Die Pause
Da war diese Enttäuschung meines Vaters wegen meiner vier Nicht genügend. Alle Hoffnung, alle Freude war nicht mehr. Der Abstand zwischen der alten falschen Welt und der neuen wahren Welt war die Pause. Von ihr will ich erzählen.
Immer, wenn jemand sagt, dies oder jenes sei Definitionssache, dann weiß ich, das Gespräch ist an sein Ende gekommen. Das liegt im Wesen der Sprache. Ich kann nur mit Worten definieren, und wenn darauf bestanden wird, auch diese Worte zu definieren, dann gibt es kein Halten mehr.
Also, was soll man tun, wenn man ein Phänomen erkunden will? Eine gute Antwort ist: erzählen.
Wann wurde mir zum ersten Mal bewusst, nun herrscht eine Pause?
Die ersten vier Jahre im Gymnasium war ich ein Vorzugsschüler gewesen. Die fünfte Klasse beendete ich mit vier Nicht genügend, Griechisch, Latein, Englisch, Geografie. Ich musste die Klasse wiederholen. Oder die Schule abbrechen. Schuld daran waren die Beatles. Ich war so vernarrt in diese Musik, dass ich nichts anderes mehr tat, als Gitarre zu üben. Ich wollte so einer werden wie die. Und ich dachte, dazu sind Griechisch, Latein und so weiter nicht nötig. Stimmt wahrscheinlich. Am Ende des Jahres war ich ein ziemlich guter Gitarrist. Und ein sehr schlechter Schüler.
Einer von uns, meinte er wohl, müsse sich doppelt anstrengen.
Mein Vater, ein zerrissener Mensch, einmal ein über alle Maßen belesener Aufklärer, auf der anderen Seite ein gedrückter, verschüchterter Bauernsohn, hatte immer den heimlichen Verdacht, für Leute wie ihn sei das höhere Schulwesen nicht vorgesehen. Das war nicht rational argumentierbar, aber die Angst saß tief. Einer von uns, meinte er wohl, müsse sich doppelt anstrengen. Damit man ihm nicht draufkommt. Nämlich, dass er sich eingeschlichen hat. Sein Selbstbewusstsein schwankte übergangslos zwischen null und unendlich. Mir war man draufgekommen. Für meinen Vater gab es nur eine Konsequenz: Schule aufgeben.
Er war blass im Gesicht und sehr ernst. Er sagte, er wolle mit mir eine Runde im Auto fahren. Was er mit mir zu besprechen hatte, sollte außerhalb von zu Hause sein. Er war nicht wütend. Vielleicht war er traurig. Ich glaube es aber nicht. Er war ruhig und kalt.
Wir fuhren ins Ried, auf einem landwirtschaftlichen Weg fuhren wir. Irgendwo zwischen Bäumen, wo uns niemand beobachten konnte, hielt er an. Wir saßen still nebeneinander. Das war Stille, aber keine Pause. Stille ist nicht Übergang zu etwas anderem. – Aber halt, ich will ja nicht definieren …
Er fragte: „Interessierst du dich für die Textilindustrie?“
Ich wusste, was das ist. Aber eigentlich wusste ich es nicht. Es interessierte mich nicht. Aber weil ich dachte, ich darf in diesem Gespräch auf gar keinen Fall etwas Negatives sagen, also auch nicht Nein sagen, antwortete ich: „Ein bisschen schon.“
„Ein bisschen schon“, wiederholte er. Wie er meine drei Worte aussprach, lag darin eine solche Resignation, dass ich dachte, es könne sich nur um eine andere Sache handeln und nicht um mein schlechtes Zeugnis – eine Lebensresignation.
„Gut“, sagte er. „Das ist gut. Ich werde dich morgen beim Otten als Hilfsarbeiter anmelden.“ Der Otten, das war eine bedeutende Textilfirma in unserem Land.
Nun war die Pause. Von ihr will ich erzählen.
Vorweg: Wenn ich „Pause“ sage, meine ich nicht Frühstückspause oder Rauchpause. Die Pause, die ich meine, ist eine existenzielle Pause, die sagt: Hier ist das eine zu Ende. Ein anderes folgt. Ein anderes, nicht das andere. Niemand weiß, wie das andere sein wird. Die Pause ist also in einem übertragenen Sinn Niemandsland. Sie ist nicht vergleichbar mit der Stille. In der Stille kann vieles geschehen, es wird nur nicht ausgesprochen. Die Stille ist eine Unterbrechung im Gleichen. Sie kann, aber sie muss keine Metapher sein. Die Pause ist eine Metapher. Sie steht für etwas, was sich nicht oder nur schwer ausdrücken lässt. Sie ist auch nicht ein Übergang. Sie ist ein Puffer zwischen zwei miteinander nicht vergleichbaren Zuständen.
Ich wusste, nach dem Satz meines Vaters beginnt ein neues Leben für mich. Er war nicht böse auf mich. Er war enttäuscht von mir, das wohl. Aber die Enttäuschung hatte er bereits überwunden. Die war gestern gewesen, als ich ihm mein Zeugnis gezeigt hatte. Auch für ihn begann nach seinem Satz ein neues Leben. Ich sage es hart: ein neues Leben ohne seinen Sohn. Ich war sein Sohn nicht mehr. Nur noch formal war ich es. Alle Hoffnung, jeder Traum, alle Freude war nicht mehr. Und sein Sohn war sein Traum, seine Hoffnung, seine Freude gewesen. Aus. Vorbei. Er hatte gehofft, sein Sohn werde es schaffen. Mein Zeugnis war ein Dokument, nicht nur meines Versagens, es war das Dokument der Hybris des Vaters. Die Pause war der leere Abstand zwischen der alten falschen und der neuen wahren Welt.
Meine Mutter war ganz anders. Sie sagte zu ihrem Mann: „Hast du nicht mehr alle! Der Michael wird die Klasse wiederholen, er ist nicht der erste Schüler, der das tut, es wird ihm eine Lehre sein. Aus, fertig!“
So war es. In familiären Dingen hat sich meine Mutter immer durchgesetzt. Die Pause aber hat sehr lange gedauert. Ich weiß nicht, wie lange. Ich glaube, mein Vater hat nie mehr Vertrauen zu mir gewonnen. Er blieb mir gegenüber misstrauisch. Ich war der Sohn, der ihn verlassen hat, der zurückgekehrt ist, bei dem er aber gefasst sein musste, dass er wieder geht.