Der Weckruf, den keiner hören will

Mario Draghi hat einen starken Plan zur Gesundung der EU vorgestellt. Erste Reaktionen lassen nichts Gutes erwarten.

Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, am 9. September 2024 im Berlaymont, dem Sitz der EU-Kommission, in Brüssel, Belgien.
Der ehemaliger EZB-Präsident Mario Draghi präsentierte am 9. September seinen Bericht zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Förderung des sozialen Wohlstands in der EU. © Getty Images

Mit den drei Worten „whatever it takes“ machte sich Mario Draghi 2012 als Präsident der Europäischen Zentralbank während der Eurokrise zum Retter der Eurozone. Im September kehrte der gelegentlich liebevoll als „Super Mario“ bezeichnete ehemalige italienische Ministerpräsident auf die europäische Bühne zurück.

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, hatte ihn im letzten Jahr mit einem Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit beauftragt. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament und vor dem Amtsantritt der neuen EU-Kommission konnte der Draghi-Bericht nun in Brüssel präsentiert werden.

Die Ausgangslage

Die empirischen Befunde aus dem Bericht zeichnen ein eher düsteres Bild: Europa verliert in seiner Wettbewerbsfähigkeit global an Boden, vor allem gegenüber den USA und China. Die Produktivität entwickelt sich nur schleppend, Europa hinkt in der Digitalisierung hinterher, mit negativen Folgen für die Innovationskraft der Wirtschaft.

Bürokratische Hürden, zersplitterte Steuersysteme und eine langsame Gesetzgebung bremsen das wirtschaftliche Wachstum der EU.

Die Energiepreise sind im internationalen Vergleich zu hoch und belasten die europäischen Unternehmen im globalen Kostenwettbewerb. Die zersplitterte Forschungs- und Entwicklungslandschaft führt dazu, dass Europa in Schlüsselindustrien und in den neuen Technologien den Anschluss verliert. 30 % der europäischen „Unicorns“ – Start-ups mit einer Bewertung von über einer 1 Milliarde Dollar – sind zwischen 2008 und 2021 ins Ausland abgewandert, die Mehrheit davon in die USA. Bürokratische Hürden, zersplitterte Steuersysteme und eine langsame Gesetzgebung bremsen das wirtschaftliche Wachstum.

Mario Draghis Maßnahmenpaket

Der Bericht schlägt auf mehr als 320 Seiten eine Vielzahl altbekannter und neuer Maßnahmen zur Steigerung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vor. Neben der Forderung einer Entbürokratisierungsoffensive und der Stärkung des Binnenmarkts durch die Schaffung einer Kapitalmarktunion identifiziert der Draghi-Bericht einen jährlichen Investitionsbedarf in Höhe von 5 % des europäischen BIPs, das entspricht etwa 750 bis 800 Milliarden Euro.

Diese Investitionen sollen in Schlüsselbereiche wie Forschung und Entwicklung, digitale Bildung und Qualifizierung sowie in umweltfreundliche und nachhaltige Technologien fließen, um den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft zu beschleunigen. Die Finanzierung soll durch eine Mischung aus privaten und öffentlichen Mitteln erfolgen; für den öffentlichen Teil schlägt Draghi die Aufnahme von gemeinsamen EU-Schulden vor, ähnlich wie beim EU-Corona-Wiederaufbau „Next Generation EU“. Wenig überraschend haben einige Mitgliedsländer wie Deutschland und die Niederlande bereits ihre ablehnende Haltung gegenüber gemeinsamen europäisch finanzierten Investitionsausgaben deponiert.

Europas institutionelle Schwäche

Die allgemeine Stoßrichtung der vorgeschlagenen Maßnahmen ist diskussionswürdig. Leider hat Mario Draghi einen wesentlichen Aspekt vernachlässigt, wodurch sein Bericht ungewollt zum Paradebeispiel für die institutionellen Hürden wird, die der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit im Weg stehen.

In China werden Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit vom Zentralkomitee der kommunistischen Partei beschlossen und planwirtschaftlich umgesetzt. In den USA schlägt die Regierung Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit vor, die zügig im US-Kongress behandelt und beschlossen werden. Dieser Bereich gehört zu den wenigen politischen Fragen, bei denen Republikaner und Demokraten kompromissfähige Lösungen finden können. Der Inflation Reduction Act hat uns das unlängst wieder vor Augen geführt.

Vor ‚speed kills‘ sollten wir uns in Europa weniger Sorgen machen als vor dem Verfallen in eine dauerhafte Agonie.

In Europa haben wir im selben Zeitraum einen ehemaligen Regierungschef mit der Ausarbeitung eines Berichts beauftragt. Nach dessen Präsentation fokussiert sich die politische und mediale Rezeption des Berichts auf die Frage, wie man zu einer gemeinsamen Schuldenfinanzierung steht. Die ökonomische Debatte über die Bedeutung von EU-weit relevanten Infrastrukturprojekten wird gar nicht erst geführt.

Wie mit den Erkenntnissen aus dem Draghi-Bericht weiter umgegangen werden soll und welche politischen Maßnahmen prioritär von der Kommission und den Mitgliedsstaaten gesetzt werden, bleibt unklar. Mehr als allgemeine Bekenntnisse zur Bedeutung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit waren bisher nicht zu vernehmen. So geht wertvolle Zeit verloren, während China und die USA ihre Wettbewerbsstrategien konsequent weiterverfolgen. In der Pressekonferenz zu seinem Bericht warnte Mario Draghi eindrücklich vor einer „slow agony“, sollten nicht rasch Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit getroffen werden. Vor „speed kills“ sollten wir uns in Europa tatsächlich weniger Sorgen machen als vor dem Verfallen in eine dauerhafte Agonie.

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