Chinas Sozialkredite: Totale Kontrolle

Mit Einführung eines „Sozialkreditsystems“ ist es dem Regime in Peking möglich, eine autoritäre Staatsverwaltung umzusetzen. Wer artig ist, wird belohnt, wer sich nicht an die Vorgaben hält, wird bestraft.

Zwei Hände die jeweils eine Person an Fäden steuern
Das Sozialkreditsystem in China soll die Menschen nach den Vorstellungen der Kommunistischen Partei steuern. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Ursprung. Das Kreditrating für chinesische Banken war der Ausgangspunkt für das umfassende Sozialkreditsystem.
  • Hightech. Künstliche Intelligenz ermöglicht modernste Anwendungen wie Gesichtserkennung und Big-Data-Analysen.
  • Erziehung. Das System erfasst Einzelpersonen und Unternehmen. Die Belohnungs- und Strafsysteme sollen für die Einhaltung der Parteilinie sorgen.
  • Gegenspieler. Das Sozialkreditsystem soll die autoritäre Staatsordnung stärken und tritt in direkte Konkurrenz mit der liberalen Demokratie des Westens.

Ein „Sozialkredit“ wurde erstmals im August 1990 erwähnt. Damals hinterzog eine große Anzahl chinesischer Unternehmen ihre Bankschulden. Die Unternehmen verschuldeten sich dabei untereinander mit sogenannten Dreiecksschulden: Unternehmen A war bei Unternehmen B verschuldet, Unternehmen B bei Unternehmen C und letzteres wiederum bei Unternehmen A. Eine Zahlungsunfähigkeit konnte allen drei das Genick brechen. Die Folgen solcher Konstellationen belasteten die Wertpapiermärkte.

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Daraufhin legte die People’s Bank of China 1990 das Kreditrating für die chinesischen Banken fest. Im gleichen Jahr erwähnte der chinesische Staatsrat den Begriff Sozialkredit in einem Dokument zur landesweiten Bereinigung von Dreiecksschulden.

Um das Problem der Dreiecksschulden zu lösen, gab es auch Versuche im Bereich des Wirtschafts- und Finanzsektors ein Sozialkreditsystem zu errichten, das an das Kreditrating des Westens angelehnt war.

Erst jetzt bieten moderne Technologien die Möglichkeiten für den massiven Ausbau des Überwachungssystems.

Das System geht online

Die Regierung unter Xi Jinping erkannte die politischen und sozialen Möglichkeiten der neuartigen Ratings. Das Sozialkreditsystem wurde zu einem Instrument des autoritären Regimes, auch wenn ursprünglich die Lösung wirtschaftlicher Probleme im Vordergrund stand. Im Jahr 2014 legte der Staatsrat einen Plan für das Sozialkreditsystem bis 2020 mit vier Hauptbereichen vor:

  1. Glaubwürdigkeit der Regierung
  2. Kreditwürdigkeit von Personen oder Unternehmen
  3. Soziale Kredite
  4. Glaubwürdigkeit der Justiz

Vor allem die zwei Bereiche der sozialen Kredite und die Kreditwürdigkeit von Personen sowie Unternehmen haben große Auswirkungen auf die Gesellschaft. Das Sozialkreditsystem geht weit über den ursprünglich vorgesehenen Wirtschafts- und Finanzsektor hinaus.

Nach 1990 verfeinerten staatliche Ministerien und Kommissionen das System. Die Anreize für Vertrauenswürdigkeit und die Strafen für Vergehen wurden ausgeweitet. Staatliche Stellen erließen Memoranden, in denen sie Belohnungen und Strafen in 43 Bereichen regelten.

Es ist kein Zufall, dass ein Sozialkreditsystem während der Amtszeit von Xi Jingping so hoch im Kurs steht – erst jetzt bieten moderne Technologien die Möglichkeit für den massiven Ausbau des Überwachungssystems. Dieser Ausbau war nur mit den neuen Gesichtserkennungstechnologien und Big-Data-Analyseverfahren möglich. Ende 2020 sollen bereits 626 Millionen öffentliche Überwachungskameras im Einsatz gewesen sein. So ist es nicht verwunderlich, dass acht chinesische Großstädte die Liste der zehn am stärksten überwachten Städte der Welt anführen.

