Die Handlung

Ist tun gleich handeln? Und wer definiert das? Fragen über Fragen. Ist das Wortklauberei? Nein, denn: Über Sprache nachzudenken heißt, über den Menschen nachzudenken.

Schwarz-Weiß-Aufnahme von Ernest Hemingway an einer Schreibmaschine aus 1944
1944: Ernest Hemingway (1899-1961) auf der Suche nach den passenden Worten. Hemingway war während des Zweiten Weltkriegs Korrespondent für die United States Army. © Getty Images

Was geschieht bei einer Handlung? Die Frage scheint absurd. Hemingway stellt sie gleich zu Beginn seines Buches Tod am Nachmittag, in dem er über den Stierkampf schreibt. Nun könnte einer sagen: Ja gut, das mag für einen Schriftsteller eine essenzielle Frage sein, was interessiert es mich! Tatsächlich berichtet uns Hemingway, er sei dahintergekommen, dass diese Frage die wichtigste sei, wenn jemand eine Geschichte schreiben möchte. Ich kann mich damit nicht zufriedengeben. Ich denke, diese Frage ist triftig für jeden, der darüber nachdenkt, was er tun soll. Und wer würde daran zweifeln, dass es gut ist, erst nachzudenken, bevor man tut. Oder soll ich sagen: bevor man handelt?

Ist tun gleich handeln?

Vielleicht betreibe ich Wortklauberei. Aber dann ist jedes Nachdenken über Sprache Wortklauberei, denn ein Großteil des Nachdenkens besteht und bestand immer darin zu definieren, was ein Wort meint. Wobei bereits das Wort definieren definiert werden müsste.

Surrealistische Gedankenspielereien

Definition auf sprachlichem Gebiet kann wohl nur Übereinkunft sein. Wir sagen: Tisch ist eine feste, begrenzte Fläche, die in einer gewissen Höhe auf einer gewissen Anzahl von Beinen steht. Dagegen kann Einspruch erhoben werden. Der belgische Maler René Magritte malte ein Bild, auf dem – sehr realistisch – eine Tabakspfeife zu sehen ist, darunter, als Teil des Bildes, steht Ceci n’est pas une pipe – zu Deutsch: Das ist keine Pfeife. Zweifelt er an, dass der abgebildete Gegenstand eine Pfeife ist? Meint er das im Ernst, oder möchte er nur einen surrealistischen Spaß machen? Genau genommen – eben wortklauberisch – hat er recht. Es ist keine Pfeife, es ist das Abbild einer Pfeife. Die Wortklauber machen da einen Unterschied.

Ich kann aber noch weiter gehen. Wenn ich auf den realen Gegenstand zeige, den wir Pfeife nennen, und sage, das ist keine Pfeife, dann habe ich ebenfalls recht, denn Pfeife ist ein Wort und nicht dieser Gegenstand. Dass dieser Einwurf berechtigt ist, beweist die simple Tatsache, dass derselbe Gegenstand im Französischen pipe genannt wird, im Italienischen pipa, im Finnischen tupakkapiippu und so weiter.

Paris, 2002: Das Gemälde „La lecture soumise“ von Magritte bei der Ausstellung „La Revolution Surrealiste“ im Georges Pompidou Zentrum.
Paris, 2002: Das Gemälde „La lecture soumise“ von Magritte bei der Ausstellung „La Revolution Surrealiste“ im Georges Pompidou Zentrum. © Getty Images

Aber wir wollten ja über die Handlung sprechen. Hemingway fragt: Was geschieht eigentlich bei einer Handlung? 

In der Frage haben wir es mit zwei Begriffen zu tun, mit handeln und mit geschehen. Ich kann sagen: Wenn ich handle, dann geschieht etwas. Aber ich darf handeln und geschehen nicht gleichsetzen. Es kann etwas mit mir geschehen, ohne dass ich handle, ohne dass ich gehandelt habe.

Darf ich annehmen, dass, wenn etwas mit mir geschieht, jemand anderer gehandelt hat? Nein, das darf ich nicht. Wenn ein Tornado mein Haus niederreißt, geschieht gewiss etwas mit mir, aber gehandelt hat niemand. Warum nicht? Weil ich handeln als eine menschliche Tätigkeit definiere und ein Tornado ohne Zweifel nicht unter diese Definition fällt. Unter gar keinen Umständen? Was, wenn der Tornado eine Folge der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung ist? 

Immerhin: Auf eine Sache haben wir uns geeinigt: Handlung setzt Mensch voraus. Ohne Mensch keine Handlung. 

Handelt Gott?

Und stimmt das? Ja – wenn ich von einer modernen, einer wissenschaftlichen Weltsicht ausgehe. Die Bibel beginnt mit: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Der Mensch kommt erst später dran. Handelt Gott? Doch wohl ja. – Also wieder ein Fragezeichen.

Dann müsste geklärt werden, ob Tiere handeln können. In der Tat trägt diese Frage zur Definitionsklärung bei. Man könnte sich darauf einigen, dass zu einer Handlung das Wissen um diese Handlung gehört. Weiß ich, was ich tue, wenn ich handle? – Womit ich mindestens zwei Türen aufstoße. Erstens: Wissen Tiere nicht, was sie tun, wenn sie tun? Zweitens: Definieren wir doch erst mal, was wir unter wissen verstehen wollen, und reden dann weiter.

Aus jedem Wort wachen viele weitere Worte. Und mit den Worten wächst unsere Erkenntnis der Welt.

Kehren wir zur Handlung zurück. Ohne abgesicherte Begründung scheint mir doch wichtig, bei einer Definition von Handlung deren Folgen miteinzubeziehen – ja, dass von Handlung erst gesprochen werden kann, wenn eine Tätigkeit Folgen hat. Ich berühre die Hand einer Frau – das allein ist noch keine Handlung. Ich berühre die Hand einer Frau, und wir lernen einander kennen – das wäre eine Handlung. Und schon wieder Fragen! Habe ich die Hand absichtlich berührt? Gehört also zu einer Handlung auch eine vorausgehende Absicht? Nein, denn es kann sich aus einer unabsichtlichen Berührung ebenso etwas ergeben wie aus einer absichtlichen.

Fragen über Fragen. Aus jedem Wort wachsen viele weitere Worte. Und mit den Worten wächst unsere Erkenntnis der Welt. Ludwig Wittgenstein sagte, alle Philosophie sei Sprachkritik. Diesen Satz zu analysieren würde gewiss nicht weniger Platz und Hirnschmalz benötigen als die Analyse des Satzes von Hemingway. Über Sprache nachzudenken heißt, über den Menschen nachzudenken. Um meinen Schreibtisch herum stehen jede Menge Nachschlagwerke, Synonymwörterbücher, Herkunftswörterbücher, zwölf Bände Duden. Auch wenn ich inzwischen, dank Wiktionary und Wikipedia, nur noch selten darin blättere, sie beschützen mich wie treue Freunde.

Mehr Michael Köhlmeier