Die Gigawahlen

Fast eine Milliarde Wahlberechtigte, 8.360 Kandidaten. Die Wahlen in Indien sind gigantisch, und am Ende wird Modi gewinnen. Warum, erklärt Expertin Pradnya Bivalkar.

Ein rot und weiß mit Stoffbahnen und Luftballons geschmückter Raum und ein roter Teppich erwartet drei Wähler und Wählerinnen bei den Wahlen in Indien in Neu-Delhi.
Ein Wahllokal in Neu-Delhi am 25. Mai 2024. © Getty Images

Die Nachrichtenagentur Reuters kommt aus dem Zählen fast nicht mehr heraus: Bei der Wahl in Indien, die am 1. Juni zu Ende geht, treten 744 Parteien mit 8.360 Kandidaten an; 543 davon werden es schaffen. Aber wie stehen die Chancen für politische Veränderung nach zehn Jahren Narendra Modi? Welches Kalkül steckt in seinem Hindu-Nationalismus, und warum ist dieser für viele Inder attraktiv? Expertin Pradnya Bivalkar ordnet die Wahl und die Identitätspolitik Modis in diesem Podcast ein.

Der Podcast über die Wahlen in Indien

Narendra Modi schafft es, die Menschen mit Hindutva, nicht Hinduismus, hinter sich zu bekommen.

Pradnya Bivalkar

Die Zahl der Kandidaten und der politischen Parteien (es sind insgesamt mehr als 2.600, die in Indien aktiv sind) ist ein Ausdruck der Vielfalt Indiens – der Vielfalt der Religionen, Sprachen, Ethnien und politischen Einstellungen, so die Medienwissenschaftlerin Pradnya Bivalkar. Der Hindu-Nationalismus von Narendra Modi strebt hingegen eine Hindu-Hegemonie an. Warum ist das für viele Inder attraktiv?

Faktor 1: Versagen der Opposition

Es mag 2.600 Parteien in Indien geben, und 744, die bei dieser Wahl antreten, doch offenbar hat keine dieser Parteien Überzeugungskraft. „Die Leute die Modi wählen, sind nicht unbedingt Populisten“, so Bivalkar. „Es sind Leute, die mit der Opposition nichts anfangen können, weil diese keinen Plan anbieten kann.“

Faktor 2: Hindutva als Versprechen der Überlegenheit

Modi gehört der Bharatiya Janata Party (BJP) an und ist der zweite Premier dieser Partei nach Atal Bihari Vajpayee (1996, 1998 bis 2004). „Modi hat die Macht in erstaunlichem Maße zentralisiert, die Unabhängigkeit von öffentlichen Institutionen wie Justiz und Medien untergraben, einen Personenkult um sich aufgebaut und verfolgt die ideologischen Ziele seiner Partei mit rücksichtsloser Effektivität“, sagt Ramachandra Guha in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Dies gelingt Modi, indem er an das Konzept der Überlegenheit des Hinduismus anknüpft, analysiert Bivalkar.

Zwei Männer stehen auf einem Fußweg zwischen Häusern und räumen durch einen Sturm verwehte Blätter, Äste und Blüten auf. Das Bild wurde am 27. Mai in der Provinz Westbengalen in Indien aufgenommen, nachdem ein Zyklon die Region verwüstet hatte. Das Bild illustriert einen Beitrag über die Wahlen in Indien.
Tehatta, Westbengalen am 27. Mai 2024 nach dem Zyklon Remal. © Getty Images

„Man muss an der Stelle zwischen Hinduismus als Religion und Hinduismus als politische Ideologie unterscheiden. Der Hinduismus als Religion ist eine Erfindung der Briten. Sie wollten damit brahmanische und nichtbrahmanische Gruppen in Indien unterscheiden. Hinduismus ist in diesem Sinne eine politische Ideologie, die sagt, dass die Leute, die nicht aus dem indischen Subkontinent kommen – konkret Muslime, Juden und Christen – nicht zu Indien gehören. Modi schafft es, die Menschen mit dieser Hindutva, nicht Hinduismus, hinter sich zu bekommen“ sagt Bivalkar.

Modi konstruiere damit eine Hindu-Identität, die für die Menschen attraktiv sei, die in der Unabhängigkeit Indiens sehr selten das Gefühl gehabt hätten, stolz auf ihre Hindu-Identität sein zu können. „Das haben die Regierungen seit 1947 einfach nicht geschafft“, so Bivalkar.

Anders Modi und die BP: Ihr gegenüber, so Bivalkar stehe ein „Wähler, der von den bisherigen Regierungen und dem politischen Spektrum sehr enttäuscht ist, sehr desillusioniert. Er hat auch auch noch das Gefühl, dass er nur bedingt zu seiner religiösen Identität stehen kann. Und dann gibt es auf einmal eine Partei, die das religiöse Problem mit akuten Problemen verbindet, und das ist der Erfolgsschlüssel für Modi und seine Partei, das haben sie über die letzten zehn Jahre gut durchgezogen.“

Faktor 3: Zukunft statt Gegenwart

Ein weiterer Erfolgsfaktor Modis seien Wahlversprechen und Projekte, die sich auf eine relativ weit entfernte Zukunft beziehen. Kurzfristige Versprechen mache Modi nicht, so Bilvalkar.

Ein Hund sitzt in Kaschmir, Indien, auf der Mauer einr Brücke oder Promenade an einem Fluss oder See. Im Hintergrund sind Berge, Bäume und Häuser zu sehen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Wahlen in Indien und die Politik von Nahendra Modi.
In Kaschmir im Mai 2023. © Getty Images

„Sie sagen die ganze Zeit, dass sie einen 25jährigen Langzeitplan haben. Die ersten fünf Jahre, die erste Amtszeit von 2014 bis 2019, habe man dafür gebraucht, die Versäumnisse und Fehler der früheren Regierungen aus dem Weg zu räumen, in der zweiten Amtszeit von 2019 bis 2024 habe man begonnen, nach vorne zu schauen, und die nächsten 15 Jahre bräuchten er und seine Partei schlicht dafür, um die Wahlversprechen einzulösen. Es ist etwas was ganz Neues für die indische Wählerschaft, dass sie auf einmal eine politische Figur haben, die sagt, ich bin hier, ich werde hier bleiben, und das ist mein Plan für euch, und ich glaube, das kommt bei vielen Menschen relativ gut an.“

Es gibt aus Sicht von Bivalkar noch ein langfristiges Projekt, das Modi realisieren will: „Das langfristige Projekt ist, dass Indien zu einem gewissen Zeitpunkt dann eine relativ einheitliche indische Kultur hat, eine einheitliche indische Identität, und diese indische Identität bezieht sich auf die hinduistische Geschichte des Subkontinents, um die anderen auszuschließen. Aber die anderen sind nichtsdestotrotz zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung. Also so ein einfach wird es nicht sein.“

Über Pradnya Bivalkar

Pradnya Bivalkar stammt aus Pune in Indien, lebt seit 2009 in Deutschland und ist Senior Project Manager an der Robert Bosch Academy in Berlin. Als Medienwissenschaftlerin ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte ein kulturwissenschaftliches Verständnis der verschiedenen Ausdrucksformen des Hindu-Nationalismus, insbesondere im Film.

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