Die Lippen
Es gibt zwei Kategorien von Menschen: Die einen schauen beim Sprechen und Zuhören ihrem Gegenüber in die Augen, die anderen auf den Mund. Was sagt das über die einen, was über die anderen?
Ich schaue beim Zuhören dorthin, wo der Ton herkommt, nämlich auf den Mund. Ich wirke deshalb auf meine Mitmenschen manchmal geistesabwesend. Was mir ein schlechtes Gewissen macht. Das Folgende ist also auch eine kleine Verteidigungsrede. „Schau mir in die Augen, Kleines“, sagt Humphrey Bogart in dem Film „Casablanca“ zu Ingrid Bergman, und er meint damit: Dann erkennst du mich, dann weißt du, was ich für dich empfinde, dann weißt du, was ich denke.
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Die Augen, so heißt es, sind der Spiegel der Seele. Die Pandemie lehrte uns, daran zu zweifeln. Aus den Augen allein, ohne Kombination mit den Lippen, lässt sich nur schwer schließen, was der andere denkt, was er fühlt, wer er ist. Ich meine sogar, der Blick allein sagt dem Gegenüber gar nichts.
Was für Ausdrucksmöglichkeiten haben die Augen? Ich kann die Brauen nach oben ziehen, das könnte Erstaunen heißen oder auch nicht, Ironie oder auch nicht, Entsetzen oder auch nicht; ich kann die Lider zu Schlitzen zusammenklemmen, was ebenso Verachtung wie Lächeln ausdrückt; ich kann die Äpfel bewegen; ich kann durch den anderen hindurchschauen, das vielleicht stärkste Statement unseres Sehorgans. Dann ist aber auch schon Schluss. Die Augen sind ein grobes Feld, dort gedeiht wenig Eindeutiges, wenig Raffiniertes.
Die Lippen dagegen, diese prächtig durchbluteten Muskeln, verraten feinste Abstufungen welcher Empfindung auch immer. Ein zartes Zucken schlägt vielleicht eine neue Seite auf in dem großen Buch der Gefühle; wie weit ich sie dehne, wie eng ich sie zusammenziehe, Millimeter um Millimeter ein anderes Kapitel. Wie liegt die Oberlippe auf der Unterlippe? Schiebt sich die Unterlippe vor, was bedeutet das? Verbleibt sie in diesem Zustand, oder entspannt sie sich gleich wieder?
Der Mund macht das Lächeln
Allein in dem Begriff „lächeln“ sind unzählige Arten desselben zusammengefasst, und alles Lächeln vermittelt sich über die Lippen. Auch wenn wir meinen, die Augen lächeln, so ist das doch nur eine Kollateralfolge der Muskelbewegungen des Mundes. Lächle ich breit, bilden sich rechts und links der Augen Fältchen; sehe ich aber nur die Fältchen und nicht dazu auch den Mund, darf ich ebenso auf Ungeduld wie auf Freundlichkeit schließen. Diese zwei konträren Empfindungen bedienen sich derselben Bewegungen der Hautpartien um die Augen.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass in jenem Organ, mit dem ich sehe, zugleich auch am meisten zu sehen ist. Wenn Goethe sagt, das Auge müsse der Sonne gleichen, denn es sehe das Licht, das sie spendet, dann mag diese Metapher einiges für sich haben und uns poetisch anrühren, der Seele des Menschen aber gleicht das Auge nicht, und dass es deren Spiegel sei, das klingt schön, mehr aber nicht.
Die Maske ließ den Mund vermissen
Während der Pandemie mussten wir neu lernen, was Mimik ist, und vor allem, was es heißt, sie zu lesen und zu deuten. Die Maske korrigierte den vermeintlichen Anteil der Augen an der Mimik nach unten, wir vermissten den Mund. Der Hauptdarsteller auf unserem Gesichtstheater nämlich ist der Mund. Interessant wäre eine Studie, ob zu lügen während der Pandemie leichter war als vorher – nur weiß ich leider nicht, wie eine solche Studie durchzuführen wäre.
Während der Pandemie mussten wir neu lernen, was Mimik ist und was es heißt, sie zu lesen und zu deuten.
Der anonyme Liebhaber des venezianischen Karnevals, der seine Augen und die Nase hinter einer pittoresken Maske verbirgt, um nicht erkannt zu werden, hat weniger Ahnung von der Physiognomie als der Outlaw des Wilden Westens, der sein Halstuch über die untere Hälfte seines Gesichts zieht.
Die Schönheit einer Landschaft lässt sich weder ertasten noch hören, nicht schmecken – wir sehen sie. Nur soll man das Sehende nicht mit dem Gesehenen verwechseln. Das Organ, mit dem ich lese, verrät nichts über die Lektüre; es entschlüsselt die Lektüre – das Medium ist in diesem Fall nicht die Botschaft, um dieses Bonmot von Marshall McLuhan zu paraphrasieren.
Was Ödipus und Homer verraten
Die antiken Seher und Seherinnen, die Wahrsager, also jene Menschen, die die Wahrheit sahen – was mehr bedeutete, als sie lediglich zu kennen –, die waren nicht selten blind. Denken wir an Teiresias, der dem Ödipus entdeckte, dass er es war, der seinen Vater getötet hat. Auch über Homer, den ersten Dichter, heißt es, er sei blind gewesen, auch er war auf seine Art ein Seher, die Poesie ist „innere Wahrheit“, „seelische Wahrheit“. Die erloschenen Augen als unbestechliche Spiegel der Seele – was für eine kühne Metapher!
Ein guter Freund von mir ist blind, wegen einer sehr seltenen Krebserkrankung wurden ihm als Säugling die Augen chirurgisch entfernt, er trägt Glasaugen, dunkelbraune Murmeln. Er ist Musiker. Er spielt das Klavier. Ich unterhalte mich sehr gern mit ihm, ein liebes Thema in unseren Gesprächen ist die Verwandtschaft von Ton und Farbe, von Akkord und Gemälde, zum Glück sind wir bisher noch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen.
Ich habe eine interessante Beobachtung gemacht: Wenn ich mit George spreche, wenn ich ihm zuhöre, schaue ich nicht auf seine Lippen, sondern auf seine Augen. Ich sage „auf seine Augen“ und nicht „in seine Augen“. Denn ich weiß ja, ich spreche nicht mit einem Sehenden, sondern mit einem Seher.