Warum Intelligenz relativ ist

Wir alle wollen klug und erfolgreich sein. Doch der Intelligenzquotient ist dafür leider keine Messlatte. Ginge man nur danach, würden die Menschen gerade dümmer.

Bild vom Gehirn
Radiologisches Bild eines Gehirnschnittes: Solche Scans sagen wenig über die Intelligenz aus. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neugierde. Der Wunsch, Intelligenz messen zu können, ist alt. Dafür wurden Tests entwickelt, aus denen sich ein Intelligenzquotient ablesen lässt.
  • Vorteile. Je besser kognitive Fähigkeiten ausgebildet sind, umso positiver ist der Zugang zu Problemen und damit die Lebenszufriedenheit.
  • Interpretation. Doch es gibt unterschiedliche Arten von Intelligenz. Sie hängen mit den gesellschaftlichen Anforderungen zusammen.
  • Im Wandel. Zeitübergreifende Messungen von Intelligenz sind aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen unseriös.

Vielleicht haben Sie sich schon einmal einem Auswahlverfahren zu einem akademischen Studium stellen müssen. Oder Sie haben Ihre formale Eignung für einen bestimmten Beruf feststellen lassen. Möglicherweise waren Sie auch bei der Musterung beim Militär. Falls einer dieser Punkte auf Sie zutrifft, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Sie schon einmal mit einem Intelligenztest in Berührung gekommen sind. Es gibt aber natürlich noch wesentlich mehr Situationen, in denen Intelligenztests zur Anwendung kommen. Häufig begegnet man diesen Tests jedenfalls im Zusammenhang mit beruflichen Eignungsfragestellungen, in therapeutischen Kontexten oder auch in der schulischen (Früh-)Förderung. 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich diejenigen, die gerade so einen Intelligenztest absolviert haben, jedenfalls für eine bestimmte Zahl interessieren: Den Intelligenzquotienten – den berühmten IQ. Um diese Maßzahl ranken sich zahlreiche Mythen und vielfach mag auch nicht ganz klar sein, worum es sich dabei genau handelt.

Was Intelligenz bringt

An dieser Stelle wäre es natürlich passend einzuführen, was Intelligenz eigentlich ist. Leider ist es gar nicht so einfach, dies ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen, denn: Eine allgemein anerkannte wörtliche Definition des Begriffs Intelligenz gibt es nicht. Das ist zwar ungünstig, allerdings gibt es einen erstaunlich hohen Konsensus in der Wissenschaft über Vorhersagekraft, Korrelate und Nutzen von Intelligenz. 

Eine allgemein anerkannte wörtliche Definition des Begriffs Intelligenz gibt es nicht.

Dazu beigetragen haben konsistent wiederholbare Untersuchungsergebnisse, die zeigen, dass höhere kognitive Fähigkeiten typischerweise günstig während des Verlaufs des Lebens sind. So hängt Intelligenz positiv mit Schulnoten, physischer und psychischer Gesundheit, Lebenserwartung, selbstberichteter Lebenszufriedenheit oder auch dem Gehalt zusammen. Das bedeutet deswegen nicht, dass jede besonders intelligente Person automatisch besser in der Schule, gesünder, langlebiger, zufriedener oder wohlhabender ist als alle anderen Menschen. Aber es zeigt, dass Intelligenz positiv mit Lebenserfolg verbunden ist. Zumindest implizit scheint dieser Zusammenhang den allermeisten Menschen bewusst zu sein; auf eine angemessene Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen wird gesamtgesellschaftlich hoher Wert gelegt.

Trotzdem lässt sich argumentieren, dass es mehr als eine Art der Intelligenz gibt. Gleich vorweg: Mit Intelligenz werden hier Fähigkeiten im engeren Sinne bezeichnet, die sich in gut umschriebene spezifische Leistungen (so etwas wie schlussfolgerndes Denken oder Allgemeinwissen) und allgemeine kognitive Fähigkeiten (das sogenannte psychometrische g) gliedern lassen.

Klug oder wissend

Einerseits ist es offensichtlich, dass spezifische Leistungen der Intelligenz auch spezifische Fähigkeiten erfordern. Die Fähigkeit schlussfolgernd zu denken ist beispielsweise weitgehend kulturungebunden und beschulungsunabhängig, während sich das allgemeine Wissen auf erlernte Inhalte stützt. Um die Zahlenreihe 10-12-14-16-? fortzusetzen, müssen einem lediglich grundlegende Prinzipien der Arithmetik bekannt sein, um die korrekte Antwort 18 zu geben. Wenn man allerdings nach der Hauptstadt von Burkina Faso gefragt wird, kann man die richtige Antwort Ouagadougou wohl nur dann geben, wenn man sie bereits einmal erlernt hat. Diese unterschiedlichen Qualitäten der Intelligenz kann man grob in fluide (ungebunden an Vorwissen) und kristalline Intelligenz (abhängig von Erlerntem) einteilen.