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Zahlen & Fakten

Die Komponenten

Vereinfacht ausgedrückt besteht das Sozialkreditsystem aus drei miteinander verknüpften Komponenten:

  1. Eine Hauptdatenbank,
  2. eine schwarze Liste und
  3. Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen

Derzeit haben die Provinz-Regierungen und Städte, die staatlichen Behörden und die Zentralbank ihre Daten in einer Datenbank namens National Credit Information Sharing Plattform (NCISP) zusammengeführt.

Gleichzeitig haben chinesische Regierungsstellen auf allen Ebenen ihre eigenen schwarzen und roten Listen entwickelt – in den roten Listen ist gutes Verhalten verzeichnet. Die Regierungsagenturen haben das Recht, Einzelpersonen und Unternehmen in ihrem Zuständigkeitsbereich auf schwarze Listen zu setzen. Diese schwarzen Listen werden auf der Website von Credit China gesammelt.

Bislang gibt es kein nationales Punktesystem für Einzelpersonen. Mit anderen Worten: Die Zentralregierung kontrolliert die Sozialkreditdaten aller Bürger, ohne sie jedoch in einer nationalen Datenbank mit einer einheitlichen Arithmetik nach einem Punktesystem zu gewichten.

Die dritte Säule des Sozialkreditsystems betrifft die Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen. Hier gibt es bisher noch regionale Unterschiede, dazu später mehr.

Immer mehr Sünder

Zusätzlich zu ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Regulierung dienen die sozialen Kredite einer leninistisch autoritären Staatsverwaltung. Das Wesen dieses Autoritarismus besteht darin, dass die Menschen von äußeren Kräften belohnt und bestraft werden müssen, um die Fähigkeit zu erwerben, zivilisiert zu sein. Offizielle Zahlen zeigen, dass bis Juni 2019 knapp 27 Millionen Menschen vom Kauf von Flugtickets und fast sechs Millionen Menschen vom Fahrkartenkauf für Hochgeschwindigkeitszüge ausgeschlossen wurden.

Die Ironie besteht darin, dass die Anzahl jener, die ihren Sozialkredit einbüßen, immer größer wird, je mehr das Sozialkreditsystem vorangetrieben wird. Die Zahl der Sozialkreditsünder wächst immer weiter.

Umsetzung des Sozialkreditsystems

Chinas Sozialkreditsystem hat, zumindest derzeit, noch kein einheitliches Kontrollsystem. Die Daten kommen von verschiedenen Verwaltungsebenen, und die Behörden verknüpfen die verschiedenen Systeme miteinander.

Das Sozialkreditsystem Chinas besteht somit aus drei Stufen, die unabhängig voneinander Daten an die Behörden liefern:

  1. Sozialkreditsystem der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission Chinas (NDRC)
  2. Kreditsystem der chinesischen Zentralbank
  3. Kreditsystem privater Firmen

Die NDRC verfügt über ein System, das derzeit vom System der Banken getrennt ist. Die beiden sind nicht miteinander vernetzt, da NDRC und Zentralbank unterschiedliches Verständnis von Kredit haben. Die darüber liegenden Ebenen werden von der Regierung verwaltet.

Neben den staatlichen Kreditsystemen beteiligen sich auch private Firmen wie Ant Capital. Der Betreiber von Alipay setzt auf Big Data und die freiwillige Teilnahme derjenigen, die ihr Sesame Credit System nutzen. Dieses analysiert und bewertet die Nutzer anhand ihres Ausgabeverhaltens und ihrer Vorlieben. Es gibt viele Möglichkeiten Punkte zu sammeln, zum Beispiel durch den regelmäßigen Kauf von Haushaltsartikeln wie Windeln. Der Kauf vieler Videospiele aber führt dazu, dass Punkte abgezogen werden. Chinas Behörden setzen die großen Techkonzerne zunehmend unter Druck. Zuletzt wurde der Ant Group verordnet, ihr Konsumkreditgeschäft von dem Bezahldienst Alipay abzuspalten.

