Indien: Nun zu den echten Problemen
Mit der überraschenden Schwächung Narendra Modis könne sich Indien nun von der Identitätspolitik ab- und den drängenden Problemen zuwenden, meint Pradnya Bivalkar.

Mit seinem hindunationalistischen Kurs hat sich Narendra Modi selbst ein Ei gelegt – so könnte man das Fazit von Pradnya Bivalkar zusammenfassen. Zum einen fühlten sich viele Minderheiten, wohl nicht zu Unrecht, an den Rand gedrängt und wählten daher kleine regionale Parteien; zum anderen zielte Modis Variante des Hindu-Nationalismus (oder Hindutva) an den drängenden Problemen Indiens glatt vorbei: Der hohen Arbeitslosigkeit und dem Klimawandel.
Die Medienwissenschaftlerin Pradnya Bivalkar resümiert das Wahlergebnis und zeigt, wohin die Reise für Indien in Zukunft gehen wird.
Der Podcast über Indien
Wie schön, dass ich falsch lag. Man hat der Opposition zu wenig zugetraut.
Pradnya Bivalkar
Im Mai als die Wahlen in Indien noch in vollem Gange waren, hatte unser Podcast-Gast, die Medienwissenschaftlerin Pradnya Bivalkar, noch angenommen, dass die Opposition in Indien zu schwach sei, um Narendra Modi und seinem hindunationalistischen Kurs etwas entgegensetzen zu können: „Die Leute die Modi wählen, sind nicht unbedingt Populisten“, hatte Bivalkar gesagt. „Es sind Leute, die mit der Opposition nichts anfangen können, weil diese keinen Plan anbieten kann.“
Dass Modi einen Plan anbieten könnte, glaubten auch nicht alle: Bei der Wahl, die in sieben Etappen vom 19. April bis zum 1. Juni stattfand, waren 244 Parteien angetreten und tatsächlich konnte die Opposition die regierende BJP schwächen. „Es gibt ja selten im Leben Momente, wo man sich darüber sehr freut, dass man falsch lag, und das war einer dieser Momente in meinem Leben, wo ich gedacht habe, wie schön, dass ich falsch lag.“ Seit dem 16. Juni hat sich das neue Parlament konstituiert.
Die BJP hat die Mehrheit im Parlament (Lok Sabha) verloren. Die nunmehr 240 Sitze (Wahlen 2019: 303), reichen für eine Mehrheit im 543 Abgeordnete zählenden Parlament nicht aus. „Die BJP war gezwungen, mit den kleineren Parteien eine Koalition aufzubauen.“
Woran scheiterte Modi?
Narendra Modi und seine Partei die BJP waren sich zu sicher, zu gewinnen, erläutert Brivalkar. Sie leisteten sich eine sehr ausschließende Rhetorik, die von vielen Minderheiten, aus denen die multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Bevölkerung besteht, in dieser Wahl abgestraft wurde: „Modi scheiterte erstens an der hohen Arbeitslosigkeit und zweitens an den sehr regionalen, teilweise auch auf Kasten basierenden, Identitäten, die er versucht hat, zu verdrängen“, so Brivalkar.
Die hindu-nationalistische Identitätspolitik schlug fehl, unter anderem zerschellte sie an der Identitätspolitik der Kasten: „Diese regionalen Parteien haben eine sehr klare politische Agenda, und zwar, diese regionalen Kasten-Identitäten aufrecht zu erhalten.“
Währen der Wahlen wurde Indien von einer Hitzewelle mit Temperaturen zwischen 40 und 50 Grad heimgesucht, außerdem Starkregen, Hochwasser, Stürme. 2023 war es ähnlich gewesen. Das Land liegt in einer Zone der Erde, die besonders hat vom Klimawandel getroffen wird. In den großen Städten trifft es die ärmere Bevölkerung besonders hart.
Das zweite drängende Problem ist Arbeitslosigkeit. Die Infrastrukturprojekte, die die BJP-Regierung in Gang gesetzt hat, bringen keine Wohlstandsgewinne für die jüngere Bevölkerung, im Gegenteil. Das versprochene Job-Wunder ist bisher ausgeblieben.
Über Pradnya Bivalkar
Pradnya Bivalkar stammt aus Pune in Indien, lebt seit 2009 in Deutschland und ist Senior Project Manager an der Robert Bosch Academy in Berlin. Als Medienwissenschaftlerin ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte ein kulturwissenschaftliches Verständnis der verschiedenen Ausdrucksformen des Hindu-Nationalismus, insbesondere im Film. Hindu-Nationalismus war auch das Thema im Podcast, den wir vor den Wahlen mit ihr geführt haben.
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