßnahmen wie etwa auch das Händewaschen eine Voraussetzung der professionellen und verantwortlichen Berufsausübung eines Arztes ist. Impfpflicht bedeutet eben nicht gleich „Zwangsimpfung“ und bedeutet auch nicht automatische Impfung aller.

Wir brauchen eine Impfgerechtigkeit

Um die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, ist eine weltweit durchgeführte Impfung von so vielen Menschen wie möglich notwendig. Experten sprechen von einem kollektiven Schutz, der nur ab einer Durchimpfung von mehr als 90 Prozent erreicht werden kann. Eine breite Palette von Impfstoffen ist also schon deshalb erforderlich, um die notwendigen Produktionszahlen sicherzustellen. Eine Vielfalt an Impfstoffen ist aber auch deshalb wünschenswert, um laufend entstehende neue Mutationen des Virus berücksichtigen und verschiedene Personenkreise (wie etwa Personen mit unterschiedlichen Vorerkrankungen, verschiedene Ethnien) optimal versorgen zu können. Zunehmend wird auch eine Kombination verschiedener Impfstoffe diskutiert.

Auch müssen die klimatischen Bedingungen und die je nach Impfstoff unterschiedliche, manchmal aufwendige Logistik berücksichtigt werden. Nur wenn wir die Pandemie überall eindämmen können, haben wir auch gegen die Mutationen des SARS-CoV2- Virus eine Chance. Dazu müssen wir auch weltweit für eine „Impfgerechtigkeit“ sorgen. Wir müssen auch Länder, die es sich nicht leisten können, Impfstoffe zu kaufen, mit diesen versorgen. Das fordern die Prinzipien der Fürsorge, der Solidarität und der Gerechtigkeit.

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Conclusio

Laut Epidemiegesetz hat eine Gesellschaft das Recht, sich vor einer Epidemie, die ihre Angehörigen gefährdet, zu schützen. Dieser Schutzanspruch ist die rechtliche Grundlage dafür, eine Covid-Impfung als Berufsvoraussetzung im medizinischen Bereich zu sehen. Es reicht aber nicht, nur hierzulande zu impfen. Wir müssen auch Länder versorgen, die es sich nicht leisten können, selbst Impfstoffe zu kaufen.