Andererseits haben auch alle spezifischen kognitiven Fähigkeiten eine gemeinsame Schnittmenge. Das bedeutet, dass alle diese Leistungen positiv miteinander zusammenhängen, egal ob es sich um das oben genannte Schlussfolgern und Wissen oder auch andere Fähigkeiten wie Raumvorstellungsvermögen und Wortschatz handelt. Das bezeichnet man als die positive Kupplung der Intelligenz, die durch deren Schnittmenge, die man als g bezeichnet, ausgedrückt wird. Ausnahmen von diesem allgemeinen und immer wieder robust beobachtbaren Phänomen stellen die Teilleistungsschwächen wie etwa Legasthenie oder die sogenannten Inselbegabungen wie im Film Rain Man dar.

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Zahlen & Fakten

  • Fluide Intelligenz: Schlussfolgerndes Denken; ungebunden an Beschulung, Kultur, Vorwissen
  • Kristalline Intelligenz: Erfahrungsgebundenes Denken; abhängig von Beschulung, Gelerntem, Kultur 
  • Psychometrie: Wissenschaftliche Methodik zur Erfassung psychischer Fähigkeiten und Prozesse
  • Psychometrisches g (g-Faktor der Intelligenz): angenommene „allgemeine Intelligenz“, die in allen kognitiven Fähigkeiten vorkommt
  • Referenzpopulation: Alle Mitglieder einer bestimmten relevanten Gruppe, mit der die Werte einer bestimmten Person dieser Gruppe verglichen werden (Beispiel: wenn man die Cholesterinwerte eines über 65-jährigen Österreichers mit seiner Referenzpopulation vergleichen will, dann besteht diese aus allen Österreichern im formalen Pensionsalter)
  • Standardabweichung: Durchschnittliche Abweichung aller Messwerte vom Mittelwert

Explizit nicht zu Intelligenz sollen in diesem Zusammenhang Konstrukte wie soziale Fertigkeiten oder emotionale Intelligenz zählen. Das soll nicht bedeuten, dass solche Dinge nicht wichtig wären, allerdings entsprechen deren Merkmale eher Eigenschaften als Fähigkeiten.

Nur – wie messen?

Es ist aber leider gar nicht so einfach, Intelligenz zu messen, weil sie nicht direkt beobachtbar ist. Natürlich haben wir als Menschen im Alltag eine recht gute Vorstellung davon, welche Verhaltensweisen wir als intelligent betrachten und welche nicht. Und wir sind in vielen Fällen auch in der Lage abzuschätzen, wie fähig wir im Vergleich zu unseren Mitmenschen sind. Diese Einschätzungen sind aber notwendigerweise subjektiv und wenig zuverlässig.

Der Wunsch nach zuverlässigen Erfassungsmethoden hat in den frühen 1900er-Jahren zur Entwicklung des ersten formalen Intelligenztests durch Alfred Binet (1857-1911) geführt. Seine Arbeit hat einerseits dazu geführt, geistige Entwicklungsrückstände französischer Kinder einheitlicher zu diagnostizieren, andererseits aber den Grundstein für die psychometrische Erfassbarkeit kognitiver Fähigkeiten gelegt. Und auch den Vorläufer des IQ hat er geprägt, allerdings war seine Maßzahl eine Differenz und kein Quotient. Einen Quotienten hat William Stern (1871-1938), ein einflussreicher Psychologe und Vater der differentiellen Psychologie, daraus gemacht. 

Obwohl wir heutzutage immer noch vom IQ sprechen, ist er schon lange (zirka seit den 1930er-Jahren) kein Quotient mehr. Es ist vielmehr eine Bevölkerungsnorm. Das bedeutet, dass der IQ ausdrückt, wie eine Person im Vergleich zu einer Referenzpopulation abschneidet. Das ist sinnvoll, weil die Verteilung der Intelligenz in der Bevölkerung – so wie die allermeisten natürlich vorkommenden Merkmale – einer Gauss’schen Glockenkurve folgt. Ein IQ von 100 bedeutet dabei eine durchschnittliche Leistung. Werte von 85 und 115 bedeuten jeweils eine Standardabweichung unter und über dem Schnitt – in diesem Fähigkeitsbereich befinden sich in etwa zwei Drittel aller Menschen. Zwei Standardabweichungen unter und über dem Schnitt – IQs von 70 und 130 – bilden die obere und untere Schwelle der Lernbehinderung und Hochbegabung. Lediglich je zwei Prozent befinden sich außerhalb dieser Grenzen.