Es ist erwähnenswert, dass mit dem Aufkommen des Sozialkreditsystems weitere davon abgeleitete Produkte geschaffen wurden. So hat der Kommunistische Jugendverband Chinas im Jahr 2019 eine mobile App zur Bewertung der Kreditwürdigkeit junger Menschen namens „Younitong“ auf den Markt gebracht, um die Jugend zu kontrollieren und einer Gehirnwäsche zu unterziehen.

Ein weiteres Beispiel ist die von der zentralen Propagandaabteilung der KPCh lancierte App „Starkes Land des Lernens“, die Parteimitglieder herunterladen und jeden Tag lesen müssen. Auch Beamte, Angestellte staatlicher Unternehmen und Lehrer an öffentlichen Schulen müssen die App nutzen. Der Inhalt wird hauptsächlich von Xi Jinping vorgegeben. Nach den Punkteregeln können die Nutzer mehrere Punkte für die Nutzung der App sammeln, wenn sie sie morgens, mittags oder abends nutzen. Das wird als Anreiz gesehen, in der Freizeit und nicht bei der Arbeit zu „lernen“. Es ist eine verfeinerte Version der täglichen religiös anmutenden Praxis der Kulturrevolution.

Viele Strafmaßnahmen verletzen grundlegende Menschenrechte und die Privatsphäre.

Vielfalt der Punktesysteme

Seit der Veröffentlichung des Sozialkreditsystems im Jahr 2014 haben Pilotstädte ihre eigenen Systeme ausprobiert. Statistiken zufolge hatten bis Ende Juni 2018 mehr als 170 Städte im ganzen Land den Aufbau von Plattformen zum Austausch von Bonitätsauskünften abgeschlossen. Das von der People's Bank of China entwickelte Programm ist inzwischen das weltweit größte System zur Erfassung der Bonität von Personen.

Neben dem Sammeln von Informationen sind Auswertung und Punktevergabe für Bürger und Unternehmen von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Eine nationale Vereinheitlichung hat noch nicht stattgefunden.
Die Stadt Rongcheng in der Provinz Shandong ist ein geeignetes Beispiel: Die 790.000 Einwohner der Stadt, 16.000 Unternehmen und 1.420 sozialen Organisationen wurden in das Sozialkreditsystem aufgenommen. Alle Teilnehmer erhalten angeblich zum Start 1.000 Punkte, zu denen anschließend je nach Verhalten Punkte hinzukommen oder von denen Punkte abgezogen werden. Mit der Teilnahme am Freiwilligendienst und einer Blutspende erwirbt man beispielsweise Zusatzpunkte, während Rückstände bei Bankkrediten und Verkehrsverstöße zu Abzügen führen.

Außerdem stuft das System Personen mit unterschiedlichen Punktzahlen in sechs Klassen ein: AAA, AA, A, B, C und D. Die endgültige Einstufung wirkt sich auf persönliche Kredite, berufliche Beförderungen und viele andere Aspekte aus. So werden beispielsweise Personen mit einer hohen Bonität bei Behördengängen bevorzugt behandelt.

Überwachungskameras am Tiananmen-Platz in Peking
Chinas Überwachung erfasst fast alle Lebensbereiche seiner Bürger. © Getty Images

Erniedrigende Strafen

Nach dem Motto „Wer seine Bonität verliert, wird überall eingeschränkt“, verletzen viele Strafmaßnahmen grundlegende Menschenrechte und die Privatsphäre. So gibt es zum Beispiel eine ganze Reihe von Strafen, für die es keine offizielle Dokumentation oder polizeiliche Mitteilung gibt. Damit hat die bestrafte Person keine Möglichkeit, sich zu wehren.

