Das neue geopolitische Spiel
Der Westen sieht sich in einem Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Staaten. So einfach ist die Situation nicht. Mit der richtigen Staatskunst kann eine multipolare Welt ihr Gleichgewicht finden.
Die Vereinigten Staaten, China, Russland und in gewissem Maße auch Europa werden allgemein als die vier wichtigsten geopolitischen Akteure in der Welt angesehen. Innerhalb dieses Clubs sind die USA und Europa die Verfechter der so genannten „regelbasierten liberalen Weltordnung“, während die beiden anderen diese Ordnung in Frage stellen. Im Westen wird dies als ein Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Staaten angesehen. Doch so einfach ist die Situation nicht.
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Für einen langen Zeitraum, während die USA de facto der globale Hegemon waren, funktionierte diese Weltordnung unter dem Schutz Washingtons. Das brachte viele Vorteile mit sich, doch auch gute Dinge gehen einmal zu Ende. Der Multipolarismus stellt diese Situation derzeit in Frage. Eine auf Regeln basierende Weltordnung ist für kleinere Staaten sehr wichtig, aber sie muss von größeren Mächten aufrechterhalten werden.
Der Multipolarismus gefährdet nicht unbedingt die Regeln, wenn ein gutes Gleichgewicht besteht. Heute beobachten wir jedoch eine zunehmende Fragmentierung. Es bilden sich Machtblöcke. Jeder scheint von einem der vier Hauptakteure dominiert zu werden. Aber dieses Modell ist eine Vereinfachung, die auf den Rollen der Vergangenheit beruht. Wir müssen über den Tellerrand schauen.
Andere Mächte sind im Kommen
Indien wird China bald als bevölkerungsreichste Nation der Welt ablösen. Das Land hat auch eine schnell wachsende Wirtschaft – rund sieben Prozent jährlich. Indien ist bereits die fünftgrößte Volkswirtschaft und könnte in einigen Jahren Deutschland und Japan überholen und an dritter Stelle hinter den USA und China stehen. Das Militär des Landes ist beeindruckend. Das Land ist seit vielen Jahren eine Atommacht. Strategisch gesehen besteht die größte Herausforderung für Indien darin, die Konfrontation mit China zu bewältigen.
Beide Mächte haben bisher darauf geachtet, keine unkontrollierte Eskalation zuzulassen, obwohl es entlang der Himalaya-Grenze regelmäßig zu militärischen Konfrontationen kommt. Diese Scharmützel finden in umstrittenen Gebieten im Himalaya statt. Aber auch der wachsende Einfluss Pekings auf Pakistan und seine zunehmende Marinepräsenz im Indischen Ozean stellen Indien vor große Herausforderungen.
Pragmatische Allianzen
Neu-Delhi ist ein kluger Akteur auf der internationalen Bühne. Die USA sind einer seiner wichtigsten Partner. Zusammen mit Australien und Japan gehören beide Länder zur Quad-Sicherheitsallianz zur Eindämmung Chinas. Aber die indische Regierung geht nicht davon aus, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Sie bleibt eher pragmatisch und Neu-Dehli geht weder mit Moskau noch mit Peking auf einen direkten Konfrontationskurs.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Indien bald zur Gruppe der großen Akteure gehören wird.
Indien wird China zunehmend als wichtigster Exporteur von Industriegütern in der Welt ablösen und damit die Bedeutung der USA und Europas für seine wirtschaftliche Zukunft sichern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Indien bald zur Gruppe der großen Akteure gehören wird.
Europas schwierige Nachbarschaft
Russland wird allein aufgrund seiner Größe und seiner strategischen Lage ein Land der Spitzenklasse bleiben, es sei denn, es löst sich auf. Das Schicksal Russlands stellt die größte Herausforderung für Europa dar.
Weitere Herausforderungen, die sich für den alten Kontinent abzeichnen, sind der Mittelmeerraum und Afrika. Die Aufrechterhaltung des Engagements in diesen Regionen ist für die europäischen Hauptstädte ein wichtiges geopolitisches Thema. Eine weitere Priorität ist die transatlantische Partnerschaft und die Notwendigkeit, eigene Verteidigungs- und Abschreckungskapazitäten zur Durchsetzung von Sicherheit und Interessen aufzubauen.
In der Vergangenheit haben sich die regionalen Mächte mit einer der beiden Weltmächte verbündet. Dies wird sich ändern, da diese Länder beginnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um ihre regionalen Interessen zu schützen. Dies ist eine vielversprechende Entwicklung. Ein gutes Beispiel dafür ist die Türkei. Ankara verteidigt seine Bedürfnisse aus eigener Kraft, und zwar viel besser, als wenn es sich auf die Konzepte von Washington, London, Berlin oder Paris verlassen würde.
Regionale Bündnisse statt Blockpolitik
Indonesien steht an vierter Stelle der bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Es befindet sich im selben Dilemma wie alle anderen südostasiatischen Länder. Herausgefordert durch ein selbstbewusstes China, unterhält es Sicherheitsbeziehungen zu Washington. Peking ist jedoch sein größter Handelspartner und wird es auch bleiben. Dies gilt generell für alle zehn Mitglieder des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN). Diese Länder gestalten ihre gemeinsame Politik auf eine gesunde Art und Weise.
Sowohl Washington als auch Peking setzen sich in Jakarta, Manila, Kuala Lumpur und Hanoi für ihre Interessen ein. Die südostasiatischen Länder werden es jedoch weiterhin vermeiden, sich vollständig auf die Seite einer der beiden Supermächte zu schlagen.
Japan, ein wirtschaftlicher Riese, investiert jetzt auch stark in seine militärischen Fähigkeiten. Es wird zunehmend seine eigenen Interessen verfolgen.
Staatskunst gefragt
Dies sind nur einige wichtige Beispiele. Es gibt noch mehr. Es bedarf herausragender staatsmännischer Fähigkeiten, um konkurrierende Einflüsse auszugleichen und zu zeigen, dass internationale Regeln letztlich für alle von Vorteil sind und eingehalten werden müssen.
Pragmatismus und Realismus müssen die Oberhand gewinnen.
Sicherlich haben sich Organisationen wie die G20 als Fehlschlag erwiesen. Die im G20-Forum vorgeschlagenen Lösungen verstärken die Kontrolle über Einzelpersonen und Unternehmen. Diese freiheitsbeschränkenden Maßnahmen stoßen in den G20 auf gemeinsames Interesse, weil sie es den Regierungen größerer Länder ermöglichen, zu dominieren.
Langfristige Strategien müssen entwickelt werden. Pragmatismus und Realismus müssen die Oberhand gewinnen. Idealerweise sollte die demokratische Welt dabei die Führung übernehmen. An Staatskunst mangelt es derzeit in Europa und den USA. Leider müssen wir uns auf einen sehr holprigen Weg vorbereiten.