Kippt die Demokratie in Israel?
Ebenso wie die militärische Gewalt eskaliert, kommt nun ein alter Konflikt an seinen Kipppunkt: Soll Israel ein religiöser oder ein säkularer Staat sein? Ein Podcast mit der Historikerin Jenny Hestermann.
Die Lage in Israel ist ernst: „Es ist die größte Demokratiekrise seit 1948“, sagt die Historikerin Jenny Hestermann. Sie leitet das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv und analysiert im Podcast die Bedeutung der von der israelischen Regierung geplanten Justizreform. „Es geht um's Ganze“, so Hestermann. Sie meint in dem Fall das Selbstverständnis Israels als Staat und die Zukunft der israelischen Demokratie.
Der Podcast
Seit Januar gehen Hunderttausende Menschen regelmäßig auf die Straße, um die Justizreform zu verhindern. Die Regierung aus Ultraorthodoxen und Ultranationalisten unter Benjamin Netanjahu will die Änderungen unbedingt durchsetzen, denn der Oberste Gerichtshof steht in den Augen der Rechten für ein säkulares Israel, die Rechte aber will einen autoritären Staat und die Macht bei der Exekutive konzentrieren.
Die geplante Justizreform
Die geplante Reform bezieht sich auf die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs (OGH) in Israel, denn dieser ist eine zentrale Instanz, um Gesetzesvorhaben zu verhindern, die gegen israelische Grundrechte verstoßen. Anders als etwa die USA hat Israel nämlich keine Verfassung und kein Grundgesetz im eigentlichen Sinne, sondern der OGH überprüft die Legalität des Regierungshandelns und hebt seit 1992 auch Gesetze auf, die gegen Grundrechte verstoßen.
Der Hintergrund: Als der Staat Israel 1948 gegründet wurde, war eine Verfassung in Arbeit, aber es zeigte sich schnell ein grundlegender Konflikt – jener zwischen säkularen demokratischen und religiösen Kräften. „Es kam in Israel nie zu einer Verfassung, weil religiöse Gruppen eine formale Trennung von Religion und Staat immer ablehnten“, erklärt Hestermann. Bereits zu Anfang hätte sich die Aufteilung in religiös-antidemokratische und säkular-demokratische Kräfte ergeben. Heute sei aus dieser Aufteilung eine Spaltung geworden.
1949 war kurz nach der Staatsgründung eine verfassungsgebende Versammlung gewählt worden, diese kam jedoch zu keiner Einigung. Die Versammlung wurde in ein Parlament, die Knesset, umgewandelt und fungiert als gesetzgebende Instanz, während der OGH die Gesetzgebung prüft, ohne jedoch in den Prozess eingreifen zu können.
Die Richter des OGH werden von einem neunköpfigen Gremium gewählt, das aus zwei Ministern, zwei Mitgliedern der Knesset, drei amtierenden Richtern des OGH und zwei Mitgliedern der israelischen Anwaltskammer besteht. Für die Wahl ist eine Mehrheit von sieben Stimmen erforderlich.
Der mehr oder weniger zahnlose OGH blieb in der Form bis 1992 erhalten, wie die Juristen Eliav Lieblich und Adam Shinar im Magazin Foreign Affairs erklären. 1992 änderte sich das: Damals verabschiedete die Knesset zwei Gesetze, denen der OGH anschließend den Status von Grundrechten zusprach: Das Gesetz über die menschliche Würde und Freiheit sowie das Gesetz zur freien Berufswahl. Diese Gesetze sollten nur beschränkt werden dürfen, wenn dies im Einklang mit den Werten des Staates steht und ein erforderliches Maß nicht überschreitet.
Grundrechte unter Druck
In diesem Sinne interpretierte der OGH diese Gesetze als höherrangig gegenüber anderen Gesetzen und sah sich daher befugt, Gesetze, die gegen diese Grundrechte verstoßen, aufzuheben. Seit 1992 seien insgesamt 22 Gesetze und Bestimmungen aufgehoben worden, so Lieblich und Shinar, weil sie gegen eines der beiden Grundrechte verstießen. Darunter waren Gesetze zur Inhaftierung von Asylwerbern und Enteignung von palästinesischem Land durch jüdische Siedler. In die Siedlungspolitik eingemischt habe sich der OGH aber nie, sie vielmehr legitimiert: „Das Gericht hat sich stets geweigert, die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der israelischen Siedlungen im Westjordanland zu beurteilen, die nach dem Völkerrecht als illegal gelten.“
Den Ultrarechten der aktuellen Regierung sei insbesondere ein Dorn im Auge, dass für den OGH auch Meinungsfreiheit und der Grundsatz der Gleichheit unter die Menschenwürde fallen. Die Justizreform sieht daher vor, dass Gesetze nur dann aufgehoben werden können, wenn alle 15 Richter des OGH damit befasst werden und zwölf der Aufhebung zustimmen, die Knesset soll die Entscheidungen des OGH mit einfacher Mehrheit aufheben können – selbst wenn es das Stimmrecht betrifft. Das Gremium zur Ernennung der Richter soll überdies so zusammengesetzt werden, dass die Regierung die Mehrheit darin hat.
Jenny Hestermann beurteilt die Entwicklungen in Israel als „besorgniserregend“. Während Regierungschef Benjamin Netanjahu von der Justizreform persönlich profitiere – er könnte seine Gerichtsverfahren einfach einstellen – werden Ultraorthodoxe und Ultranationalisten gestärkt. Die Menschenrechte und die Demokratie seien in Israel in ernster Gefahr.
Über Jenny Hestermann
Jenny Hestermann ist Historikerin. Sie lehrte auf dem Ben-Gurion-Lehrstuhl für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und leitet derzeit das Büro der Heinrich Böll-Stiftung in Tel Aviv.