Darüber hinaus gibt es Bestrafungspraktiken, die für die betroffene Person absichtlich erniedrigend sind. Die Privatsphäre wird dabei nicht geschützt. Beispielsweise forderte im Juli 2017 ein Gericht in Laizhou, Provinz Shandong, drei Telekommunikationsunternehmen auf, die Rufannahme von säumigen Schuldnern anzupassen. Wer einen säumigen Schuldner anruft, hört zunächst eine Tonbandaufnahme mit dem Hinweis, dass man einen Schuldner anruft, der vom Gericht verordnete Zahlungen nicht beglichen hat und wird gebeten, man möge auf ihn einwirken, dies zu tun.

Letztlich ist das Sozialkreditsystem in Wirklichkeit zu einem verkappten Zertifikat für politisch erwünschte Staatsbürger geworden. Im Sozialkreditsystem von Suining werden beispielsweise Punkte für das Blockieren und Stürmen von Partei- und Regierungsräumen, Unternehmen und Baustellen abgezogen.

Schlecht gerankte Unternehmen werden eingeschränkt, somit ist die politische Performance auch für ausländische Unternehmen wichtig.

Ausländische Unternehmen

Das Unternehmenskreditsystem ist Teil des chinesischen Sozialkreditsystems. Peking kündigte im September 2019 ein nationales Unternehmensranking an, das Berichten zufolge 33 Millionen Unternehmen umfasst. Diese Zahl vergrößert sich mit der Zeit. Und ausländische Unternehmen sind keine Ausnahme.

Das Verhalten eines Unternehmens wird in der Regel ständig überwacht und die Punktezahl entsprechend angepasst. Bei Nichteinhaltung hat das Unternehmen ernsthafte Konsequenzen wie Sanktionen zu befürchten, oder es kann sich auf einer schwarzen Liste wiederfinden. Die Höhe verfügbarer Kredite sind ebenso eingeschränkt, wie bestimmte Steuergutschriften. Ein schlechtes Ranking kann die Unternehmensfinanzierung gefährden.

Öffentliche Ausschreibungen und Geschäfte mit staatlichen Stellen werden für schlecht gerankte Unternehmen eingeschränkt. Behördliche Genehmigungsverfahren können auf Grund einer schlechten Bewertung negativ ausgehen.

Somit wird die politische Performance ein sehr wichtiges Kriterium für ausländische Unternehmen. Im April 2018 forderte die chinesische Zivilluftfahrtbehörde (CAAC) internationale Fluggesellschaften schriftlich auf, Taiwan als Teil Chinas auszuweisen und erklärte, dass die Regierung „die schwerwiegende Unredlichkeit Ihres Unternehmens aufzeichnen und disziplinarische Maßnahmen“ gegen alle nicht konformen Unternehmen ergreifen würde – die Fluglinien fügten sich geschlossen. Die Drohung an die Fluggesellschaften war ein Pilotprojekt für ein Kreditsystem für die zivile Luftfahrtindustrie, die Teil des offiziellen Sozialkreditsystems wird.

Während sich die USA und China bemühen, die Wirtschaftsbeziehungen zu entflechten, versucht Peking diverse Hindernisse, wie die Beschränkung von Joint-Ventures zu beseitigen, um ausländische Unternehmen anzuziehen. Dies kann aber auch als ein Zeichen gesehen werden, dass Behörden in ihre Fähigkeit vertrauen, in- und ausländische Unternehmen mit sanften Mitteln rund um das Sozialkreditsystem zu kontrollieren. Peking erprobt eine völlig neue Form der Marktregulierung mit Algorithmen und Indikatoren, die weit über die Wirtschaft hinausgehen.

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Conclusio

Das Regime in Peking will mit Hilfe des Sozialkreditsystems eine Gesellschaft nach sozialistischen Normen formen. Die technischen Entwicklungen ermöglichen es, immer mehr Lebensbereiche der Chinesen zu überwachen. Auch ausländische Unternehmen müssen mit der Zeit lernen, was politisch erwünscht ist und was nicht. Xi Jinping signalisiert dem Westen, dass seine autoritäre Ordnung besser als ihre „liberal order“ ist. Bereits jetzt preist China seine Staatsführung bei „gleichgesinnten“ Ländern als Erfolgsmodell an. Die westlichen Demokratien sind gefordert, diesen Entwicklungen ihr liberales Gesellschaftsmodell entgegenzustellen.