Intelligenztests müssen also normiert werden – und das anhand einer möglichst repräsentativen Stichprobe der interessierenden Referenzpopulation. Das ist aufwendig, denn man muss dazu möglichst vielen Personen den entsprechenden Intelligenztest vorlegen, bevor man ihn für die Allgemeinheit verwenden kann. Denn ein Intelligenztest ohne Normen ist sinnlos, weil man nicht weiß, welches Abschneiden eine gute und welches eine weniger gute Leistung bedeutet.

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Zahlen & Fakten

Man könnte also sagen, dass Ergebnisse von Intelligenztests auch immer nur so gut wie ihre Normierungen sind. Bliebe die Intelligenz der Allgemeinbevölkerung zeitlich immer konstant, dann würde eine einzige exzellent organisierte Normierung eines Intelligenztests genügen, um „bis in alle Ewigkeit“ eine sinnvolle Norm für den Test zu etablieren. Die Bevölkerungsintelligenz verändert sich aber.

Insofern: Wie würden Sie die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen in den frühen 1900er-Jahren im Vergleich zu den 2000er-Jahren einschätzen? Ist die Menschheit über die Generationen hinweg klüger oder dümmer geworden? Tatsächlich hat sich die Bevölkerungsintelligenz auf globaler Skala über die letzten hundert Jahre massiv nach oben bewegt. Zwischen einer Durchschnittsperson in 1909 und 2013 liegen in etwa 30 (!) IQ-Punkte. Ursächlich für diesen Zuwachs dürften im wesentlichen bessere Ernährung im Kindesalter, Verfügbarkeit von medizinischen Einrichtungen und bessere Beschulung sein.

Unsere Ur-ur-Großeltern waren keineswegs lernbehindert und wir sind heute keine Genies.

Bedeutet das also inhaltlich, dass ein durchschnittlich kognitiv fähiger Mensch in 1909 im Vergleich zum Durchschnittsbürger von 2013 lernbehindert war? Oder sind die 2013er-Bürger im Vergleich zu 1909 alle hochbegabt? Die Antwort ist offensichtlich in beiden Fällen: Nein. Unsere Ur-ur-Großeltern waren nicht typischerweise lernbehindert, und wir sind heute auch nicht alle Genies. 

Die Erklärung dürfte vielmehr in den veränderten Umgebungsbedingungen liegen, denn die Umwelt stellt heutzutage andere Anforderungen an uns und unsere kognitiven Fähigkeiten als vor 100 Jahren. Während früher ein möglichst breites Fähigkeitsspektrum gefragt war, hat heutzutage die zunehmende Spezialisierung in Ausbildungen, Berufsbildern oder auch im Sport dazu geführt, dass Expertise in spezifischen Fähigkeiten intensiv gefördert wird.

Das gilt auch für unsere Intelligenz. Diese noch immer zunehmende kognitive Spezialisierung zeichnet wohl auch dafür verantwortlich, dass sich diese IQ-Zunahme des vergangenen Jahrhunderts mittlerweile verlangsamt hat und in einigen Ländern scheinbar stagniert oder sogar umdreht, etwa in Deutschland oder in Österreich.

Auch wenn diese letzten Beobachtungen besorgniserregend klingen, zeigt sich zusammenfassend jedoch ein versöhnliches Bild, denn die Intelligenz hat scheinbar auf globaler Skala über die letzten hundert Jahre hinweg zugenommen. Die Zukunft wird zeigen ob die vergangenen IQ-Zuwächse erhalten bleiben. 

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Conclusio

Es gibt unterschiedliche Arten von Intelligenz. Bei der Ermittlung des IQ werden vor allem schlußfolgerndes Denken, kognitive Fähigkeiten und Allgemeinwissen abgefragt. Doch tatsächlich hängt Intelligenz von den gesellschaftlichen Anforderungen ab und ist insofern relativ – speziell dann, wenn man sie generationsübergreifend betrachtet. Der Quotient ist tatsächlich ein Normwert. War früher ein breites Wissen gefragt, scheinen die Zeichen heute auf Spezialisierung zu stehen. Intelligenz ist allerdings zu komplex, um sie auf eine Zahl reduzieren zu können.