Über das Schämen
So sehr hatte sich Edi, der Geigenspieler, geschämt! Er hatte den Punkt verpasst, an dem er uns noch hätte die Wahrheit sagen können.
Er hätte so gern mitgespielt! Aber er gehörte nicht zu den Lässigen. Weil er alles hatte. Unsere Musik war das Ätsch der Armen. Nun war er siebzehn Jahre alt. Er ging aufs Gymnasium und war ein guter Schüler und wünschte sich zu Weihnachten eine E-Gitarre. Seine Eltern hatten ein schlechtes Gewissen, weil es ihnen nicht gelungen war, aus ihrem Sohn etwas zu machen, was mehr war als ein guter Schüler. Als er fünf Jahre alt gewesen war, hatten sie ihn beobachtet, wie er klassische Musik aus dem Radio hörte. Mutter und Vater waren sich einig gewesen, er schaue beseelt drein. Da hatten sie ihn zum Geigenunterricht angemeldet.
Die Geigenlehrerin sagte, sie sollen ihren Sohn bitte nicht überfordern. Worin denn eine Überforderung bestehe, fragten die Eltern. Wenn sie ihm zum Beispiel gleich eine Geige kaufen. Es sei besser abzuwarten. Man könne Geigen auch ausleihen. Also liehen die Eltern eine Geige aus. Bereits nach einem Monat meldete die Geigenlehrerin, es habe keinen Zweck, der Bub sei unmusikalisch wie ein Stück Holz. Ein Geiger werde aus ihm nie.
Ich habe vergessen zu sagen, wann das war. Es war gegen Ende der sechziger Jahre. Jeder Kerl in unserem Alter wünschte sich eine E-Gitarre, und auch der junge Mann wünschte sich eine E-Gitarre. Er wollte wie seine Freunde – die ihn nicht zu ihren Freunden zählten – in einer Band spielen. Da sagten die Eltern zueinander, was sie immer schon sagen hatten wollen, nämlich: dass die Lehrerin damals eine blöde Kuh gewesen sei, dass ohne sie das musikalische Talent ihres Sohnes sehr wohl irgendwann aus ihm herausgebrochen wäre. Aber es ist nicht zu spät, sagte der Vater zu seiner Frau und dachte, es ist zu spät. Und die Frau sagte, ich habe immer gewusst, dass er es kann, und sie dachte, er kann es nicht.
Die erste Geige
Aber eine E-Gitarre wollten sie ihrem Sohn doch nicht kaufen. Es wäre für sie einer Niederlage gleichgekommen. Die Musik nämlich, die auf einer E-Gitarre erzeugt wurde, die hielten sie für keine Musik. Das war Krach. So lauter Krach, dass gar nicht festgestellt werden konnte, ob einer das Instrument beherrschte oder nicht. Also kauften sie ihrem Sohn zu Weihnachten eine Geige, eine sehr, sehr teure Geige. Der Sohn war enttäuscht.
Und da geschah ein Wunder. Ein Freund des jungen Mannes, der Schlagzeuger in der Band, bei der er so gern mitgemacht hätte, die er so oft in ihrem Probelokal besuchte, der kam eines Tages mit einer Schallplatte daher, die eine Sensation sei, schon lange in Amerika, inzwischen auch bei uns, die Sensation schlechthin. Die Band hieß Velvet Underground, und in der Band spielte einer die Geige. Von diesem Augenblick an war der junge Mann – nennen wir ihn Eduard, Edi – ein Freund. Er wurde umworben und gebeten.
„Spiel du bei uns die Geige … wie John Cale bei den Velvet!“
Wir hörten uns gemeinsam die Nummer „Heroin“ an.
„Kannst du das spielen?“
„Sowieso. Das ist hundsleicht!“
Ich war der Rhythmusgitarrist und war froh darüber, dass eine Geige bei uns einsteigen würde. Wir hatten Schwierigkeiten mit den Soli. Der andere Gitarrist spielte zwar besser als ich, aber ein interessantes Solo brachte auch er nicht her. Mit einem Geiger könnte man sich die Gitarrensoli sparen. Jetzt würde es mit uns aufwärtsgehen!
Wir gaben Edi die Platte mit, damit er sich einhören könne, und luden ihn zu einer Probe ein. Er kam mit seiner Geige. Wir probten in einem sehr kleinen Raum, was zur Folge hatte, dass wir bis heute schlecht hören. Die Geige war nicht zu hören. Edi griff sich an den Kopf. Er habe den Verstärker zu Hause vergessen. Er solle über das Gesangsmikro spielen, sagten wir. Das wollte er nicht, das klinge scheiße. Wir waren klein vor ihm, er war der Experte, Gitarre konnte jeder, Geige nur er.
Man kann sich für eine Sache schämen. Oder man schämt sich für die ganze Existenz.
Wir probten für einen Auftritt, unseren ersten. Es gab sogar ein Plakat. Darauf stand groß Edis Name und dass er die Geige spiele – „wie bei der amerikanischen Band Velvet Underground“. Die kannte zwar bei uns niemand, aber dass sie aus Amerika kam, machte alles klar. Für den Auftritt hatte Edi eine Art Tonabnehmer organisiert, eine Art Tonabnehmer eben. Er funktionierte nicht. Er fluchte und fuchtelte auf der Bühne herum, tat, als zucke er völlig aus, trat mit dem Absatz gegen den Verstärker.
Ordentlich vergeigt
So sehr hat sich Edi geschämt! Er hatte den Punkt verpasst, an dem er uns noch hätte die Wahrheit sagen können. Nämlich, dass er keinen einzigen richtigen Ton aus seinem Instrument herauskriegt. Er hat sich so sehr geschämt! Was tat er? Ja, das tat er. Er zerschlug seine Geige am Verstärker. Das gab kreischende übersteuerte Geräusche von sich. Mehr aber nicht.
Ich treffe Edi heute noch manchmal. Wir sind alte Männer geworden. Gleich beim ersten Blickkontakt erinnern wir uns. Ich will dann so tun, als ob ich mich nicht erinnerte. Man kann tun, als ob etwas wäre, aber man kann nicht so tun, als ob etwas nicht wäre. Ich sehe ihm an, und er sieht mir an, dass ich ihm ansehe: dass er sich immer noch schämt. Man kann sich für eine Sache schämen. Oder man schämt sich für die ganze Existenz. Das aber hört nie auf. Sogar der eigene Name klebt nicht so fest an einem.
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